Ärzte ohne Bremsen (484)
Die Jahre wüten durch die Lande, schon ist Weihnachten 2024 beinahe wieder vorbei. Um dem Abriss eine würdige Rauhnächte-Note zu verpassen, geht’s für die Docs heute erneut in die ausverkaufte Stallwache. Anlass: Frank The Tank, der Wodkalord reinsten Wassers, bittet zu den 5. Bulbash-Masters. Eigentlich gemeinsam mit Gastleser M. Kruppe geplant, doch der erwies sich kurzerhand als zu schwach auf der Zunge und somit als entschuldigt unpässlich.
Pichelstein rollt den Sportgolf über den vernebelten Westwerk-Fußgängerweg. Junge Sektmenschen aus vielleicht Stuttgart, also mit rein touristischem Migrationshintergrund, hüpfen zur Seite. Sie alle tragen wollene Eierwärmermützen (Kopf bedeckt, Ohren frei, weil man das bei Minusgraden so macht) und sehen unfreiwillig drollig aus. Rasch wird die Backline mit freundlichster Pirna-Hilfe über den Innenhof Richtung Wache geschleppt. Warum das heute so ist, weiß bereits die Polizei. Das von Richtern oft belächelte Räuberunwesen macht vor nichts Halt. Nur kommt es eben nicht so leicht durch Stahltüren, wie durch jene in der Stallwache. Ärgerlich nur, dass auch verbogene Türen ersetzt oder zumindest repariert werden müssen. Letzteres geschieht zwar gerade, dauert aber noch. So ist der Weg über die Innentreppe das Ziel.
Noch ein kommareicher Ritt über das Räuberwesen: Das Gute ist sich selbst genug, das Böse beständig unterwegs, um das Gute zu bestehlen, wenn nicht gar schlimmeres dabei rauskommt. Und: Da sich das Abhacken der rechten Hand, wie es die Hadd-Strafe für Diebstahl in den Koransuren vorsieht, in Leipzig-Plagwitz noch nicht durchgesetzt hat, gilt zumindest (beim Erwischen auf frischer Tat): Goethes Faustrecht.
Pichelstein parkt und verlässt den Sportgolf nicht ohne weitere Hindernisse. Ein räudiger Hund, einer Klobürste ähnelnd, knurrt. Ein dran ziehender, indolenter Gossenmann-Fashionista mit Wursthaar auf dem Dreadlocks-Kopf, macht ein Gesicht wie ein alter Dielenboden, wünscht „Frohes Fest“ und verlangt dafür zwei Euro. Was bleibt, ist die stete Hoffnung, dass es Satire ist. Wie bei „Bauer sucht Frau“, wenn der Güllebaron der Hofdame auf die Pelle rückt. Aber auch das ist keine Satire, sondern ein bluternstes RTL-Format. Jetzt aber rein zum Bühnenaufbau, zum reichlich verdienten Start-up-Kaltgetränk.
Teamwork makes Dreamwork, Frank The Tank schafft die Anlage heran, Makarios und Pichelstein brüten lange im Endstufe-Boxen-Leistungskurs. Letzthin ist es mal wieder der eine Knopf im Schalterwerk, der zuletzt gedrückt zum Ziel führt. Dem folgenden Soundcheck wohnen anzeigeaufnehmende Polizisten aus bereits genannten Gründen bei. Das gab es bisher auch noch nicht. Alle haben Spaß, am Ende wird sich ein tolles Konzert, ein schöner Abend gewünscht. Die Bühne steht, Barmaid Paula mit der Lizenz zum Begeistern, schenkt nach, halb voll ist’s bereits im Rund, leise Musik glimmt wie ein akustisches Lagerfeuer auf den Trommelfellen.
