Das große Trommelfell-Trampolinspringen (482)
Rotgelbe Abendsonne ergießt sich wie ein Krug Tequila Sundown über Leipzig, bald schon schenkt der Herbst frühe Dunkelheit, wenige Stunden sind es bis zur Zeitumstellung. Das 482. Konzert führt die Docs zu einer alten Bekannten, der ehemaligen Centralhalle Gaschwitz, heute: Reuters Radlerhof. Im Laufe des Jahres 2017 rief man die Pratajev-Bagaluten gleich dreimal hierher. Wobei vor allem das 8. Pratajev-Sommerfest im August unvergessen bleibt. Sowie auch ein Nachkonzert-Unglück im März. Als Doctor Pichelstein den direkten Weg in die Dusche folgenreich verfehlte. Satte drei Monate dauerte die offene Wundheilung, würdige Narben am Unterbein zeugen noch heute davon.
Mittlerweile wurde der Lokalität ein gerechter Umbau verpasst, die marode Centralhalle samt geschichtsträchtiger Bühne renoviert. Was noch fehlt, ist eine Renft-Gedenkstätte. Denn hier traten sie auf, die Deep Purple-Schdooons-Steppenwölfe der DDR. Zwischen Liebe, Zorn und stacheligen Rosen. Mit Rock-Blues für kritische Bierglasarmeen abseits aller Staatskünstler, denen es mehr um Schwanenkönige, Perlentaucher oder um die Rettung des Südpols ging. Bis die Leipziger Bezirks-Kommission für Unterhaltungskunst der Gruppe Renft qua Verdikt den Stecker zog. So viel zur Historie.
Heute soll es um Dirk gehen, der kürzlich 50 wurde und sich als Gastgeber mit einem Doctors-Konzert auf Privatrezept belohnt. Gute Entscheidung, da gibt es kein Vertun. Die Backline wird ans Tor gewuchtet, in der Halle sitzt das Party-Publikum bereits auf heißen Kohlen. Einerseits, na klar, weil die Docs bereits angekündigt wurden, andererseits, weil’s Buffet in Bälde eröffnet wird. Kaum fällt der dazu ermutigende Satz, wirft DJ Roy die Beatmaschine an. Los geht’s, das große Trommelfell-Trampolinspringen mit den Hits aus Pop, Rock, Schlager, elektronischer Tanzmusik (was von Renft ist nicht dabei).
Unterdessen verstöpselt Pichelstein die Backline mit der Anlage, Makarios schwatzt den sehr jungen Ausschankdamen Kalttränke ab. Ein kurzer Soundcheck endet in beseelter Zufriedenheit direkt mit einem Aufgalopp zum Buffet, zum Hafen der guten Düfte. Jammjamm.
Als heute einzige Pratajev-Fraktion ist jene aus Lauterbach auszumachen. Das glücksdurchgossene Wiedersehen mit Kristian Wilfridowitsch Siverski samt Gattin Nina Nikolajewna Gagarina gedeiht zum magischen Moment. Was in einer kleiner Randnotiz auch damit zu tun hat, dass sich beide Biberplagenforscher von Krasnagorod erbieten, die Docs nach dem Konzert heimzukutschieren. Zumal an Taxen in den Leipziger Randgebieten, noch dazu an Wochenenden, schwer ranzukommen ist. Als Entschädigung folgt späterhin die Gästelisten-Einladung zum weihnachtlichen Jahresabschlusskonzert in die Stallwache.
Jetzt nur nicht der Verdauung komplett anheimfallen, noch ein Rauchopfer an frischer Luft, dann auf in den Irrgarten Pratajevs. Gegen 21 Uhr scharren die Docs mit den Hufen. Der Theaterdonner, das Intro, bleibt stumm, dafür haut DJ Roy alle kräftig aus dem Sulky und kündigt göttergleich zwei musizierende Russen an. Die lassen sich nicht lumpen und zünden mit „Da hält der Wind den Atem an“ Rakete Nummer eins.
Mit Präzision und Empathie geht’s weiter im „Idyll“, wird unter lebhaften Ehrenbezeugungen des Publikums „Rundblick vom Turm“ gehalten, werden Wodka-Appelle für bare Münze genommen; alsbald stapeln sich leere Gläser auf der Bühne.
Dass Pratajev die gesamte Psychoanalyse ersetzt (danach braucht es nichts mehr), wird spätestens bei der „Katz“ jedem klar und Dirk bekommt mit der „Dorde“ ein sächsisches Geburtstagsständchen gereicht. 75 Minuten werden insgesamt zelebriert, Pichelstein geht darin ab wie Zäpfchen, brutalste Einzelleistungen paaren sich mit Makarios‘ Gesangsvolumen. Strahlend umhalsen sich die Docs nach den Zugaben und geben den Staffelstab an DJ Roy weiter.
Jedem Konzertende wohnt eine gewisse Müdigkeit inne, viele Kaltgetränke werden es nicht mehr, Gruß und Danke an Dirk, ans Publikum, Topdaumen an DJ Roy. Schon zischt ein von Sternen beleuchtetes Auto entlang der Herbstblätterwelt von dannen. Es geht nach Hause. Deswegen fährt man ja auch gerne weg. Um wieder Zuhause anzulanden, wo friedliche Stille waltet. Schön.