Erfüllt an der Bühnenkante (474)

 

Das Maß an Alltagsermüdung ist ausgereizt. Frisch gebürstet und gekämmt, mit gut gealterter Musik im Player, geht’s zur Autobahn. Pichelstein: Hand auf dem Schaltknüppel, Makarios: Verzehrt mit pastoraler Besinnlichkeit Schluck für Schluck ein Fläschchen Kofola.

 

Ein Samstagnachmittag, wie er besser nicht sein kann. All das im Zeichen jüngster Sonnenstürme samt ergreifender Polarlichter. Noch gestern Abend, nach der Blauen Stunde, sah der Himmel so aus, als hätten magische Einhörnchen vom Himmel gepinkelt. Vor lauter Glück darüber kann heute nichts mehr schiefgehen. Weder am Tankstellenhalt in Grimma, noch auf der weiterführenden Piste gen Pirna. Zwar wird es hinterher auf der Tourauto-App ein paar Schlagzeilen mit Geschwindigkeitsüberschreitungen auf der A14 und A4 geben, die Fahrt ergo negativ bewertet werden, doch das ist niederrangig.

 

 

 

Genauer geht es heute in den Ortsteil Pirna-Posta, ins Privatparty-Refugium von Ronny und Kerstin. Der Anlass ist schön. Es gibt keinen besonderen, außer den ganz besonderen: Tolle Leute kennenlernen (Schnapsbar) und natürlich wiedersehen. Knapp davor lässt sich die erratisch-weibliche Navi-Stimme nicht lumpen, knifflige Ortsbuchstaben zu formulieren. Gemarkungen wie Pratzschwitz und die inkludierende Pratzschwitzer Straße lassen die Docs darunter harsch auflachen. Das klingt alles irgendwie nach Spucke, also spuckig. Gleichsam zuvor beim Hinweis auf die „A17 Richtung Prakk.“ Was zum Reimen verführt: Mit Hack im Frack nach Prakk / Besser als Zwieback / Guter Geschmack. 

 

Kaum parkt das Auto an der sonnendurchfluteten, von Dampfern durchfahrenden Elbe, gibt’s ein großes Hallo. Schon findet man sich bei Kaffee und Kuchen Outdoor im Schatten einer raren männlichen Sicheltannne, einer Hängebirke und einer riesengroßen Rosskastanie wieder. Natur pur. Es hämmert der Specht, diebt der Star, zwitschert die Amsel, punkrockt der Spatz. Wahrlich, wir befinden uns in einem elbischen Elfengarten. Tolkiens blütenschwangeres Bild davon ist weiterhin geprägt von einem erst kürzlich zusammengebautem Bühnenthron samt Doctors-Folie im Hintergrund.

 

 

 

Neuste Technik steht darauf, nur von Fabelwesen zu bedienen. Doch Fabelwesen brauchen Zaubertränke, um bockstarke Kräfte beim Soundcheck zu bündeln. All das weiß man nach dem zweiten oder dritten Kaltgetränk. Plötzlich: Das Husarenstück, alle Boxen arbeiten wie gewünscht, Showflow! Gleichzeitig steht der Grill unter Dampf, das Buffet lockt, der Garten füllt sich wie Pappelschnee mit allerlei Gästen.

 

Bevor die Docs aus dem gemütlichsten Sitzfleisch getrieben werden, musiziert die Vorband. Vermutlich hat sie noch keinen Namen, sicher ist nur, dass alle beteiligten Musiker eine gute Figur abgeben und Ronny am Cajon performt. Ein herrliches Set ohne trutschigen Weltschmerz, immer auf dem Punkt, Knockin On Heavens Door. Nächstes Jahr auf dem Elbhangfest, garantiert. Es folgt ein junger Liedermacher, dessen musikalische Reise in bester Weise an das Essener Duo Witthüser & Westrupp gemahnt. Eine entspannte 70er-Jahre-Welt, viel Beifall ist die Folge.

