Genießen (475)

 

Der menschliche Geist ist ein wandernder Geist, ein schwebender, zumeist unglücklicher Geist, der selten im Hier und Jetzt ist. Die Docs aber sind fahrende Geister, die es heute gar nicht weit haben. An diesem glühend-sonnigen Freitagnachmittag geht’s aufs ehemaligen VEB-Gelände der Obst- und Gemüseverarbeitung Leipzig, verortet einige Wandermeter von der Radrennbahn und der grünen Lunge Küchenholz. Umbaut von einem Netto-Markt und einer HEM-Tankstelle. Ein Gelände samt Fabrikhalle, in der ansonsten detailversessen an Autos geschraubt, mit Holz gewerkelt und auch sonst viel gekünstelt wird. Jährlich lädt die Mietergemeinschaft zum Gelage. Und da alles an der Spitze der Hornstraße stattfindet, steht auf der Einladung Kap Horn Sommerparty.

 

 

 

Nur allzu oft weigert sich die Welt, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Heute ist es anders. Die freundlichsten Menschen des Viertels bilden das Empfangskomitee. Bestens verschworen geht’s zum ersten Kaltgetränk, vermag der Ablauf des Konzertabends besprochen werden. Aufgefahren, angeheizt wird eine Grillgeräteparade, schon stehen die Docs beim Soundcheck auf der Fabrikhallenbühne. Pointiert, cool und ausgebufft löst der Techniker ohne Eskapaden und Schrecknisse den Freifahrtschein. Sodass rasch Faultiertime sein darf, was gut ist. Sehr sogar.       

 

Als das Gelände mit einem Mal rappelvoll ist, drehen Dk.dando plus Rap-Lebensgefährten die Vorhut-Regler auf und füllen die Halle mit enigmatischer, kinky Tonkunst auf leckerste Weise. Vorbehaltlos gut wird zu Werke gegangen; von Klein Paris bis Groß New York, nichts als filigraner Sprechgesang im Wohlfühlsound. Darunter die Docs den imaginären Pokal für die weiteste Anreise an die Pratajev-Sektion Nürnberg vergeben, sich an pickepackevollen Tellern laben, und bass erstaunt sind, als sich Tierpfleger aus der Urmutter der Zoo-Doku-Soaps "Elefant, Tiger & Co" dazusetzen. Sehr schöne Themen bieten sich an. Und das eine wie andere Kaltgetränk kommt ungefragt hinzu.  

 

 

 

Der Schlüssel zum Glück steckt bekanntlich von innen, rein in die Halle, Vorband ist durch, alle Kabel stecken noch, Schlag Neun scheppert Kingsize-Schnellgitarrist Pichelstein, der fliegende Pfeil auf der Gitarre, zum Kickoff: „Da hält der Wind den Atem an.“ Mit salbungs- wie weihevollen Sangestönen psalmodiert Makarios Pratajevs Wahrheiten und Weisen, die Halle ist von den Socken, erste Menschen gehen auf Tuchfühlung.  

 

Bei einem Doctors-Konzert ist das gemeinhin sehr zu empfehlen. Soeben verfehlt Überflieger Pichelstein ganz knapp einen neuen Weltrekord, wird aber rasch zum schnellsten Gitarristen von ganz Großzschocher gekürt.  

 

Alles andere als eine betuliche Veranstaltung nimmt seinen Lauf. Heute wird’s nur zwei Blöcke und keine Pause geben, massiver Applaus rundet jeden Setlist-Titel ab. Pratajev, der Solitär, Kenner und Könner aus den Weiten Russlands, hat sie alle am Wickel. „Auf sie mit Idyll!“, wie der ebenso legendäre Wiglaf Droste jetzt mit feinster Whiskeyzunge apostrophieren würde. „Die Heilung!“ - weiter geht’s beim orchestralen Ritt durch die Weiten Russlands bis hin zur Schnapsbar, die überschwänglich in den Zugabeblock kippt. In dem Pichelsteins Konstanz mit acht Gitarrenarmen den „Faulen“ anstimmt, die „Ratte“ hinterm Ofen rettet, „Löcher im Strumpf“ glänzen. Mittenmang: Ein blaues Kornfeld in den Mund gelegter Pratajev-Zitate und am Ende, was sonst? „Geh heme meine Kleene.“ Aber wirklich. Felsenfest. Zumindest von der Bühne, daneben sich die Docs in den Armen liegend.

