Destilliertes Pratajev-Parfum (477)

 

Ein gewiss am Fenster abgeseilter, früher Hahn kräht die Doctors wach. Was schlecht wie gut zugleich ist, geht’s doch heute in aller Mittagsfrühe weiter nach Dresden, zum 15 Uhr-Konzert, zum Elbhang, zur Grottenwirtschaft. Also: Nicht gerade Funken sprühend aufstehen, Kaffee, Gitarre besaiten, Kaffee, Pulled Pork-Frühstück, Auto beladen, Navi einschalten, viel Dankbarkeit im Winken und losgezockelt.

 

Nach vierjähriger, nicht grundlos geschuldeter Abstinenz, endlich wieder Elbhangfest. Wie immer und ohne Verfallsdatum dabei: wechselhaftes Wetter. Eben noch sonnig-schwül, prasselt alsbald ein erstes Regenschauer aufs Autodach und zieht weiter Richtung Süden. Hinter der sächsischen Landesgrenze: eitel Sonnenschein. Pichelstein lenkt den Tourgolf hurtig über Stock und Stein, schließlich zur finalen Tanke, wo es Bockwurst gibt, Rauchwaren- und Cola-Vorräte aufgefüllt werden. Noch rasch ein paar Serpentinen nahe des Fernsehturms (aka: Asbest-Denkmal) gedreht, schon ist das Ziel nah. Es lautet: Pillnitzer Landstraße 167. Es locken: Kaltgetränke aus King Hendriks Hand, Schmalzschnitten dazu. Hallo, liebe Grottenwirte!  

 

 

Auf der Bühne wird mit feinsten Gitarrenklingen rockbarockt, „Wheft“ stehen bereits vor der Zugabe. Heiß ist es, ein kleines Lüftchen weht. Tropisch wäre übertrieben, aber eben heiß, schwül und nicht minder schweißtreibend. Der für den Nachmittag angekündigte Starkregen lässt auf sich warten, Glück für die Doctors, so viel sei vorweggenommen.

 

14:30, Soundcheck, das Gelände füllt sich. 14:45, Ende Soundcheck (keine Zangengeburt, danke an die Technik). 15:00, Intro läuft, pickepacke voll ist’s, die Menschen reiben sich aneinander und erhitzen. Makarios legt mit großen Kammertönen los: „Da hält der Wind den Atem an“, Pichelstein sekundiert leichtfüßig auf dem Erlenholz. Ein Konzert, von dem man ganz zu Anfang weiß, dass es ein sehr gutes wird. Ohne Pause noch dazu.

 

 

 

Schiere Liebe tut sich auf, knopfdruckartiger Applaus, herrlich, im einführenden Landleben-Block muss bereits Zapfhahn-Schwerstarbeit verrichtet werden; der Sprung vom Nachmittagskaffee hin zur bezechten Fröhlichkeit ist das Ziel. Es sei denn, man wurde als Fahrer bestimmt, hat Augen auf Kinder zu werfen, dann geht auch Radler. Oder, in der gesteigerten Form: Lastenradler. Je schwerer, je sperriger das Gerät, desto grüner das Gewissen. Wobei den meisten klugen Menschen Lastenradler viel sympathischer sind als Rennradler in ihren atmungsaktiven, neonfarbenen Poser-Pellen.        

 

Die Docs laufen zu voller Größe auf, schnabulieren vornehmlich Sprudelwasser, auf Schnapszufuhren wird verzichtet. Kollabierte just gestern an selbiger Stelle ein Musiker, dem die Verkettung von hochprozentigem Alkohol und drückender Hitze erst kurz vorm Nirwana aller Lappalien, sprich: im Krankenwagen, bewusst wurde.

 

 

 

Nach Pichelsteins erneut erfolgreichem Weltrekordversuch im Schnellgitarrespielen befinden wir uns mittlerweile am Ende des Kulinarik-Blocks. Wer Pratajev mit Gewinn gelesen hat, weiß, was jetzt kommt, die Holzlöffler-Fraktion wedelt ihn schon, den „Löffel aus Holz!“ Klatschende Anerkennung dafür. Bestens bei Gitarren-Stimmung und Stimme geht’s weiter. Makarios schickt Pratajev auf Reisen. Der letzte, der mitkommt, ist nach dem „Gärtner“ „Der Wanderer.“

 

Durchpusten. Jetzt: Hit an Hit im Speedy Gonzales-Turn, „Tote Katzen“ (mit dem Chor der Elbhanggäste, prämierter Vorsänger: Eademakow), „Schlips aus Lurch“, „Auch die Ratte“ und so weiter und so glücklich wie durchnässend. Ja, der Schweiß rinnt den Docs nur so aus den Poren. Wer möchte, könnte daraus ein großartiges Pratajev-Parfum destillieren.

