Russenpeitsche (264)


Mittags um eins piepst der Weckruf 110; Doktor Pichelstein ist sehr schwach. Wenig später wird tapsig die Wohnung durchwandert. Das Telefon klingelt, doch es bleibt zunächst verschwunden. Doktor Makarios wartet geduldig, bis am anderen Ende ein leises, kratzendes „Hmmmm“ ertönt. „Mein Doktor, halb fünf reicht. Bis dann.“ Gemeint ist der genaue Abreisezeitpunkt nach Frankenberg. Gesagt, getan, weiter gedämmert. Doch irgendwann am Tag ist’s immer halb fünf. Ein Satz, den Pratajevs Gitarrist und Freund Anatoli Prumski sehr oft zu sagen pflegte. Jene sicherlich durchaus interessant anmutenden Anlässe wurden leider nicht überliefert.

 

Abermals wird telefoniert zwischen den Leipziger Stadtteilen Schleußig und Reudnitz. „Mein Doktor, es dauert noch. Die Scheiben sind eingefroren. Von innen und von außen“. Eins kommt zum anderen. Kurz vor Chemnitz bricht tiefster Winter ein. Die Bild-Überschrift wusste es bereits an der Tanke nahe Borna: „Russenpeitsche“. Dabei kommt das damit in Verbindung zu bringende Tiefdruckgebiet doch von wo ganz anders her. Warum nicht gleich „Pratajevpeitsche“? Genau. Weil einem dann nämlich heiß ums Herz wird. War es nicht unser großer, russischer Dichter, der den Fetisch nach Miloproschenskojer Prägung erfand? Mehr dazu leider erst im Februar 2013. Dann erscheint das nächste „Haus aus Stein“. Im 7. Almanach der Pratajev-Gesellschaft werden solche Dinge ausführlich beleuchtet.

 

Herr Eiswürfel und Dirk laden heute zur ?????-???-?????; Doktoren und lieben Gästen steht eine Tischlerei-Party bevor. Freudig wiegen sich die Rümpfe bei Ankunft. Nach dem ersten Radeberger, dem ersten Mischgetränk namens Gisela frohlockt man in trauter Runde. Herrlich! Nur die Anlage zur Beschallung des Publikums zickt herum. Gitarre-Klinke: nicht kompatibel mit der Endstufengerätschaft. Grund: Informationspanne der Verleiher (keine DI-Box dabei), technisches Unvermögen derselben, all das. Doch die Rettung naht in wohliger Kompetenz. Nur ein einziges Mal in der nunmehr 9-jährigen Geschichte der Russian Doctors fand sich keine beschallungsträchtige Lösung. Aber das war vor langer Zeit, in Herne, im tiefen Ruhrgebiet. Laut Vertrag sicherte der Veranstalter eine „Hausanlage“ zu. Sie bestand letztlich aus einem Kassettenrekorder mit zwei kleinen Hifi-Boxen. Da staunt man nicht schlecht.

 

Auf dem Grill draußen zischen mitunter leckere Steaks, drinnen ist es längerfristig dasselbe Bild: Frierende, gut aussehende Menschen tropfen herein, werden geherzt, geschüttelt, schon greifen sie zum Glas, zur Flasche, zur Frau, zum Mann, warm ist’s im Rund, Heilung naht. Bald schon live – die Doktoren spielen den ersten Block. Das gestrige Spektakel mitsamt träger Spätlese verfliegt mindestens bei „Junge Burschen tanzen“.

 

Viel später ist die Pause gerecht. Über den „Schlips aus Lurch“ geht’s zu den Toten Katzen. Doktor Pichelstein überholt seinen Sangesdoc gleich mehrfach. Aber weil sämtliche Töne darin in Schallgeschwindigkeit abgesondert werden, fällt’s keinem auf. Der Siedepunkt naht bereits nach wenigen Minuten und kann bis zum Schluss gehalten werden. Großes Fest, leckerste Versorgungen! Reichlich erschöpft sinken beide Doktoren nach der letzten Zugabe dann doch auf die Bankkissen und man sitzt so da und freut sich. Nicht nur, aber ganz besonders über eine Kuchengabe namens "Schleim am Arm". Vyolent Attax, große Zuckerbäckerin, vielen Dank!

