Frieren gegen Nazis (269)


„Wir stehen auf – für eine Welt ohne Menschenverachtung“ spricht das Motto einer bundesweiten Aktion wahr. Laut sein gegen Nazis, da zögerten die Russian Doctors keine Sekunde und sagten dem lokalen Initiator Sebastian Krumbiegel kurzfristig zu. Rassismus, das muss man gar nicht schreiben, ist Mist. Und wer das einfach nicht begreifen will, dem gehört bei jedem Wetter laut auf die Ohren gesungen. Das wusste bereits Pratajev, der wusste eigentlich alles.

 

Wenn jetzt noch Frühling wäre, schließlich schreiben wir Ende März, „12 Grad Minus“ kündigt die Wetterstation in Leipzig-Holzhausen an, tja, dann böte sich folgendes Bild: Makarios und Pichelstein, mit kalten Freisitzgetränken versorgt, harren ihres Auftritts, lauschen samtnen Bühnenklängen, den „Liebenden“ des warmherzigen Prinzensängers, heftig applaudierend, dem gesprochenen Wort folgend und so weiter. Doch nein, Frau Holle schüttelt die Betten; im Schneetreiben frieren die Hände an den Taschen an. Wohl dem, der eine Dackelfellmütze trägt. Immer wieder versucht das Publikum sich in sibirischer Standfestigkeit, mal sind es hundert, mal fünfzig, dann wieder mehr, doch es ist einfach zu kalt, dem gesamten Set zu folgen. Selbst Moderatorin Griseldis Wenners Gedanken mögen beim Versprecher „Wir sind gegen Menschenrechte“ dem Frost geschuldet sein. Wenig später die Korrektur, ein Grog muss her. Schließlich können Pratajevs Weisen nur aufgetaut zu Gehör gebracht werden.

 

 

Open-Air-Minusrekord – das wahrlich nun aber wirklich (zuletzt schmückte ein Großenhainer-Tourtagebuch aus dem Februar 2011 sich mit dieser Überschrift) „Kälteste Konzert der Russian Doctors“ steht kurz vor Ultimo. Fürst Fedja bricht den ersten Rekord. Fünf Doctors-Konzerte am Stück! Dafür gibt es auf dem nächsten Pratajev-Kongress das Holzlöffler-Verdienstkreuz am Bande mit Fischschleife dran. Dann will der MDR ein Interview führen, live für den Sachsenspiegel, doch auch in dieser Angelegenheit verliert man sich im Froste. Es folgt ein Sprung auf die Bühne, Doktor Pichelstein greift, nach Verlust des Mantels, zum wärmenden Neman Grodno-Eishockey-Shirt, Doktor Makarios spricht, beginnt das Set und die Gitarre fängt gleich Feuer. Der Funke springt mit den „Veterinären“ aufs tapfere Publikum über. 30 herrliche Minuten wird gespielt, gesungen - rumpftanzend bewegen sich die Menschen und vor allen Dingen sind sie LAUT, was ja Ziel des Abends ist. Über den „Käferzähler“ geht’s zu den Tierliedern bis an die „Schnapsbar“.

 

So schnell, das darf mit Fug und Recht behauptet werden, wurde nie zuvor in der Leipziger Innenstadt Gitarre gespielt. Vielen Dank, lieber Sebastian, für die Einladung. Und beim nächsten Konzert der Doctors haben wir Frühling. Wehe, wenn nicht!

 

Wild, wilder, Murmansker Teufelsspieße (267) & BULBASCH! (268)

In der Küche des Leipziger Waldfriedens braten leckerste Doctoren-Schnitzel vor sich hin; an später dargereichten Murmansker Teufelsspießen wird letzte Hand angelegt, die Bühne strahlt bereits im lichten Glanze. Ja, das ist die Leipziger Südvorstadt; in Connewitz läuft alles rund. Wirt und Wirtin lassen es an nichts mangeln. Kaum fehlt den Gläsern der Füllstand, schon steht ein neues da. Ein verzehrtes Schnitzel bedarf schließlich, dem Verdauungsgebot folgend, nachtrinkbarer Heilkräuter. Möglichst aus Böhmen. Damit man auch am nächsten Tag noch was davon hat. Und sei es nur ein zarter Pfefferkuchenhauch am Mittag. Jetzt wird sogar geraucht, wunderbar, da holt man sich draußen, unter Eiseskälte, nicht den dritten Schnupfen in vier Wochen. Gesundheit geht immer vor.

