tour_tagebuch
Doctors-Mania (478)
Kein schweres Gewölk treibt am Himmel. Auf geht’s, schlachtenbummeln nach Pirna. Unter buttergelbem Sonnenschein. Zur Hofnacht, dem gesamt 10. Jahreskonzert. Wie zwei Sonnenbankiers fitschen dunkel bebrillte Docs durch den Wohnmobil-Stopfverkehr. Schließlich ist Ferienende in Sachsen und das Finish einer kurzweiligen Alltagsflucht treibt die fahrenden Männer zur archaischen Geschwindigkeitslust. Auf der A4 röhren, knattern und wanken Wohnmobile auf allen drei Spuren. „Wo wollen die landen?“ summselt ein Doctor zum anderen. „Leitplanke oder Grünstreifen“, kommt zur Antwort. Doch all das wird (als Massencrash) erst am nächsten Nachmittag auf der A4 geschehen. Aufgrund eines rechtzeitigen Aufbruchs glücklicherweise ohne eigene Beteiligung.
A17, Abfahrt Pirna. Makarios, seines Zeichens dreifacher Opa und entsprechend kinderlied-affin, singt noch kurz den neusten Ohrwurm weg. Er lautet: „Vier kleine Fische, die schwammen im Meer, blub blub blub blub, da sagt der eine: „Ich kann nicht mehr“, blub blub blub blub. „Ich wär' viel lieber in einem kleinen Teich, denn hier gibt es Haie und die fressen mich gleich (…)“.
Der Tourgolf hält wenige Kilometer vom DDR-Museum entfernt an der Heidenauer Straße 100. Im obersten Stock ist das Apartment „Süße kleine Ferienwohnung“ verortet. Nichts wie hochgestapft, Beine hochlegen, Impressario Mario anklingeln. Dem auch andernorts heißgeliebten, weil perfekt firmierten Techniker ist der erneute Hofnachtausflug zu verdanken. Fiel doch im Jahr zuvor die einstige Stammbühne an der Langen Straße aus dem Tourkalender, so darf es heute die Open Air-Bühne am Uniwerk sein. Wieder greift die Zahl 10. Diesmal für den gesamt 10. Auftrittsort der Docs in Pirna. So viel sei schon mal in den Rang einer Nachricht erhoben.
Techniker Mario shuttelt rauchende Docs samt Backline vom Quartier zum Uniwerk, dort herrscht bereits ein Wutschen und Wedeln, die Bar wird befüllt, die Bühne mit feinster Technik bestückt. Wünsche werden von Lippen abgelesen, Pizzen bestellt, Kaltgetränke gereicht, ein paar zuvor ausgerufene Edeka-Knacker einverleibt. Herrlich – und dass der Soundcheck nicht länger als 20 Minuten dauert, setzt dem Treiben ein leuchtendes Krönchen auf.
Die ersten Freundesgäste trudeln ein. Herzlichst begrüßt wird der Pirna-Posta-Bienenclan, Kerstin und Ronny, Berlins Eademakow und viele mehr. Noch mehr Knacker, diesmal welche vom Biofleischer, sind die Folge. Dann kommt besagte Pizza. Nehmen und nehmen lassen, das Stammprinzip eines jeden Bankers, wird kulinarisch umgedeutet.
Binnen weniger Augenblicke staut sich der Publikumsverkehr rund um den Uniwerk-Hof. Sind es 250 Menschen oder mehr? Die Barschlange scheint endlos, die Uhr rückt auf 20 Uhr vor. Rauf auf die Bühne, „Da hält der Wind den Atem an!“
Konträr liturgisch geht Pichelstein zu Werke, Makarios preist das Landleben, den mitgebrachten Wodka Bulbash, alles in allem besteht das umjubelte erste Doctors-Set aus liedgewordenen Antidepressiva. Keine Experimente, der Streifzug durch Pratajevs Lyrikwald kulminiert zum Hitfeuerwerk. Die Menschen singen, als verschworene Einheit, vom sogenannten Best Ager bis zum Schulanfängerkind, jeden Refrain.
Beim „Lob des Schweines“ zieht Pichelstein vom Kaiser-Leder, baut „Joana“, „Schach Matt“ und „Manchmal möchte ich schon mit Dir“ schweinern ein. Jüngere, ältere Mädchen in Astronautenturnschuhen und Sandalen kreischen vor Glück. Und die Docs? Plädieren stark für eine Doctors-Mania in Pirna. Mit mindestens drei Konzerten plus Kamerateam und Liveübertragung. In Pirna. Macht es möglich, Uniwerk.
Weiter im Galopp. Bei „1.000 Nudeln“ glänzt die Nudelfraktion, wird allerdings übertroffen von der Holzlöfflerfraktion. Nur einmal, das muss jetzt zwei Jahre her sein, wurde selbst diese von der Impferfraktion (nadellose Spritzen schossen durch die Menge) in den Schatten gestellt. Pichelstein, der auf Konzertfotos immer die Balance zwischen angestrengt gucken und sich geschmeichelt fühlen hält, geizt nicht mit einem Lächeln.
