tour_tagebuch
Nacktschnecken (487)
Das imposante martas Hotel Lutherstadt Wittenberg liegt in der historischen Altstadt und hat allein deshalb fünf Sterne verdient. Schön ist es schließlich immer, wenn die Wege zwischen Tourauto, Veranstaltungsort und Übernachtung einfach, rasch zu erreichen sind. Berliner Verhältnisse wollen wir dabei ausschließen. In der Hauptstadt ist alles „um die Ecke“, was gerne bis zu 20 Kilometer Entfernung bedeuten kann.
Im Lob- und Meckerfeld der Hotel-Bewertungsskalen überwiegt ersteres; nachteilig wird erwähnt, dass keine Minibar die Zimmer ziert, Steckdosen auf jeder Seite des Bettes angebracht gehören. Dies, um medizinisches Gerät anzuschließen. Na Hallo. Welches denn genau? Schnarchmaskenapparte? Perfusoren? Ein Herzmassagegerät für Laien? Dildos? Laufen die nicht mit Akku? Vermisst werden eigentlich nur fesselnde, knebelnde Schubladenbücher mit Lebenshilfetipps Pratajevs. Dort, wo die Bibeln liegen.
Über all das sinnierend geht’s für die Docs runter zum Frühstücksbuffet, später an die kalt-windige Frischluft, wo Pichelstein die ChatGPT-App mit Fragen füttert. „War Luther böse?“ – Zur Antwort kommt ungefähr dieses: „Ja, ein wenig schon. Juden mochte er nicht, am Dreißigjährigen Krieg, der das Land spaltete, verrohrte und über Jahrhunderte lähmte, hatte er durchaus Aktien. Zum Wohl der Zivilisation.“ Menschenrechte haben halt ihren Preis. Da kann man die Stirn noch so sehr in Dackelfalten legen.
Weitaus interessanter antwortet ChatGPT auf die Frage: „Wo wurde Makarios Oley geboren?“ Die Antwort ist so falsch, wie sie nur sein kann: „In Grimma.“ – „So ein Unsinn“, empört sich der falschbeleumundete Doc M. „Leipzig“ wäre die richtige Antwort gewesen. Letzte Challenge: „Wo gibt es den besten Rum in Rostock?“ Antwort: „Besuchen Sie die jeweiligen Websites der Stadt.“ Das wollen die Docs überhaupt nicht tun, stapfen zum Auto und fahren los. Nach, ja richtig, Rostock, zum Hafenkontor.
Dass Autoraser den Frieden nicht im Schilde führen, wird ein ums andere Mal klar. Angst, Wut, Ungeduld – die emotionalen Ausläufer des stürmischen, menschlichen Innenlebens werden bestens wo zur Schau gestellt? Auf einer Bundesautobahn. Nicht an der Raste Linum-Nord, wo es im McDonalds wirr und quakig zugeht. Wo im Labor ausgeheckte Essensverbrechen feilgeboten werden. Und, das ist das perfide daran, auch noch schmecken. Nicht immer, aber heute. Auf Tour geht alles. Bloß, dass die Sanifair-Verbrecherbande auch in Linum-Nord ihr 1-Euro-Unwesen treibt, schmälert den Genuss. Früher konnte man ja wenigstens die Gegenwert-Coupons gegen Genusswaren des minütlichen Bedarfs tauschen, und zwar so viele, wie man gesammelt hatte. Heute wird nur noch einer angenommen. Für zum Beispiel Kaugummis, die dreimal so viel wie in der Kaufhalle kosten.
Ein letzter Stau, in wartender Akzeptanz verbracht, liegt hinter den Erben Pratajevs. Bis die Unterkunft, das Hotel Sportforum an der Kopernikusstraße, mit Blick auf die ehrwürdige Eishalle und aufs Hansa-Stadion, erreicht ist.
Nachdem eine Fußballmädchenmannschaft (alle so um die 15) eingecheckt hat (zwei männliche Trainer um die 30: nicht zu beneiden), geht’s nach ein paar Kugelschreiberstrichen per Aufzug auf die Zimmer. Einmal volltanken in der Schlaftankstelle, der Abend wird hart genug.
Zwei Stunden später steht der Tourgolf vorm Hafenkontor. Treten die Docs, gewandet wie zwei schwarzgekleidete Action-Figuren aus der Mattel-Familie, ins heilige Rumreich. Tja, ChatGPT-App. Da guckste. Maestro Frank „Mr. Kuba“ Schollenberger wird sogleich geherzt, Hafenbräu an der Schnapsbar ausgeschenkt, Rostocks frivolster Ostseerock-Bühnentechniker ist bereits im Flow, versprüht eine Prise Action, bittet wohlmeinend zum Soundcheck. Sehr gerne geschehen.
