Wasser ist ungeborener Wodka (483)

 

Die unrühmliche Steigerung von Secondhand-Läden sind trutschige Verschenkekisten. In Plagwitz trifft man sie an jeder Straßenecke. Kisten mit schäbiger Kleidung, ranzigen Büchern, altem Geschirr und kaputtem Kinderspielzeug for Free, zum Mitnehmen. Wer greift da nicht unprätentiös zu? Die Docs! Überdeutliches Nein! Denn sie haben heute besseres zu tun. Wieder einmal geht’s ins Wohnzimmer, in die Stallwache. Diesmal rief der liebenswerteste Frühpensionär Leipzigs, Jens Pasemann, zum Geburtstags-Konzert-Appell. Zu einem Abend, der sich bereits früh als Gesamtkunstwerk bester Liebes- und Lebensfreude beschreiben lässt.       

 

Impressario Frank „The Tank“ herzt Makarios und Pichelstein, die Backline wird ausgeladen. Nachdem das Bringeauto prächtig, weil ohne Abschleppgefahren, verparkt ist, zapft Barchef Schmo Helles aus dem Hahn. So muss es sein, die Docs bedanken sich mit zwei Lächeln, bauen die Bühne auf und verschwinden auf Kulinarik-Pfaden.

 

 

 

Im geschlossenen Innenhof des Westwerks wird vorbestelltes, vietnamesisches Huhn an Kindertischen gereicht. Es gilt das alte Kochschürzen-Motto: Was gut riecht, bleibt nicht lange unprobiert.

 

Satt und lecker abgespeist geht’s retour in den Stall, der Techniker grinst und hält sich den Wanst. Bedeutet: Soundcheck kann losgehen. Ab sofort gilt das gesungene Wort, gelten Stahlsaitenklänge. Lässig, dramatisch, berührend und einschneidend. Die Anlage koppelt zwar ein wenig rück, doch insgesamt klingt’s wie geschmiert.

 

 

 

Schnapsbar-Time! Während sich immer mehr Geburtstagsgäste einfinden, mit Drinks versorgt werden und munter schwatzen. Niemand ist da, der einem die Ohren mit tristem Unglück abkaut. Würde man es nicht besser wissen, so ahnt man es stets: Pratajev, der Hausheilige der Stallwache, wo die Heimat der Heimatlosen Usus ist, wacht überm Gewimmel und findet die Lage großartig. An einem der Tische wagt jemand Wasser zu bestellen, Pratajev bringt den Burschen zur Räson, er gruft-ruft: „Kein Wasser. Wasser ist ungeborener Wodka.“ Wie wahr! Die Wirkung ist physisch, man möchte zerspringen vor Glück.

 

Gegen kurz vor neun eröffnet Jens nicht minder eindrücklich den Abend. Eine kleine Rede wird es, auch derer wird gedacht, die bereits ins Licht gegangen sind. Freundschaft überdauert den Tod. Eine Allegorie für alle Wunder, nach denen man sich sehnt.

 

 

 

Das mittlerweile schnapsbargestählte Publikum klatscht zwanglos fröhlich, sieht indes stark behandlungsbedürftig aus. So kann sie also losgehen, die humorvolle Privatrezeptbehandlung der Docs als probates Mittel zur Vermessung der Welt. Humor kommt bekanntlich von „Humus“, ergo von „Humanität“ - und ist überlebenswichtig. Ganzkörpergitarrist Pichelstein zählt bis drei. „Da hält der Wind den Atem an.“

 

Leicht und luftig wie ein Sommerkleid kommt „Das Idyll“ daher. Es folgt eine erste Hitreise; Doc Makarios führt mit gelebter Rum-Tonic-Energie durchs Repertoire. Von der zarten Liebeserklärung bis zum widerborstigen Katzenmahl ist alles dabei. Die Gabe, Schnaps und Weiber miteinander zu verschmelzen, heißt S.W. Pratajev. Mal setzt Pichelstein darunter die Gitarre mit Volldampf und Furor als Axt, mal als harmonisch-zartes Brettchen ein.  

 

 

 

Dürers betende Hände erheben sich, durstig macht die kulturelle Lufthoheit, Jens liefert das ein oder andere Wodka-Tablett zur Bühne. Nach knapp einer Stunde darf Pause sein.

 

Ohne Umschweife geht es 20 Minuten später mit der „Dorde“ weiter, denn „Gugge ma dorde, die Dorde“, ist fürwahr das Geburtstagslied der Docs. Jens fühlt süße Umschmeichelung, Makarios lockt das Publikum in den Fetisch-Block, ins Tiergehege und schließlich zum Grande Finale, dem schnapsbargestählten Zugabeblock. „Löcher im Strumpf“ folgen einer „Tasche-auf-Tasche-zu“. „Lange Haare“ gibt’s auf die Ohren, Jens lässt die seinen herrlich fliegen. „Geh heme meine Kleene“ setzt dem Treiben den Deckel drauf.

 

 

 

Neues T-Shirt für den nassen Pichelstein, Schmo kredenzt den Docs zwei Drinks, die Bühne wird abgebaut, die Technik verladen.  

 

Irgendwann schlägt die Stunde der Taxi-Heimreise. Im dichten Novembernebel ist der georderte Kombi schwer zu erkennen. Nachtgänse kreischen am Himmel. Hoffentlich sind sie auf der richtigen Route und fliegen nicht gen Norden. Das wäre äußerst unklug. Der Taximann wuchtet die Gitarren in den Kofferraum und startet den Motor.