 

Eine weltmeisterliche Löffel-Choreographie oder: Am Ende humpelt immer einer (263)


Doktor Pichelstein überlegt lang: Mit dem Auto zur Frau Krause fahren? Die Straßenbahn nehmen? Doch das Lastentaxi? Letzeres wird gerufen. Weil man nie weiß, wie Frau Krauses Nächte bei Heimspielen enden. Die Jahre 2010 & 2011 noch im Hinterköpfchen. Ein entsprechendes Mantra hatte sich bereits am Abend zuvor durchgesetzt: Egal was passiert, springe bloß nicht von der Bühne und lande wieder in der Notfallklinik. Nur das nicht.

 

Beim Eintreffen in Leipzigs böhmisch-russischer Kulturkneipe wartet bereits Doktor Makarios, wohl gelitten am Stühlesammeltisch. Denn schlau ist heute, wer frühzeitig da ist; eine berüchtigte Ruhe vor dem Sturm knistert in allen Ecken. Auf geht’s zum Soundcheck, während Frau Krause voller und prächtiger gedeiht. Den Pokal der am weitesten gereisten Gäste spielen München, Nürnberg, Wismar und Weimar unter sich aus. Berlin und Potsdam haben keine Chance. Ja wunderbar, Schwarzbrenner Gurt Kaktus betritt mit großen Tüten den Salon. Darinnen: Neuste Pratajev-Schnäpse, frisch aus dem Ballon. Gerne würden wir hier Sorten nennen, doch keine Flasche blieb am Ende voll zurück. Am Merchstand, von Frau Manjoschka Gnatz liebevoll verteilt, ist kein Stehen mehr ohne weiteres möglich. Einerseits schiebt sich die Menge nach vorne, andererseits erledigt leckerer Hustensaft den Rest. Vorm Schnitzelteller der Doktoren hockt derweil ein Schnaps in Gelb, das Staro schmeckt weitere Schmatzer Prag herbei. Ein endlos feines Hallo und Geherze würzt die Szenerie. Draußen werden Gesundheitstüten geraucht, um derer zu gedenken, die plötzliche Schnupfenopfer wurden. Grüße nach Nürnberg an dieser Stelle, beste Genesung dem Harry.

 

 

Beide Doktoren finden sich im Gedränge wieder, huschen auf die Bühne. 21 Uhr 45 MEWZ. Los geht’s mit den Feldmännern, den Gallen, dem idyllischen Landleben, gespickt mit Weltpremieren, denn ab 2013 gibt’s ein neues Programm. Die Platte ist jetzt schon fast fertig. Dann: man traut seinen feuchten Augen kaum. Eine enthusiastische Löffel-Choreographie im Publikum. Pratajevs Herz wäre vor Glück in Stücke gerissen worden. Schwenkende Löffel in allen Winkeln; das Jahresfest des großen Dichters erhält einen unerwarteten Höhepunkt. Fehlt eigentlich nur noch, dass Ehrenmitglied „Tierarzt“ eine Kuh zum Beweis mitbringt. Denn wem geht’s gut? Der Kuh! Und (wie immer) dem Gerrit. Rasend drischt Doktor Pichelstein auf die Gitarrensaiten ein, Funken fliegen. Kurz vorher trat noch ein Publikums-Herausforderer in Sachen „Schnellster Gitarrist von Leipzig-Connewitz“ hervor. Weg ist er. Mit der ersten Schnapsbar geht’s in die wohlverdiente Trinkschlemmerpause. Man will schließlich nicht austrocknen und da isotonische Sportmixgetränke in der Frau Krause grundsätzlich Hausverbot haben, soll’s das ein oder andere Staro sein.

 

 

Im zweiten Block geht’s über die Tiere zum Erich. Denn Erich hat Geburtstag, den 60. Er wünscht sich „Wide Wide World“ von einer sehr befreundeten Leipziger Band. Kein Problem. Der Saal singt lautstark mit. Wie später bei den Katzen und so weiter. Schon droht Verlängerung. Die Zugaben setzen dem Abend, der Nacht die Krone auf. Ein Ohrwurm bleibt mindestens. Vielleicht dieser hier: „So ist’s nun mal auf dieser Welt. Man hat sein Leid zu tragen. Mich wundert gar nichts mehr, mein Freund. Der Schnaps erwärmt den Magen“. „Mein Doktor, können wir das im nächsten Jahr noch toppen?“ fragt später ein humpelnder Erbe Pratajevs den anderen, der heute nicht humpelt. „Nee, na ja, obwohl, eigentlich nicht“. Wollen mal sehen. Um vier Uhr in der Früh sogar doppelt.

 

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