Techniker, die nicht versuchen, Albert Einstein zu widerlegen, sind eben die Besten. Eine deftige Klöpschen-Suppe, Salate, Brote und Kaltgetränke gibt’s als Lohn, Lothar von den Ölmützen steht im Saal; noch wenige Minuten sind’s bis die Tür sich öffnet. Darauf zwei Rum-Tonic, das Hafenkontor füllt sich, draußen möchte niemand mehr frieren.
Pichelstein sinniert im Backstage, Makarios wirft sich unters Volk, beide treffen sich rauchend wieder. Gibt viel zu erzählen, schön, dass die meisten vom letzten Jahr, aus den Ostsee-Konzertjahren zuvor, wieder an Deck sind. Da kann nichts schiefgehen, das Intro läuft bereits. Mit unverwechselbar warmer Stimme legt Makarios los, Pichelstein drischt in die Stahlsaiten. „Da hält der Wind den Atem an!“
Es wird ein wunderbares Konzert, ein lautes, ein Tagschönmach-Abend nimmt Gestalt an. An der Bar raunt der Keller zum Schnaps: „Ich mach dich kalt.“ So als Idee, vielleicht raunt er was völlig anderes, trägt aber streng dafür Sorge, dass die Docs auf der Bühne nicht verdursten.
Tablett um Tablett erreicht den Mittelpunkt des Hafenkontors, wenn nicht gleich der Welt, um es mit Element of Crime zu sagen. Die Docs segeln durchs Set, nehmen zwischendurch Wünsche auf, im Gegenzug muss mitgesungen werden, was bestens gelingt. Schweißnass geht’s vom Ring in die Pause-Sause, nach draußen, wieder nach drinnen, ins Backstage, auf die Bühne.
„Der Baffe“ wird sich vorgeknöpft, leitet den Fetisch-Block ein. Mittenmang folgt ein kleines Sitzkonzert, wie neulich in Dresden erdacht. Um dann, mit vollsten Kräften das Tempo anzuziehen. Beim „Biber“ gilt kein Tempolimit mehr – und danach (oh was?) sollen die Docs ein Lied über Nacktschnecken vortragen. Über böse, allesfressende Nacktschnecken.
Der Gedanke ist sehr gut. Vielleicht gibt es bereits eine Pratajev-Lyrik darüber. Mit dem Einwand, das mal zu beforschen, hämmert der Taktstock weiter, wird vor der Bühne stanz-getanzt, selbst Pirouetten sind zu sehen. Und eine Schnapsbar. Verfolgt von einem ersten Zugabeblock, der zur nächsten Schnapsbar führt. Bis irgendwann das scharfe Schwert Abschied niederrasselt. Gäbe es einen Bühnenvorhang, würde es von diesem Sternenstaub regnen. Danke, liebe Seemenschen, danke lieber Mr. Kuba.
Bilder: Frank Schollenberger
Rasch noch ein ölschwarzes Guinness (486)
Ein Freitagnachmittag, wie er im März-Buche steht. Die tief stehende Sonne gibt sich wahrlich Mühe, doch Kälte obsiegt. Doc Pichelstein quält sich durch den aufgebrachten, hupenden, insgesamt verrückten Stadtverkehr von Süd-Ost nach Süd-West. Freudig und beglückt wird Doc Makarios eingesammelt; nichts wie raus aus Leipzig, next stop Tankstelle - auf zwei ehrlose Knacker kurz vor Wittenberg. Ein traditionelles Frühjahrskonzert steht an, wie immer im Irish Harp Pub an der Collegienstraße. Kurz vor Eröffnung der Spargel- und inmitten der glitschgefürchteten Krötenwanderungs-Saison. Man erkennt es an den kilometerlangen, grünen Folienaufstellern am Straßenrand.
Wirt Jens samt Barpersonal sorgen für fließende, irische Getränkeströme. Während Pichelstein die Bühne herrichtet, schreibt Makarios im schlippen-gegenüberliegenden martas Hotel Lutherstadt Wittenberg die Docs ins Zettelwerk ein (Warum nicht ins Goldene Buch?). Draußen knattern abgewetzte Plastikrollkoffer über den Kopfstein. Menschen, die gerne mit derlei Ungetümen lärmen, werfen auch Sonntagsmittags Rasenmäher an. Menschen vom Stamme Ich, das sind die schlimmsten. Es fällt ihnen nicht mal auf. In ihren Leben passieren noch weitaus schlimmere Dinge. Für die andern. Doch lassen wir es dabei. Sehen der Sonne beim Wandern zu, während alle mit dem Soundcheck reichlich zufrieden sind.