 

Was Helene Fischer 2018 mit „That’s me“ auf den Markt spülte und (Zitat) „Konsumenten in die ganz persönliche Duft-Welt Fischers entführen soll“ möchte bei den Russian Doctors doch wirklich machbar sein. Am Ende vielleicht noch etwas Becherovka hinzufügen, einen Hauch Wodka Bulbash. Und Honig! Aber nur aus Pirna, den von Kerstin und Ronny, die heute samt Gefolge auch da sind. Hallo!  

 

 

 

„Ich muss raus an die Schnapsbar“ - die vorgegebene Spieluhr ist abgelaufen, die nächste Band scharrt mit den Hufen, Unwetterzellen nähern sich, aber nur um wenige Zentimeter. Eben wollten die Docs noch von der Bühne, klappte natürlich nicht. Jetzt muss es schnell gehen, Zugabewünsche werden eingepackt, brodelnd motiviert geht’s los mit dem „Gelben Schnaps“, der in „Als das Eis kam (so plötzlich)“ übergeht. Letzte Zuckungen bei: „Geh Heme meine Kleene“, bei der Walzerschnapsbar. Das waren die Russian Doctors!

 

Makarios eilt zum Merchstand, Pichelstein räumt die Bühne frei. Danach: Mit viel Sitzfleisch und Durst ausgestattet nichts tun und aufs Unwetter, den Regen warten, grottenschlechten Fußball-Engländern alle EM-Daumen drücken.  

 

Stunden später, England gewann mit viel Dusel, der Elbhang trieft und tropft. Ein Taxi zur Unterkunft muss her, die Pillnitzer Landstraße mit Füßen zu durchmessen, danach steht ermatteten Doctoren nicht der Sinn. Kein leichtes Unterfangen, Hendrik scheitert an der App, ein Anruf bei der Zentrale bringt altbackene Erfolge, frohgemut steigen die Docs in den Mercedes, der Fahrer nattert vor sich hin.

 

Am Seiteneingang des Hotels „Am Blauen Wunder“ werden die Zahlen 1311, wie vorgegeben, am Schlüsseltresor zügig eingegeben, wird die Raute-Taste gedrückt, das Fach für Zimmer 311 öffnet sich. Es lebe der Nachtzugang. Morgen wird es mit dem ÖPNV noch einmal zur Grottenwirtschaft gehen, Abschied von den Wirten nehmen. Dann geht’s über Tschechien (kleiner Einkauf) heim. Laut wird dabei gesungen - ein Lied der Kati Kovacs: „Wind, komm, bring den Regen her" (Sonne brennt heiß und durstig ist das Land ...)

 

 

Fotos: Maria Singrobär, Thomas Matthes, Grottenwirtschaft

 

Wer nie vom Schönen je vernahm, vermisst nichts (Peter Hacks) (476)

 

Ein blitzeblauer Backofenhimmel ist sonnig aufgespannt, die Demse erinnert Doctor Pichelstein an lang zurückliegende, reichlich sinnfrei durchlittene Asienurlaube. Auf der Straße am Büro liegt eine von Fliegengeiern eroberte, überfahrene Ratte. Nützt ja nichts, auf geht’s zum 2. Geburtstagskonzert des Bunten Salons in den Landkreis Dahme-Spreewald, genauer nach Birkholz.

 

 

 

Pratajevs musikalische Geheimräte nesteln sich für alle Fälle und Umleitungen das Navi zurecht. Schließlich geht es über die unfallbedingt oft gesperrte Organspender-Bundestraße 87. Pünktlich, ohne Zeitstress, mit Pause am Tankstellen-Knackerstopp. Ergo: Lieber locker am Ende eines Traktorengespanns kleben, als zum Baumsnack werden. Hinter Herzberg, wo Schlagersängerinnen aus Gräbern kriechen, sich Perücken, falsche Nägel und (nach Art Raymond Chandlers) Augenbrauen vom Bürstenfabrikanten ankleben. Um nach dem Arschbombenwettbewerb beim Neptunfest (gibt es wirklich, findet im Juli statt) ins ausgeschaltete Mikrofon „Mein Herz schlägt Schlager“ zu lügen.

 

Die Autobahn 13 bietet blickreiche Erlösung. Gleich hinter der Abfahrt Märkisch Buchholz sind erste Brandenburger im Rudel zu erspähen. Gemütliche Vorberliner, die sich Samstagnachmittags im Heckenschneiden und Rasenmähen ergeben. Trotz Klimaanlage hat es im Tourgolf gefühlt 35 Grad, man möchte in einen See springen, doch ist die Gefahr zu groß, von Mückenschwärmen gefressen zu werden. Die Mission Bunter Salon hat Priorität, erst recht, da die Zauberwelt der Pilze noch geschlossen ist. So darf Pichelstein ohne angewiesene Messerling-Makarios-Stopps weiterfahren.