Erste Schnapsbar. Pause. Kaltgetränke machen die Runde, klatschnass verschwitzt auch ein paar Handtücher aus hartem Frottee. Nach 15 Minuten kehrt leichte Unruhe ein. „Weitermachen!“ wird skandiert. „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann,“ behelligte Pratajevs literarischer Mentor im Geiste, Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, einst die Menschheit. Wie wahr!
Der zweite Konzertblock startet mit „Fürchte dich nicht vor der Flasche“, was rund um den Bienenclan-Stammtisch mit ausuferndem Getränke-Genehmigungsgenuss zur Kenntnis genommen wird. Unter illuminierter Sanges- wie Gitarrenenergie wird erst „Gefesselt“ und später der „Gärtner“ in der Pirna-Posta-Gartenbühnenversion ausgespielt:
Herrlich. Lange später geht’s schlussendlich dem nicht endlichen Schluss entgegen. „Der Kuh geht’s gut“, „Schnapsbar,“ Verbeugung, Danke, „Das waren die Russian Doctors (…)“ Nichts da. Die fröhliche Genossenschaft bestens gelaunter, tanzender, singender Menschen fordert die Overtime. Bestenfalls gleich danach das Raupe Nimmersatt-Penaltyschießen.
Gesagt, getan. Makarios sammelt sich ein paar zur Bühne gerufene Wünsche zusammen. Sofern die Autokorrektur des Tourtagebuch-Schreibgedächtnisses nicht stümpert, dürfte es sich um „Löcher im Strumpf“ handeln. Mit Bienen im Land, von weit weit herkommend. Da sich Pichelstein im Refrain von „Als das Eis kam“ in der Schießhund-Akkordfolge wodkaverirrt, bleibt auch dieser Titel nicht vergessen. Wie auch „Gelber Schnaps“ und die „Tasche“.
Mehr geht nicht. Die finalen Minuten bis zum Schlussbuzzer schenken die Docs mit der Walzer-Schnapsbar her. Erneute Verbeugung, Danke! Großes Kino. In dem sich der schweißtropfende Pichelstein bereits auf die Dusche im Apartment „Süße kleine Ferienwohnung“ freut. Ja, ein Duschkopf mit dem kühl prasselnden Wasserstrahldrang, ganze Demos aufzulösen, das wäre es jetzt, kommt auch noch. Und da die Erzählzeiten eh durcheinandergeraten sind, gilt abschließend die besonders in Sachsen beliebte, vollendete Vergangenheitsform, das Plusquamperfekt, und zwar für den gesamten Abend: Schön war’s gewesen.
Fotos: Ralf Hegenbarth & Thomas Matthes
Destilliertes Pratajev-Parfum (477)
Ein gewiss am Fenster abgeseilter, früher Hahn kräht die Doctors wach. Was schlecht wie gut zugleich ist, geht’s doch heute in aller Mittagsfrühe weiter nach Dresden, zum 15 Uhr-Konzert, zum Elbhang, zur Grottenwirtschaft. Also: Nicht gerade Funken sprühend aufstehen, Kaffee, Gitarre besaiten, Kaffee, Pulled Pork-Frühstück, Auto beladen, Navi einschalten, viel Dankbarkeit im Winken und losgezockelt.
Nach vierjähriger, nicht grundlos geschuldeter Abstinenz, endlich wieder Elbhangfest. Wie immer und ohne Verfallsdatum dabei: wechselhaftes Wetter. Eben noch sonnig-schwül, prasselt alsbald ein erstes Regenschauer aufs Autodach und zieht weiter Richtung Süden. Hinter der sächsischen Landesgrenze: eitel Sonnenschein. Pichelstein lenkt den Tourgolf hurtig über Stock und Stein, schließlich zur finalen Tanke, wo es Bockwurst gibt, Rauchwaren- und Cola-Vorräte aufgefüllt werden. Noch rasch ein paar Serpentinen nahe des Fernsehturms (aka: Asbest-Denkmal) gedreht, schon ist das Ziel nah. Es lautet: Pillnitzer Landstraße 167. Es locken: Kaltgetränke aus King Hendriks Hand, Schmalzschnitten dazu. Hallo, liebe Grottenwirte!
Auf der Bühne wird mit feinsten Gitarrenklingen rockbarockt, „Wheft“ stehen bereits vor der Zugabe. Heiß ist es, ein kleines Lüftchen weht. Tropisch wäre übertrieben, aber eben heiß, schwül und nicht minder schweißtreibend. Der für den Nachmittag angekündigte Starkregen lässt auf sich warten, Glück für die Doctors, so viel sei vorweggenommen.
14:30, Soundcheck, das Gelände füllt sich. 14:45, Ende Soundcheck (keine Zangengeburt, danke an die Technik). 15:00, Intro läuft, pickepacke voll ist’s, die Menschen reiben sich aneinander und erhitzen. Makarios legt mit großen Kammertönen los: „Da hält der Wind den Atem an“, Pichelstein sekundiert leichtfüßig auf dem Erlenholz. Ein Konzert, von dem man ganz zu Anfang weiß, dass es ein sehr gutes wird. Ohne Pause noch dazu.