 

 

Wenn Konzertpremiere in einer Lokalität gefeiert wird, weiß keiner so recht, wie alles wird. Fünf Minuten des Hinterfragens genügen jedoch; erfreulich füllt sich die urig-gemütliche Stätte der hirschnen Andacht. Ausgewählte Stühle sind längst besetzt, zwischen Eingang, Saal und Knick drängen sich Freunde Pratajevs, Neugierige wie Stammgäste. So knackevoll ist’s, dass die Straßenbahnlinie 11 Sonderschichten eingelegt haben muss. Buchmessehooligans lassen sich eher weniger blicken, dafür liebe Menschen und solche, die man noch lieb gewinnen wird. Gesellschafter des großen russischen Dichters treffen ein; die Reisegruppe Holunderschnaps (2x Karl-Marx-Stadt, 1x Leipzig) positioniert sich mittig vor der Bühne, ehrenwerte Frau-Krause-Fraktionen der Holzlöffler und Feldmänner stehen gleich nebenan, Schnapsgläser bei Fuß. Doctor Pichelstein reicht’s Intro der schnellsten Wirtin von ganz Sachsen; los geht sie, die Pratajev-Revue mit der „Schönen aus der Stadt“, die seltsame Menschen kennenlernt, übers Land zieht, an eine sehr „Dünne“ gerät, die wiederum und so weiter und so fort.

 

Unterbrochen von Jubelstürmen, der Feststellung des Doctor Makarios, dass man auch gefesselt Eishockey spielen kann, kleineren Tumulten (inkl. fallender Gläser, russisches Wirtshausgebaren) fühlt sich alles so an, als sei man tatsächlich Pratajevs Gefolge anheimgefallen, irgendwo bei Bolwerkow, im Jahre 1954.

 

 

In der Pause: kaum Durchkommen zur Schnapsbar. Mit letzter Kraft doch noch Flüssigkeiten ergattert, für Doctor Pichelstein gilt es nun, auch die Connewitzer Schallmauer zu durchbrechen. Und so jagen die Lieder durchs Waldfrieden Bibern hinterher, alles wie im Rausch, man will gar nicht mehr aufhören zu spielen und muss es dann doch. Zu sehr schwanken die Balken, bluten die Finger, versagen die Stimmen. Und allen, die beim absoluten Höhepunkt der Doctors-Tour durch Leipzig nicht dabei waren, sei gesagt: Das können The Russian Doctors immer wieder tun, keine Sorge. Doch gebt acht vor den Texten Pratajevs, denn einmal mehr wurden viele wahr. Nicht nur die Reisegruppe Holunderschnaps konnte gegen Ende ein trunkenes Lied davon singen.

 

BULBASH! (268)
16.März 2013, Leipzig/Dr. Seltsam

Auf zur letzten Runde der Leipzig-Tour. Noch schnell ins Hot-Dog-Lokal um die Ecke, Einflug ins Dr. Seltsam, justament wird die Anlage zur Beschallung des Publikums herausgetragen. Ein interner Kommunikationsfehler. Aber nun, ruhig Blut. Im selben Haus residiert das Noch Besser Leben; ein paar Schraubenumdrehungen später steht’s Mischpult am Platze, wird die Bühne gerichtet, die Klos befinden sich gleich nebenan. Wer hinein möchte, dem wird eine Kerze gereicht. Energiewende live. Derweil munden Störtebeker Brauspezialitäten und groß ist die Freude, als Fürst Fedja sich seine Ehrennadel fürs komplette Beisein sämtlicher Leipzig-Konzerte im Geiste abholt. Beim nächsten Mal, so die Überlegung, wären Holzlöffel mit entsprechend zielorientierten Wanderplaketten im doktoresken Merch nicht schlecht anzusehen. Nach der ersten polnischen Rakete, gegen 22 Uhr, geht’s los.

 

Zwei dem Alkohol sehr zugetane Strolche verbreiten ein wenig Schrecken. Doctor Pichelstein vergisst bei dem gefahrbetonten Rumgehüpfe glatt die letzte Strophe der „Schönen aus der Stadt“. Wortgefechte folgen zwischen denen, die nun nichts mehr sehen können und denen, die da auf engstem Raume Teufel austreiben wollen. Doktor Makarios rettet die Situation mit dem ersten Pausenpfiff. An der Schnapsbar kühlen sich die Gemüter. Doch der Anpfiff zur zweiten Halbzeit erwirtschaftet auch nicht das, was er verspricht. Die angereiste Kamenz-Fraktion hält die Fahne hoch; es folgen weitere Pratajev-Weisen, Zugaben, Schnaps und Weiber, dann ist es geschafft. Mit letzter Kraft rettet sich Doctor Pichelstein in die Obhut Fürst Fedjas, der wenig später zum letzten Mittel greift: Es gibt Bulbash im Noch Besser Leben. Die Welt ist im Lot, rund und fett wie der Morgen und immer noch voller Eis.

 

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