 

 

 

Dann dürfen sie ran, die Ehrenlegionäre im Geiste Pratajevs. Makarios orchestriert, singt (wie einst Sinatra) jedes Wort bis zum letzten Buchstaben, Pichelstein gibt abwechselnd Saures und Süßes auf der Erlenholzgitarre. Je mehr Bulbash zur Bühnenlandschaft getragen wird, umso höher steigt das Formbarometer. Langsam wird es Zeit, unter den LEDs Mondcreme aufzutragen.

 

Was genau in der ersten, mehr als einstündigen Gold-Edition gespielt wird, kann die publizistische Tourbegleitung so genau gar nicht mehr wiedergeben. Jedenfalls finden sich die Docs vom Fetischblock bis zur ersten „Schnapsbar“ gemeinsam an der Bühnenkante sitzend wieder. Pause! Smalltalk hier, Longtalk da und die Mehrzahl von Bierflasche lautet Kiste.

 

 

 

Weiter geht’s vor schönster Kulisse, Pratajevs gesamte Natur- und Gefühlspalette wird dargeboten, Makarios schickt ein illustres Wandergefolge los. Den Käferzähler, den Gärtner, die Schwimmerin, das nach Schnaps stinkende Mütterchen, den Satten – und wie sie alle heißen. Die Reise endet an einem Baum, von dem Katzen hängen. Es sind tote Katzen. Tote Katzen im Wind. Eine Konzertstelle, die auch als Karaoke-Maschine laufen könnte.

 

Mehr Tier-Hits aus dem Setzkasten der Pratajev-Bibliothek schließen sich an, das Publikum befeuert die Show nach Kräften, mit Antigravitationsleichtigkeit wird getanzt. Als die ersten bereits „Zugabe“ rufen, glühen die Docs wie Ceranfelder und schwitzen, erneut an der Bühnenkante, ins mitgebrachte Handtuch hinein. Herrlich, alle wollen mehr, an Kaltgetränken laben, verweilen. Episches Kino!

 

 

 

Mittlerweile läuft die Diamant-Edition, das Wunschkonzert mit einer abgewandelten Löcher im Strumpf-Version: „Da sind Bienen im Land / Sie kamen von weit weit her (…).“ Denn Bienen summen im Leben von Ronny und Kerstin in einer ganz herausragenden Rolle. Es wird fleißig Bienenkotze gesammelt. Oder, wie die Romantiker es eher ausdrücken würden, der Imkerei nachgegangen. Spezialsorte: π-naer Honig, genau, versehen mit dem Kürzel π. Wir erinnern uns dabei an den Forscher-Text: „Die Bedeutung des Kürzels π“, einst von Peter Glathe, dem „Dürrenmatt von Markkleeberg“, vorgetragen und hinterher auf CD gebrannt. Kleiner Auszug:  

 

(…) Was ist nun mit solchen Begriffen wie Pisa oder Pirna. Pisa dürfte ja allen durch seinen schiefen Turm bekannt sein, Pirna liegt bei Dresden. Beide Städte sind sich sicher nicht bewusst, dass auch ihr Name auf Pratajev zurückgeht. Zur Zeit der Völkerwanderung gab es schon einmal einen Pratajev, Anführer eines slawischen Reitervolkes, der genau an den Stellen von Pisa und Pirna haltmachte. Er soll auf Erkundungsritt gewesen sein, kehrte jedoch enttäuscht zurück, zumindest steht es so in der Pratajevschen Familienchronik. Pratajev nun selbst machte nie großes Gewese um seine Vorfahren, so dass dieser Aspekt weitgehend unbekannt geblieben ist (…)

 

Derlei sollte sich ins Langzeitgedächtnis einbrennen, wird man in eine TV-Rateshow eingeladen. Wenn die Alles oder Nichts-Buzzer-Frage lautet: „Welche Städte sind auf Pratajev zurückzuführen?“ Eben.

 

 

 

Schlussakkord! Irgendwann: Whiskeytasting! Sehr viel später machen sich die Docs jenseits aller Felsspalten und Donnerkuppeln auf den Weg in die Schlafanstalt Haus Falke. Mit Kegellichtern auf dem Kopf, leicht schwankend, leicht verwirrt, da die Hausnummerierungen zwischen Postaer Straße und Oberposta in keinem leicht zu erfassenden Zusammenhang stehen. Besonders interessant ist die Lage zwischen den Grundstücken 14-a und 15-irgendwas. Umso besser schmeckt die letzte Kippe des Tages beim herrlichen Nachtblick ins weltraumartige Nichts.   