 

 

 

Wahrlich, ein bewahrenswerter Abend geht über in die Nacht. It’s DJ Schlotte-Time und genießen ist eines der wenigen Zauberworte, die die deutsche Sprache jenseits aller Aschentonnentermini vorhält. Genießen entstammt dem Genuss und wird als Freude oder Annehmlichkeit definiert. Als positive Sinnesempfindung, verbunden mit allerlei Wohlbehagen. Soviel zur Gefühlsummantelung im Hier und Jetzt, auf dem Kap Horn Sommerfest 2024. Vielen Dank für die Einladung, liebe Menschen.  

 

Fotos: Dank an Danuta Molotova

 

Erfüllt an der Bühnenkante (474)

 

Das Maß an Alltagsermüdung ist ausgereizt. Frisch gebürstet und gekämmt, mit gut gealterter Musik im Player, geht’s zur Autobahn. Pichelstein: Hand auf dem Schaltknüppel, Makarios: Verzehrt mit pastoraler Besinnlichkeit Schluck für Schluck ein Fläschchen Kofola.

 

Ein Samstagnachmittag, wie er besser nicht sein kann. All das im Zeichen jüngster Sonnenstürme samt ergreifender Polarlichter. Noch gestern Abend, nach der Blauen Stunde, sah der Himmel so aus, als hätten magische Einhörnchen vom Himmel gepinkelt. Vor lauter Glück darüber kann heute nichts mehr schiefgehen. Weder am Tankstellenhalt in Grimma, noch auf der weiterführenden Piste gen Pirna. Zwar wird es hinterher auf der Tourauto-App ein paar Schlagzeilen mit Geschwindigkeitsüberschreitungen auf der A14 und A4 geben, die Fahrt ergo negativ bewertet werden, doch das ist niederrangig.

 

 

 

Genauer geht es heute in den Ortsteil Pirna-Posta, ins Privatparty-Refugium von Ronny und Kerstin. Der Anlass ist schön. Es gibt keinen besonderen, außer den ganz besonderen: Tolle Leute kennenlernen (Schnapsbar) und natürlich wiedersehen. Knapp davor lässt sich die erratisch-weibliche Navi-Stimme nicht lumpen, knifflige Ortsbuchstaben zu formulieren. Gemarkungen wie Pratzschwitz und die inkludierende Pratzschwitzer Straße lassen die Docs darunter harsch auflachen. Das klingt alles irgendwie nach Spucke, also spuckig. Gleichsam zuvor beim Hinweis auf die „A17 Richtung Prakk.“ Was zum Reimen verführt: Mit Hack im Frack nach Prakk / Besser als Zwieback / Guter Geschmack. 

 

Kaum parkt das Auto an der sonnendurchfluteten, von Dampfern durchfahrenden Elbe, gibt’s ein großes Hallo. Schon findet man sich bei Kaffee und Kuchen Outdoor im Schatten einer raren männlichen Sicheltannne, einer Hängebirke und einer riesengroßen Rosskastanie wieder. Natur pur. Es hämmert der Specht, diebt der Star, zwitschert die Amsel, punkrockt der Spatz. Wahrlich, wir befinden uns in einem elbischen Elfengarten. Tolkiens blütenschwangeres Bild davon ist weiterhin geprägt von einem erst kürzlich zusammengebautem Bühnenthron samt Doctors-Folie im Hintergrund.

 

 

 

Neuste Technik steht darauf, nur von Fabelwesen zu bedienen. Doch Fabelwesen brauchen Zaubertränke, um bockstarke Kräfte beim Soundcheck zu bündeln. All das weiß man nach dem zweiten oder dritten Kaltgetränk. Plötzlich: Das Husarenstück, alle Boxen arbeiten wie gewünscht, Showflow! Gleichzeitig steht der Grill unter Dampf, das Buffet lockt, der Garten füllt sich wie Pappelschnee mit allerlei Gästen.

 

Bevor die Docs aus dem gemütlichsten Sitzfleisch getrieben werden, musiziert die Vorband. Vermutlich hat sie noch keinen Namen, sicher ist nur, dass alle beteiligten Musiker eine gute Figur abgeben und Ronny am Cajon performt. Ein herrliches Set ohne trutschigen Weltschmerz, immer auf dem Punkt, Knockin On Heavens Door. Nächstes Jahr auf dem Elbhangfest, garantiert. Es folgt ein junger Liedermacher, dessen musikalische Reise in bester Weise an das Essener Duo Witthüser & Westrupp gemahnt. Eine entspannte 70er-Jahre-Welt, viel Beifall ist die Folge.

 

 

 

Dann dürfen sie ran, die Ehrenlegionäre im Geiste Pratajevs. Makarios orchestriert, singt (wie einst Sinatra) jedes Wort bis zum letzten Buchstaben, Pichelstein gibt abwechselnd Saures und Süßes auf der Erlenholzgitarre. Je mehr Bulbash zur Bühnenlandschaft getragen wird, umso höher steigt das Formbarometer. Langsam wird es Zeit, unter den LEDs Mondcreme aufzutragen.

