Hurra, das ganze Dorf ist da (490)
Kurz nach Beginn der astronomischen Sommerzeit zeigt die Sonne schon mal kräftig, was alte Feuersäcke in 150 Mio. Kilometern so draufhaben. 10 hoch 26 Jahre (eine 1 mit 26 Nullen) soll es noch dauern, bis der rot-gelbe Riese Feierabend hat und die Erde unrettbar verloren ist. Spätestens bis dahin wird der russische Dichter S.W. Pratajev allseits berühmt wie bekannt sein, stehen Denkmäler auf dem Mars und im Harz, sind fremde Galaxien nach ihm benannt worden. Heute müssen wir uns noch mit weniger bescheiden, doch dass Pratajevs Botschaften weiterhin unbedingt in die Welt hinausgehören, dürfte jedem klar sein. Und deshalb machen sie sich auch heute wieder auf den Weg, die Russian Doctors, Erben des großen Meisters. Bei gefühlt 45 Grad im Tourauto, zunächst nur mit Doc Pichelstein besetzt, der im Baustellenstau steht, den das Navi immer wieder in die Irre führt, der vom Doc Makarios beherzt ins Zwischenziel Schleußig gelotst wird.
Durchatmen, an der Cola saugen, schnell noch ein Stopp am Lindenauer Büro zum Merch tanken, dann ab auf die Piste Richtung Bad Lausick. Der Ortsteil Lauterbach ist das Ziel, wo es im Dorfgemeinschaftshaus großes zu befeiern geben wird. Kurzum: Kristian Wilfridowitsch Siverski, Mitglied der Pratajev-Gesellschaft mit der Nummer 81, Funktion: Politkommissar, begeht einen 50-plus-Geburtstag. Oder, wie die Amis sagen: „So what, Dude is 50-Something“.
Je kleiner die Gemarkung, desto eher verfährt man sich darin, steht als kleine Weisheit auf der To-do-Liste der Docs. Was daran liegt, dass in der autointernen Navikarte kein Froschteich verzeichnet wurde, die Straßen alle so aussehen, als hätte sie ein passionierter U-Bahn-Fahrer generiert. Also muss die externe Handy-Navikarte mit dem Autosystem connectet werden – und siehe da: Sowohl der Froschteich als auch das Dorfgemeinschaftshaus tauchen wohlbehalten auf. Der Firma Google sei Dank.
Eingeparkt, ausgestiegen, herzliches Begrüßen inklusive. Da bereits die Anlage zur Beschallung des Publikums aufgebaut ist, kühles Blondes aus dem Zapfhahn fließt, darf der Müßiggang nicht fehlen. Findet auch die Co-Gastgeberin Nina Nikolajewna Gagarina, Mitglied der Pratajev-Gesellschaft mit der Nummer 80, Funktion: Zensorin der Glavlit. Später wird noch im erweiterten Gästepulk Alexander Trotzki, Nummer 18, Funktion: Kommissar für Sabotage und Zersetzung, hinzustoßen. So viele Interna müssen sein.
Als sehr passende Hinstells fungieren wunderbare Kräuterbecher auf den Banktischen unterm angenehm kühlen Zeltdach am Dorfgemeinschaftshaus. Ausstaffiert sind sie mit Devotionalien der Pratajev-Welt, mit kleinen Holzlöffeln, Käfern, Bibern und Schweinen. Um sie herum werden Getränke geparkt; ein emsiges, hochverehrtes Damengespann sorgt dafür. Motto: Der Nachschub naht immer. Genau wie damals in Miloproschenskoje, etwas näher gedacht: Wie in den urigen Kneipen im Prager Stadtteil Žižkov.
Wohl bekommt’s, darf zur Soundcheck-Offensive erwähnt werden. Pichelstein zerfließt bereits nach wenigen Anspielen, also nichts wie zurück zu den Kräuterbechern, warten aufs Buffet, während die Zeltgemeinde zahlreicher wird. Man könnte auch, jedenfalls sehr positiv gemeint, den alten Gassenhauer „Hurra, das ganze Dorf ist da“ anstimmen. Bis das Wasser aus dem Munde, respektive der berühmte Zahn tropft. In Erwartung von etwas Leckerem, das justament vom Caterer durchs Fenster zur Großküche gereicht wird.
Wie das duftet, das rollende Auge isst bereits mit. Schnell noch einen Aperitif, natürlich einen Richard Bahner Kräuterbitter, dann das Go! mit feiner Rede des Gastgebers. Einmal bitte alles mit allem, vom Sparferkel über die Lachsplatte zum Nachtisch und zurück.
Reichliche Kalorien später stehen die Docs auf der Flachbühne, spielen sich in die Herzen und Kehlen der Menschen. Makarios dirigiert Pratajevs Leben, den Soundtrack des großen Dichters. Schweißbruder Pichelstein schwebt über den Saiten. Ein Festival der Körperflüssigkeiten, ein Gelage nimmt seinen Lauf. Bald schon tanzen erste Werktätige, klatschen verdiente Pensionäre, der Bahner fließt. Wäre ein gerühmter Maler hier, ließen sich manche Kunstgriffe bald im Louvre bewundern.
In der Pause lassen sich ausreichend Elektrolyte nachfüllen, werden ultimative Forscher-Fragen in Sachen „Schleim am Arm“ beantwortet. Es folgt der zweite Konzertblock, in dem sich Pichelsteins brutale Einzelleistungen auf der Gitarre mit Makarios‘ Gesangsvolumen als akustische Umarmungen paaren. Noch ein Bahner, noch eine „Schnapsbar“, Zugaben donnern aus den Boxen. Vom „Rotarmisten“ über die „Tasche“ bis zu den „Löchern im Strumpf“. Manche Hits müssen aufs Neue gespielt werden. Für jene, die später kamen, weil die Versorgung von Schweinen, Rindern und Federvieh noch gewuppt werden musste.
Ende. Mehr geht nicht. Die nassen Bühnenhandtücher könnte man locker auswringen. Nichts wie zurück auf die Bänke, zu den Kräuterbechern, wo die Docs zunächst ein sehr gelungener Vortrag über Schweinezuchtkunde fasziniert. Bevor sie ein weiteres Mal, diesmal unverstärkt, ran müssen. Pichelstein schraubt den Koffer auf, holt die Erlenholzige hervor, Makarios stimmt an: „Geh Heeme meine Kleene (…)“
Gefühlte Stunden später wartet der Shuttle-Bus. Eine größere Gästeschar sitzt bereits drinnen, Pichelstein wird als letzter gerade noch so eingesammelt. Das Ziel ist nahe, nur ein bis drei Dörfer weiter leuchtet schwach in der Nacht der Kastanienhof zu Etzoldshain. Angetütert werden letzte Stufen des Tages erklommen, letzte Kippchen verzehrt. Dann muss manches Runde ins Eckige, jedenfalls frisch geduscht ins wohlige Bett. Bei weit geöffneten Sommernachtsfenstern und die Grillen zirpen dazu.
Fotos: Dank an Ulli Brückl & dem Gastgeber