 

Danke, liebe Menschen, lieber Ronny, liebe Kerstin. Wir hatten ja vorher gefragt, ob wir das Wort „Bienenkotze“ hier verwenden dürfen. Glücklicherweise gab es keine Einwände. Wir könnten eimerweise davon zehren, so lecker.

 

 

Bilder: Gesammelte Abendwerke

 

 

Oberste Schublade, Barbie und Ken (473)

 

Ein Warmluftvorstoß trifft Leipzig! Anfang April, an einem Samstag, du liebe Güte. Direkt aus Afrika. Mit leichtem Saharastaub, das volle Programm. Narzissen und Krokusse recken die Köpfe gen Mittagshimmel. Caspar David Friedrich und Vincent Van Gogh hätten in einer ADHS-artigen Handlung zum Pinsel gegriffen. Makarios und Pichelstein fahren dran vorbei. Das erste Ziel des Tages ist ein Stopp beim noch nicht fernreisefähigen Bulbash-Patron Frank The Tank. Scheppernde Kartons werden geladen, darin flüssiger Goldstaub der Pratajev-Kunst. Die Stadt ist hemdsärmelig auf den Beinen. Mancher ist mit seinem Kompass völlig außer Kontrolle geraten und mietete sich einen Wegwerf-E-Scooter mit Straßenzulassung. Dass die Leute darauf wie behelmte Erdmänner mit Hexenschuss aussehen, geschenkt.

 

Nun auf zum Stadtrand, Navi-Zieleingabe: Rostock. Auf zu den Nordis, von lauteren Motiven mit Superbenzin betrieben zur A9-Auffahrt Leipzig-West. Ein edler Sänger und ein Kampfsportgitarrist wollen an die See, wollen endlich beim Pinkeln aufs Meer starren … nein, schadhafter Unsinn! Endlich steht wieder Rostock im Tourkalender, Leinen los, Fuß aufs Gaspedal mit nur einem Hinter-Berlin-McDonalds-Stoppanreiz. Der hat es diskussionsreich in sich. Jahre später noch werden sich die diensthabenden Systemgastrokräfte daran erinnern. Intelligenz ist ein schnelllebiges Geschäft. Here we go.

 

Doctor Makarios bestellt im sanften Vorschlag-Hammer-Modus einen kleinen Kaffee mit kalter Extra-Milch im großen Becher. Drei Dinge zugleich, alle abseits der Karte. Die folgende Szene gleicht den fünf Sterbchenphasen nach Kübler-Ross. Phase 1: Nicht-wahrhaben-wollen („Kalte Milch?“ – „Der Kaffee ist schon heiß genug.“). Phase 2: Wut („Im großen Becher?“ – „Dann schwappt nichts über.“). Phase 3: Verhandeln („Aber mit warmer Milch!“ – „Nein, mit kalter.“). Phase 4: Depression („Das hat hier noch niemand bestellt.“). Phase 5: Akzeptanz („Sechs EURO“). Weiter geht’s, immer weiter. Bis Rostocks Stadtautobahn Pratajevs Erben grüne Wellen gönnt und der Tourgolf vorm Hafenkontor geparkt wird.

 

Ah! Möwen schreien, die schwere See ist nicht fern. Liebe Menschen begrüßen, darunter Rostocks besten Ostseerock-Bühnentechniker und den Chef vom Dienst selbst, Maestro Frank Schollenberger. Vom Mainpoint-Männerchor „Möwe und die Ölmützen“ ist Gitarrist Lothaar am Hansa-Start, Sir Leiche reicht Pichelstein ein erstes Abendsonne-Hafenbräu. Anschließendes Motto: „Lass die leere Flasche frei, nimm dir eine volle.“ Makarios ist gedanklich schon beim Rum-Tonic. Alles in allem: Ein Schwall guter Gefühle regt sich, alle Farben des Regenbogens sind dabei.