 

 

 

Letzte Kopfsteine werden weggemetert, Autotüren aufgerissen, Kalf und Chrissi stürmisch begrüßt. Birkholz soll heute Herzberg oder Birkholz mit Herz heißen. Angereichert mit teuflisch leckerem Pulled Pork, was es nach dem dritten Kaltgetränk später geben wird. Doch zuvor. Ja zuvor gilt es die angelieferte Anlage zur Beschallung des Publikums fachgerecht durchzuschalten. Minutiöser wird’s strapaziöser mit der Oldschool-Technik, der arme Kalf greift zum Beruhigungs-Joint. Merke: Wer kifft, vergisst die Axt. Und ist wenig später mit lohnenden Gedanken zurück im Spiel. Take a Pause. Wenn schon der Soundcheck nicht klappt, wird eben gespeist. Königsberger Monsterklöpse! Was für eine Wonne! Der selige Pichelstein schafft kaum die Hälfte des Tellers, Makarios immerhin ein bisschen mehr. Blende zum glücklichen Sound-Ende: Der Besitzer der Anlage tritt irgendwann sichtbar zu Tage. In einem großen Auto mit Kennzeichen München rollt er an. Zuvor leckte er stoffgebundene Wunden, ruhte, ging nicht ans Telefon. Weil dickdenkende Techniker niemals früh am Abend aufstehen. Vor allem, wenn die vortägliche Zufuhr synthetisch-chemischer Verbindungen aus der Stoffgruppe der Phenylethylamine daran Schuld trägt.

 

 

 

Mit eigenartigen Pupillen umschleicht er in sommerlicher Klamottierung die Anlage, aus der mittlerweile tatsächlich Sound strömt. Der Knopfdreher- und Umsteckerderwisch hat sein Werk getan. Nur gehen will er nicht. Denn die Natur des Techniker-Schlawiners liegt darin, Sound zu perfektionieren. Das kann Tage oder Jahre dauern. Manchmal ein ganzes Leben. Supersound muss her. Selbst, als die Docs bereits mitten im Konzertsaft stehen: Staunende Zurkenntnisnahme, der knopfdrehende Techniker ist nicht zu bändigen, wuselt auf der Gartenbühne herum, es scheppert aus den Monitoren, piept aus den Boxen. Makarios macht dem Treiben ein Ende, Kalf legt Handschellen an und führt den Techniker stracks zur Schnapsbar. Urteil: Gut gemacht, dafür gibt’s hier lebenslänglich.

 

Erleichtert zieht Pichelstein auf der sechsschüssigen Gitarre intuitiv das Tempo an. Chrissi schlägt ein imaginäres Rad, die Menschen im Rund sind früh aus dem Häuschen, Wodka wird zur Bühne gereicht, herrlich ist das Brandenburger Landleben. Der Schweiß tropft, fließt, gereichte Frottee-Handtücher lassen sich rasch auswringen. Pichelstein greift zwischen den Liedern sogar zur Wasserflasche. Und das will was heißen!

 

 

 

Ein erstes Set mündet nach knapp über einer Stunde im Fetischblock, in der ersten „Schnapsbar". Brandenburg leuchtet zwar noch hell, die Dunkelheit aber wird kommen. Scheinwerfer müssen her, LED-Lichter. All das bietet den Stechmückenschwärmen Orientierung. Chrissi hat Anti BRUMM dabei. Das einzige Zeug, was den Menschen wieder ans verdiente Ende der Nahrungskette katapultiert. Und nicht das gemeine Schnellimbiss-Rüsselvolk.  

  

 

 

Just, als die Deutschen Dänemark aus dem EM-Turnier fußballern, geht’s weiter. Recht kommod und sorgenfern werden vor der Bühne Tänzchen aufgeführt. Dem textsicheren Eademakow schließen sich viele stimmgewaltig an. Beim „Gärtner“ geht’s majestätisch zu, der sirenhafte Chor der „Toten Katzen“ wird ausgezeichnet. Mit „Geh Heme meine Kleene“ versuchen klatschnasse Docs erstmals von der Bühne zu fliehen. Klappt nicht, die nächste „Schnapsbar“ schließt sich an. Unter bereits raspelnden Stimmen gibt’s den „Faulen“ um die Ohren, „Löcher im Strumpf“ und vieles mehr. Schließlich reißt Makarios die Schlussworte an sich, sie lauten donnernd: „Das waren die Russian Doctors!" Mancher Mundwinkel treibt strahlend den Ohren zu. Ein weiterer Birkholzabend wird ins Schatzkästchen der Erinnerung gelegt und aus seinem Grabe knöttert Peter Hacks: „Wer nie vom Schönen je vernahm, vermisst nichts.“

 

In den frühen Morgenstunden nehmen die Docs nacheinander Logis im gegenüberliegenden Stallhaus. Ein letzter Schluck noch, ein Spritzer Wasser, und gut ist.

 

 

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