Schiere Liebe tut sich auf, knopfdruckartiger Applaus, herrlich, im einführenden Landleben-Block muss bereits Zapfhahn-Schwerstarbeit verrichtet werden; der Sprung vom Nachmittagskaffee hin zur bezechten Fröhlichkeit ist das Ziel. Es sei denn, man wurde als Fahrer bestimmt, hat Augen auf Kinder zu werfen, dann geht auch Radler. Oder, in der gesteigerten Form: Lastenradler. Je schwerer, je sperriger das Gerät, desto grüner das Gewissen. Wobei den meisten klugen Menschen Lastenradler viel sympathischer sind als Rennradler in ihren atmungsaktiven, neonfarbenen Poser-Pellen.
Die Docs laufen zu voller Größe auf, schnabulieren vornehmlich Sprudelwasser, auf Schnapszufuhren wird verzichtet. Kollabierte just gestern an selbiger Stelle ein Musiker, dem die Verkettung von hochprozentigem Alkohol und drückender Hitze erst kurz vorm Nirwana aller Lappalien, sprich: im Krankenwagen, bewusst wurde.
Nach Pichelsteins erneut erfolgreichem Weltrekordversuch im Schnellgitarrespielen befinden wir uns mittlerweile am Ende des Kulinarik-Blocks. Wer Pratajev mit Gewinn gelesen hat, weiß, was jetzt kommt, die Holzlöffler-Fraktion wedelt ihn schon, den „Löffel aus Holz!“ Klatschende Anerkennung dafür. Bestens bei Gitarren-Stimmung und Stimme geht’s weiter. Makarios schickt Pratajev auf Reisen. Der letzte, der mitkommt, ist nach dem „Gärtner“ „Der Wanderer.“
Durchpusten. Jetzt: Hit an Hit im Speedy Gonzales-Turn, „Tote Katzen“ (mit dem Chor der Elbhanggäste, prämierter Vorsänger: Eademakow), „Schlips aus Lurch“, „Auch die Ratte“ und so weiter und so glücklich wie durchnässend. Ja, der Schweiß rinnt den Docs nur so aus den Poren. Wer möchte, könnte daraus ein großartiges Pratajev-Parfum destillieren.
Was Helene Fischer 2018 mit „That’s me“ auf den Markt spülte und (Zitat) „Konsumenten in die ganz persönliche Duft-Welt Fischers entführen soll“ möchte bei den Russian Doctors doch wirklich machbar sein. Am Ende vielleicht noch etwas Becherovka hinzufügen, einen Hauch Wodka Bulbash. Und Honig! Aber nur aus Pirna, den von Kerstin und Ronny, die heute samt Gefolge auch da sind. Hallo!
„Ich muss raus an die Schnapsbar“ - die vorgegebene Spieluhr ist abgelaufen, die nächste Band scharrt mit den Hufen, Unwetterzellen nähern sich, aber nur um wenige Zentimeter. Eben wollten die Docs noch von der Bühne, klappte natürlich nicht. Jetzt muss es schnell gehen, Zugabewünsche werden eingepackt, brodelnd motiviert geht’s los mit dem „Gelben Schnaps“, der in „Als das Eis kam (so plötzlich)“ übergeht. Letzte Zuckungen bei: „Geh Heme meine Kleene“, bei der Walzerschnapsbar. Das waren die Russian Doctors!
Makarios eilt zum Merchstand, Pichelstein räumt die Bühne frei. Danach: Mit viel Sitzfleisch und Durst ausgestattet nichts tun und aufs Unwetter, den Regen warten, grottenschlechten Fußball-Engländern alle EM-Daumen drücken.
Stunden später, England gewann mit viel Dusel, der Elbhang trieft und tropft. Ein Taxi zur Unterkunft muss her, die Pillnitzer Landstraße mit Füßen zu durchmessen, danach steht ermatteten Doctoren nicht der Sinn. Kein leichtes Unterfangen, Hendrik scheitert an der App, ein Anruf bei der Zentrale bringt altbackene Erfolge, frohgemut steigen die Docs in den Mercedes, der Fahrer nattert vor sich hin.
Am Seiteneingang des Hotels „Am Blauen Wunder“ werden die Zahlen 1311, wie vorgegeben, am Schlüsseltresor zügig eingegeben, wird die Raute-Taste gedrückt, das Fach für Zimmer 311 öffnet sich. Es lebe der Nachtzugang. Morgen wird es mit dem ÖPNV noch einmal zur Grottenwirtschaft gehen, Abschied von den Wirten nehmen. Dann geht’s über Tschechien (kleiner Einkauf) heim. Laut wird dabei gesungen - ein Lied der Kati Kovacs: „Wind, komm, bring den Regen her" (Sonne brennt heiß und durstig ist das Land ...)
Fotos: Maria Singrobär, Thomas Matthes, Grottenwirtschaft