 

 

 

Rein ins Bühnenaufbau- und Soundcheck-Vergnügen. Wo sich der gegenüberliegende Einzug ins prizeotel Rostock-City, einem Hartplastik-Etablissement, in dem es Barbie und Ken gewiss gefallen hätte, noch aufschiebt. Apropos Barbie. Die hätte sich - allein wegen der vielen Wellenspiegeln und eines rosa Waschbeckens im Zimmer – vor lauter Freude darüber einen Happy Landing Strip in den Intimbereich waxen lassen.

 


 

 

Kaum ist das letzte Checklied verklungen, öffnet sich die Tür für Pi-mal-Daumen 120 Menschen. In wenigen Minuten ist der Hafenkontor proppenvoll. Nacheinander treten sie ein, in die Weltpremiere der ersten Bulbash Masters außerhalb Leipzigs. Ist ganz einfach: Konzertkarte untern Scanner halten, zack, Bulbash in der Hand, wohlig bekommt’s. Rasch weiter zur Bar, denn Durst macht keinen Spaß.   

 

Die letzthin hoteleingecheckten Doctoren mischen sich unters Volk, es ist ein Genuss. Wiedersehensfreuden rauschen wie Wasserfälle durch Köpfe. Mit Gedankenkraft bereits auf der Bühne, live noch in der Abenddämmerung verharrend. In genau diese Stimmung platzt das Intro. Los, rein und rauf geht’s. „Da hält der Wind den Atem an.“

 

 

 

Wie zuletzt immer gibt’s keine Setlist. Die Docs lassen eine Sturmflut nach der anderen vom Stapel. Unter Mitsinggarantie, keine Experimente, nur die guten Pratajev-Hits finden sich im ersten Block wieder. Von der „Schönen aus der Stadt“ bis zum „Löffel aus Holz“, den Berlins Eademakow stante pede in die Luft reißt. „Oberste Schublade“, raunt bereits jetzt eine Ölmütze zur anderen. Die erste „Schnapsbar“ preist die Pause an, die Bar-Crew gerät mächtig ins Schwitzen. Pichelstein nuckelt am Hafenbräu, Makarios deckt sich mit Drinks ein.

 

Weiter geht die Weltumrundung der guten Bulbash-Laune. Noch mehr Hits, es geht auf Wanderschaft mit dem „Käferzähler“, der „Schwimmerin“, dem „Satten“, dem „Wanderer“ und wie sie alle heißen. „Tote Katzen im Wind“ wird beinahe komplett dem Kontorpublikum überlassen, Mikro in die Menge, aus eigentlich fünf werden zehn Refrainminuten. Mit der „Ratte“, mit dem "Biber" läuft es nicht anders, Rostock bleibt heute einfach Zauber. Je mehr Zunder unter der Gitarre liegt, desto lauter die Rufe: "Pichelstein!" Volle Tabletts werden auf die Bühne geladen, ein Schluck auf die Seligkeit, einer aufs Meer, einer auf Hansa, einer auf die Piranhas, einer auf die nächste „Schnapsbar“.

 

 

 

Zugaben. So viele wie nie in Rostock. „Der dumme Nachbarsjunge“, „Männer die am Feldrand stehen“, „Der Impfer“, „Tasche“ und was noch alles. Schon will Pichelstein die allerletzte „Schnapsbar“ anstimmen … doch nein, so geht das nicht! Makarios rückt die Lage mit „Geh heme meine Kleene“ sächsisch ins Licht. Danach: ein einziges, glückliches Schnaufen und Pusten, Pichelstein unterm Frottee-Handtuch, Umarmung, das war’s, mehr geht nicht.

 

 

 

Danke! Was für ein Tag, was für ein Abend, was für eine Nacht. Was für liebe Menschen, beste Glückstherapie mit Depot-Wirkung. Mit abschließendem Rum-Tasting im leeren Saal. Bis zum nächsten Mal und Jahr. Mit der Hand zum Gruße an alte Zeiten, in denen Pratajevs Diamanten aus Kometen entstanden.   

 

PS: Reisegruppe Sizilien, wir wären gerne mitgeflogen

PPS: Rosa Waschbecken im Hotel:

 

 

 

Fotodanke: Frank Schollenberger, Mathias Kruse, Mathias Tietze, Rosa Waschbecken: Pichelstein

 

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