 

Was genau in der ersten, mehr als einstündigen Gold-Edition gespielt wird, kann die publizistische Tourbegleitung so genau gar nicht mehr wiedergeben. Jedenfalls finden sich die Docs vom Fetischblock bis zur ersten „Schnapsbar“ gemeinsam an der Bühnenkante sitzend wieder. Pause! Smalltalk hier, Longtalk da und die Mehrzahl von Bierflasche lautet Kiste.

 

 

 

Weiter geht’s vor schönster Kulisse, Pratajevs gesamte Natur- und Gefühlspalette wird dargeboten, Makarios schickt ein illustres Wandergefolge los. Den Käferzähler, den Gärtner, die Schwimmerin, das nach Schnaps stinkende Mütterchen, den Satten – und wie sie alle heißen. Die Reise endet an einem Baum, von dem Katzen hängen. Es sind tote Katzen. Tote Katzen im Wind. Eine Konzertstelle, die auch als Karaoke-Maschine laufen könnte.

 

Mehr Tier-Hits aus dem Setzkasten der Pratajev-Bibliothek schließen sich an, das Publikum befeuert die Show nach Kräften, mit Antigravitationsleichtigkeit wird getanzt. Als die ersten bereits „Zugabe“ rufen, glühen die Docs wie Ceranfelder und schwitzen, erneut an der Bühnenkante, ins mitgebrachte Handtuch hinein. Herrlich, alle wollen mehr, an Kaltgetränken laben, verweilen. Episches Kino!

 

 

 

Mittlerweile läuft die Diamant-Edition, das Wunschkonzert mit einer abgewandelten Löcher im Strumpf-Version: „Da sind Bienen im Land / Sie kamen von weit weit her (…).“ Denn Bienen summen im Leben von Ronny und Kerstin in einer ganz herausragenden Rolle. Es wird fleißig Bienenkotze gesammelt. Oder, wie die Romantiker es eher ausdrücken würden, der Imkerei nachgegangen. Spezialsorte: π-naer Honig, genau, versehen mit dem Kürzel π. Wir erinnern uns dabei an den Forscher-Text: „Die Bedeutung des Kürzels π“, einst von Peter Glathe, dem „Dürrenmatt von Markkleeberg“, vorgetragen und hinterher auf CD gebrannt. Kleiner Auszug:  

 

(…) Was ist nun mit solchen Begriffen wie Pisa oder Pirna. Pisa dürfte ja allen durch seinen schiefen Turm bekannt sein, Pirna liegt bei Dresden. Beide Städte sind sich sicher nicht bewusst, dass auch ihr Name auf Pratajev zurückgeht. Zur Zeit der Völkerwanderung gab es schon einmal einen Pratajev, Anführer eines slawischen Reitervolkes, der genau an den Stellen von Pisa und Pirna haltmachte. Er soll auf Erkundungsritt gewesen sein, kehrte jedoch enttäuscht zurück, zumindest steht es so in der Pratajevschen Familienchronik. Pratajev nun selbst machte nie großes Gewese um seine Vorfahren, so dass dieser Aspekt weitgehend unbekannt geblieben ist (…)

 

Derlei sollte sich ins Langzeitgedächtnis einbrennen, wird man in eine TV-Rateshow eingeladen. Wenn die Alles oder Nichts-Buzzer-Frage lautet: „Welche Städte sind auf Pratajev zurückzuführen?“ Eben.

 

 

 

Schlussakkord! Irgendwann: Whiskeytasting! Sehr viel später machen sich die Docs jenseits aller Felsspalten und Donnerkuppeln auf den Weg in die Schlafanstalt Haus Falke. Mit Kegellichtern auf dem Kopf, leicht schwankend, leicht verwirrt, da die Hausnummerierungen zwischen Postaer Straße und Oberposta in keinem leicht zu erfassenden Zusammenhang stehen. Besonders interessant ist die Lage zwischen den Grundstücken 14-a und 15-irgendwas. Umso besser schmeckt die letzte Kippe des Tages beim herrlichen Nachtblick ins weltraumartige Nichts.   

 

Danke, liebe Menschen, lieber Ronny, liebe Kerstin. Wir hatten ja vorher gefragt, ob wir das Wort „Bienenkotze“ hier verwenden dürfen. Glücklicherweise gab es keine Einwände. Wir könnten eimerweise davon zehren, so lecker.

 

 

Bilder: Gesammelte Abendwerke

 

 

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