Geschenke! Es gibt so viele Gäste-Geschenke wie lange nicht an einem Konzertabend. Das muss an Weihnachten liegen. Die Auswahl reicht von selbstgeschaffenen Keksen, ebensolchen Marmeladen über Honig von Pirnaer Bienenvölkern, einer Comeback-LP (davon gibt es ja einige) von Howard Carpendale, eingeschweißtem Speck (nachgereicht wurden Ursprungsbilder glücklicher, recht haariger Säue in artgerechter Haltung), Glühwein von der Hirschberger Drogerie Bahner bis hin zu gerahmten Fotos. Vielen Dank an dieser Stelle, die mit folgender Tagebuchlyrik Helga Bauers gefeiert werden soll: „Das Leben ist bloß eine kurze Reise, genieße sie, wann und wo auch immer. Doch denke stets daran: Nimm alle Geschenke mit nach Hause.“
Proppenvoll ist schließlich die Stallwache, manches Wodkabrett schon nicht mehr. Alle halten sich schadlos, viele an der Bar, um sich von Paula einen guten Schlag eingießen zu lassen. Ein Mann mit barocker Erscheinung ruft pfeiferauchend, mit überschwappendem Glas: „Ärzte ohne Bremsen, los jetzt hier.“ Gesagt, getan. Da zuckt kein Nerv, kein Muskel, da ist alles fokussiert; Doctoren schauen traulich in die Runde, Pichelstein greift mit Schmackes in die Saiten: „Da hält der Wind der Atem an!“
Ein Konzertabend wie geschnitten Brot, innen fluffig und außen gut bei Kruste, nimmt seinen Lauf. Makarios gibt Pratajevs Chroniken zum Besten, pfannenfertig serviert Doc Pi. passende Akkorde dazu. Geboten wird das, was alle erwarten: Mitsingbare Weisen zum Tosen, zum Beklatschen. Vom Landleben über die Kulinarik bis zum Medizin- und Fetischblock werden Phantasien auf Reisen geschickt. Zwischendrin schult Frank The Tank auf Bombastico-Bühnen-Lieferando um. Wodkagläser scheppern aneinander, nützt ja nichts, runter mit dem Promillewasser. Knappe 1,5 Stunden geht das bis zur ersten Schnapsbar so. Dann ruft die bestuhlte Geschenkeecke neben der Bühne. Versonnen blicken die Docs drein und wappnen sich für die nächste Spielerunde.
Nach dem Päuschen übergibt Makarios das Zepter dem Experimentier-Direktor in Sachen Öl, Acryl, Leinwand: Jasper Fryth. Die Versteigerung der restlichen Originalwerke des doctoresken Jahreskalenders 2024 – samt schwesterlich-schwarzem Stuhlweitblick auf eine junge Opernheldin – steht an. Mit einer Familienpackung Entschlossenheit wird zugegriffen; das Hauptwerk mag indes bald in Pirna zu bestaunen sein.
„Fürchte dich nicht vor der Flasche“ – weiter geht’s mit kontrolliertem Übermut, der fürs Erste in einer brutalen Pichelstein-Einzelleistung bei der „Harten Wirtin“ mündet. Damit nicht genug. Selbst beim „Gärtner“, bei den „Toten Katzen“, beim „Biber“ gehen die Soli-Zäpfchen ab und paaren sich mit Makarios‘ Gesangsvolumen als akustische Umarmungen.
Schnapsbar, die Zweite! Zugaben, die Erste! Es reicht allerdings nur noch für „Geh heme meine Kleene“ – dann ist das Bühnenleben nach mehr als zwei Stunden ausgehaucht. Es folgen schönste Gespräche, leckere Paula-Drinks. Bis es Zeit ist, die Biege zu machen. Für die Bereitstellung eines Nebel-Taxis müssen keine Stoßseufzer ins Telefon entlassen werden, die Zentrale ist gleich dran, der Wagen wartet vor der Wache. Wo es knapp über den Köpfen der Stadt knallt und scheppert. Ja, die kriegsgeilen Vor-Sylvesterböller-Neunmaldummen, mutmaßliche Helden einer untergegangenen Männerwelt, gehen bereits seit Tagen ungestraft steil. Des Teufels rußiger Bruder, ein stets besoffener Handchirurg mit dem Spitznamen „Zeigefinger des Todes“, möge sie alle holen.
Fotodanke: Ronny Schneider, SEB, Paschka Parlierowna