Ein waschechter Pratajev-Pantomime gibt alles (491)
Der neue Tag beginnt wie der vergangene: Die Temperaturen fallen nach oben, die Schweißperlen nach unten. Bereits reichlich überhitzt geht’s in den Frühstücksraum. Rasch muss es gehen, denn die Herbergsleute im Kastanienhof zu Etzoldshain erwarten Mittagsgäste. Also: Bis halb zehn leckeres zum Start in den zweiten Konzerttag dieses Wochenendes, auschecken, Fahrt zum Dorfgemeinschaftshaus Lauterbach, Backline ins Auto laden; zur besten Entschleunigung folgt die Einladung zwecks Frühstücksverlängerung ins Anwesen der Nina Nikolajewna Gagarina und des Kristian Wilfridowitsch Siverski. Pläne werden geschmiedet; so könnte der Doctor Makarios doch bald mit besonnenem Timbre Yoga-Texte einsprechen. Die Idee wird zur Chefsache erklärt.
Nach bestaunter Gartenführung, inkl. Besichtigung der Dorfsauna, eines anmutenden Gewächshauses, die Früchte des letzten Jahres bereits als Marmelade verzehrt, muss es weiter gehen. Und zwar größtenteils über Land gen Dresden. Niemand steht freiwillig bei sommerlichen Betriebstemperaturen im Stau auf der A4. Andere schon, man kann es aus dem Fenster sehen.
Eigentlich sollte nach Stunden des Gasgebens noch eine kleine Leckerei-Absteige besucht werden, schließlich haben russische Doktoren im Dienst immer Hunger, doch wird nichts draus. Mannigfaltige Ideen rauschen wie Wasserfälle durch den Kopf des Doctor Makarios, doch Pichelstein ist selbst in Tempo-30-Zonen zu schnell zum links oder rechts reinfahren. Rächen wird sich das später vor einem grün bemalten Mobilblitzer, der wie ein getarntes Raumschiff am Wegesrand lauert und grellrot zuschnappt.
Sei es drum. Viele Biker, der Fluch des schönen Wetters, knattern in bester Organspendermanier vorbei und plötzlich ist da auch schon der Schillerplatz, das Blaue Wunder, der Elbhang. Erstmals dürfen Autos, Busse während des Festes fahren. Weil die Anti-Terror-Absperrungsauflagen finanziell für den Veranstalterverein nicht zu stemmen gewesen wären. So geht sächsische Bürokratie. Immer gründlich mit der Fliegenklatsche aber voll daneben.
An der Grottenwirtschaft gibt es immerhin eine bereitgestellte Wanderampel. So kann das bierglasstemmende, fußläufige Volk sicher die Landstraße Richtung Elbufer queren, denn hier ist mit Rat, Liebe und Tat das Bühnenleben verortet. Nebst Getränkeschank, Gulasch-Kanone, Zelten und Bänken steht der Goldstaub kommender Pratajev-Kunst Pate.
Angelandet wird das Grottenwirtschafts-Team geherzt, Kerstin, Hendrik und all die anderen. Ein frohgemutes Wiedersehen. Rasch ein paar Kaltgetränke, Fettbemmen, Suppen, Bratwürste zur Stärkung. Die Elbglocke schlägt 14 Uhr. In einer Stunde sollen die Docs soundgecheckt in die Sonne blinzeln und loslegen. Möge die Akklimatisierung gut gelingen.
Noch spielen System not found „This charming man“ von den ewigen The Smiths, noch gibt’s heiße Begrüßungen. Das Ufer füllt sich, Familie Imker radelt mit Gefolge aus Pirna an, Berlins Eademakow ist da, der schnelle Mario aus dem Vogtland. Tilo winkt, jener Die Zucht-Gitarrist, ohne den es Die Art nie gegeben hätte, ohne den es – im übertragenen Sinne – die Russian Doctors sicherlich auch nicht geben würde. Zufälle sind halt sehr oft coole Socken.
Die Bühne ist frei, Pichelstein zerfließt bei 30 Grad, Aufbau der Backline, Soundcheck, die Klimperkisten-Techniker leisten Gutes. Ein Biber wedelt im Wind, wird später dem Docs-Tross hergeschenkt, eine gestrickte Ratte stante pede an einen der Mikroständer gebunden. So richtig lassen sich die frisch aufgezogenen Gitarrensaiten unter der Hitzeglocke nicht bändigen. Zudem brennt die Sonne auf beide Stimmgeräte, was die Sicht drauf nur mit viel Gewese ermöglicht. Egal, Baby it’s Punkrock, it’s Pratajev-Punkrock, noch ein halbes Vollgetränk, zwei Kippen, Intro läuft … Es ist unheimlich hart, der Beste zu sein. „Eins, zwei, drei, vier: Da hält der Wind den Atem an (…)“
Makarios führt durchs Set, Pichelstein tropft, kämpft mit der Saitenstimmung, zu manchem Schnapslied reicht Hendrik flüssige, goldgelbe Kunstwerke im Glase. Die Nudelfraktion führt das tosende Volk an, all die wunderbaren Holzlöffler - und ein waschechter Pratajev-Pantomime gibt alles. Herrlich anzusehen, oft kopiert, nie erreicht.
Gepaust wird heute nicht. Die Docs spielen sich beschwingt durchs Set; Makarios rasiert den Gefolge-Block, touchiert nach mehr als einer Stunde bereits das Tierleben, Chöre bilden sich, angeschmückte Menschen liegen sich in den Armen. So muss das sein auf dem Elbhangfest zu Dresden, das für die Docs arbeitstechnisch nach der letzten Schnapsbar genial umjubelt beendet ist. Schließlich stehen als nächster Act Bmon in den Startlöchern; rasch wuchtet Pichelstein die Backline zur Seite, pfeffert sein klitschnasses Shirt in die Ecke, streift sich neuen Stoff über, wird von Kerstin mit einem Erste-Hilfe-Kaltgetränk am Leben gehalten. Platten werden signiert, Hände geschüttelt, Menschen gedrückt. Der Imker verteilt ein paar Gläser Doctors-Honig und das Merchandising der Grottenwirtschaft wird immer umfangreicher. Waren es anfangs nur T-Shirts, später Feuerzeuge, sind in diesem Jahr Schlüsselbänder hinzugekommen. Bald dürften Bademäntel, Grillschürzen und Tanga-Slips auf der Agenda stehen.
Was für ein pralles Leben. Es wird gefeiert bis nicht ganz so tief in die Nacht, Endstation Hinterhof, an einem prächtigen Garten für letzte Getränke. Bis der Shuttle das Bed and Breakfast am Schillerplatz erreicht, ein sehr schönes Hotel mit durchaus schwer auffindbarem Schlüsselcode-Komplex. Denn dort, wo Schlüsselcode draufsteht, ist keiner einzugeben. Man muss eben manchmal im Leben Meister seines Fachs sein und ganz ungeniert um die Ecke denken.