 

Nach so einem wundersamen Abend gilt die Devise: Die Dummheit der Welt stets auf Abstand halten. Man fährt durch die Nacht und weiß, dass es nicht überall, aber irgendwo immer gut ist. Danke dafür!   

 

Fotos: Gästedanke

 

 

Das große Trommelfell-Trampolinspringen (482)

 

Rotgelbe Abendsonne ergießt sich wie ein Krug Tequila Sundown über Leipzig, bald schon schenkt der Herbst frühe Dunkelheit, wenige Stunden sind es bis zur Zeitumstellung. Das 482. Konzert führt die Docs zu einer alten Bekannten, der ehemaligen Centralhalle Gaschwitz, heute: Reuters Radlerhof. Im Laufe des Jahres 2017 rief man die Pratajev-Bagaluten gleich dreimal hierher. Wobei vor allem das 8. Pratajev-Sommerfest im August unvergessen bleibt. Sowie auch ein Nachkonzert-Unglück im März. Als Doctor Pichelstein den direkten Weg in die Dusche folgenreich verfehlte. Satte drei Monate dauerte die offene Wundheilung, würdige Narben am Unterbein zeugen noch heute davon.

 

Mittlerweile wurde der Lokalität ein gerechter Umbau verpasst, die marode Centralhalle samt geschichtsträchtiger Bühne renoviert. Was noch fehlt, ist eine Renft-Gedenkstätte. Denn hier traten sie auf, die Deep Purple-Schdooons-Steppenwölfe der DDR. Zwischen Liebe, Zorn und stacheligen Rosen. Mit Rock-Blues für kritische Bierglasarmeen abseits aller Staatskünstler, denen es mehr um Schwanenkönige, Perlentaucher oder um die Rettung des Südpols ging. Bis die Leipziger Bezirks-Kommission für Unterhaltungskunst der Gruppe Renft qua Verdikt den Stecker zog. So viel zur Historie.

 

 

 

Heute soll es um Dirk gehen, der kürzlich 50 wurde und sich als Gastgeber mit einem Doctors-Konzert auf Privatrezept belohnt. Gute Entscheidung, da gibt es kein Vertun. Die Backline wird ans Tor gewuchtet, in der Halle sitzt das Party-Publikum bereits auf heißen Kohlen. Einerseits, na klar, weil die Docs bereits angekündigt wurden, andererseits, weil’s Buffet in Bälde eröffnet wird. Kaum fällt der dazu ermutigende Satz, wirft DJ Roy die Beatmaschine an. Los geht’s, das große Trommelfell-Trampolinspringen mit den Hits aus Pop, Rock, Schlager, elektronischer Tanzmusik (was von Renft ist nicht dabei).

 

Unterdessen verstöpselt Pichelstein die Backline mit der Anlage, Makarios schwatzt den sehr jungen Ausschankdamen Kalttränke ab. Ein kurzer Soundcheck endet in beseelter Zufriedenheit direkt mit einem Aufgalopp zum Buffet, zum Hafen der guten Düfte. Jammjamm.  

 

 

 

Als heute einzige Pratajev-Fraktion ist jene aus Lauterbach auszumachen. Das glücksdurchgossene Wiedersehen mit Kristian Wilfridowitsch Siverski samt Gattin Nina Nikolajewna Gagarina gedeiht zum magischen Moment. Was in einer kleiner Randnotiz auch damit zu tun hat, dass sich beide Biberplagenforscher von Krasnagorod erbieten, die Docs nach dem Konzert heimzukutschieren. Zumal an Taxen in den Leipziger Randgebieten, noch dazu an Wochenenden, schwer ranzukommen ist. Als Entschädigung folgt späterhin die Gästelisten-Einladung zum weihnachtlichen Jahresabschlusskonzert in die Stallwache.

 

Jetzt nur nicht der Verdauung komplett anheimfallen, noch ein Rauchopfer an frischer Luft, dann auf in den Irrgarten Pratajevs. Gegen 21 Uhr scharren die Docs mit den Hufen. Der Theaterdonner, das Intro, bleibt stumm, dafür haut DJ Roy alle kräftig aus dem Sulky und kündigt göttergleich zwei musizierende Russen an. Die lassen sich nicht lumpen und zünden mit „Da hält der Wind den Atem an“ Rakete Nummer eins.  

 

Mit Präzision und Empathie geht’s weiter im „Idyll“, wird unter lebhaften Ehrenbezeugungen des Publikums „Rundblick vom Turm“ gehalten, werden Wodka-Appelle für bare Münze genommen; alsbald stapeln sich leere Gläser auf der Bühne.

 

 

 

Dass Pratajev die gesamte Psychoanalyse ersetzt (danach braucht es nichts mehr), wird spätestens bei der „Katz“ jedem klar und Dirk bekommt mit der „Dorde“ ein sächsisches Geburtstagsständchen gereicht. 75 Minuten werden insgesamt zelebriert, Pichelstein geht darin ab wie Zäpfchen, brutalste Einzelleistungen paaren sich mit Makarios‘ Gesangsvolumen. Strahlend umhalsen sich die Docs nach den Zugaben und geben den Staffelstab an DJ Roy weiter.

 

Jedem Konzertende wohnt eine gewisse Müdigkeit inne, viele Kaltgetränke werden es nicht mehr, Gruß und Danke an Dirk, ans Publikum, Topdaumen an DJ Roy. Schon zischt ein von Sternen beleuchtetes Auto entlang der Herbstblätterwelt von dannen. Es geht nach Hause. Deswegen fährt man ja auch gerne weg. Um wieder Zuhause anzulanden, wo friedliche Stille waltet. Schön.

 

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