Das Pub füllt sich, Pratajevs Epigonen schütteln Hände, begrüßen freudig Gäste. Darunter viele Evangelen auf den Spuren Luthers, vom magischen Doctors-Fensterplakat mit dem Label „Schnaps und Weiber“ angezogen. Mitten in der Fastenzeit. Halleluja. Dazu muss man wissen: Evangelen fasten nicht, weil sie sich dazu verpflichtet fühlen, sondern freiwillig. Damit liegen sie auf einer Linie mit Martin Luther, der selber fastete, sich aber gegen einen vorherrschenden Zwang zum Fasten aussprach: „Kein Christ ist zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet.“ Ja, verdammt. Kein 11. Gebot: „Du sollst fasten.“ Vielleicht taucht es irgendwann auf. Wie ein 12.: „Du sollst Freude am häufigen Geschlechtsverkehr mit wem oder was auch immer haben.“ DAS würde die Konkurrenz von der katholischen Kirche keinesfalls gutheißen. Welche Schmach für keusche Popen. Die soll es ja auch geben.
Wen es noch gibt, ist Pia. Tatsächlich. Nach jahrelanger Enthaltsamkeit tritt die einstige Schwesternschülerin der Docs wieder ins Licht. Für all jene, die bereits früher bei wilden Doctors-Ritts im Irish Harp zugegen waren, ein schönes, ein nahezu pastorales Bild der Erinnerung:
Natürlich: Auch heute hat Pia ein Stethoskop dabei. Nicht nur Herzen werden damit abgehört. Rasch noch ein ölschwarzes Guinness, dann geht’s los mit der Bühnenarbeit. „Da hält der Wind den Atem an!“
Makarios wirft mit einer Stimme, die Bass-Saiten zum Klingen bringt, beste Pratajev-Würste auf den Rost. Gitarrenvasall Pichelstein sekundiert gewohnt fix. Profunde Docs-Kenner stehen sich vor der Bühne in den Schuhen. Sogleich wird mitgesungen, auf Bänken und Stühlen gewippt, als wäre der Zugabeblock bereits in Schlagweite. Doch so weit ist es lang noch nicht. Schippe für Schippe legen die Docs Songs wie Anekdoten drauf. Er war eben kein literarisches, kein musisches Leichtgewicht, der S.W. Pratajev, von dem wie immer die Rede ist.
Die Konzerte im Irish Harp sind in jedem Jahr anders, mal besinnlich, mal von großer Feierei geprägt. Letzteres ist heute Trumpf. Und sie sind zusammenführend, oh ja! Schon viele Liebende erfanden sich unter Titeln wie „Tote Katzen“ oder „Auch die Ratte hat ein Herz“ und gaben sich das „Wir-Wort.“
Nach der ersten Schnapsbar, in der Frischluft-Pause, outen sich erneut zwei glühende Menschen. Vor sieben Jahren führte sie der „Schlips aus Lurch“ im Irish Harp zusammen. Doc Pichelstein beeindruckt sowas immer; er schenkt gleich ein signiertes Feuerzeug her. Doc Makarios fällt darunter (wie so oft) nur ein knappes, raunendes „Siehste“ ein.
Weiter geht’s mit dem zweiten Block, den ein angereister Zwickauer – zwecks Erreichen eines letzten Heimatzuges – zu spät verlässt. Der Grund liegt auf der Hand. Ein „Gärtner“, der smarter kaum gespielt wurde, ein „Imker“, der die Bienen liebt, ein „Käferzähler“, eine „Schwimmerin“ … viele mitsingbare Wesen bereichern das Set, Tiere, manche tot, manche glücklich. Irgendwann muss man doch die Beine in die Hand nehmen und später am Wittenberger Bahnhof feststellen, dass da wer an der Uhr gedreht hat. Zug weg, macht nichts, retour zum Pub auf ein paar Zugaben und „Tasche auf, Tasche zu“ gebrüllt. Ein „Löcher im Strumpf“ hinterher. Bis die allerletzte Schnapsbar dem Bühnenwerk ein Ende setzt. Um es mit einem berühmten Comic final zu sagen: „Heute ist nicht alle Tage; wir kommen wieder, keine Frage“.