Du bist zwar noch nicht so alt – aber als Pferd wärst du schon Seife (270)


„Wo mag es denn nur zum Fritz-Kräuter-Haus gehen?“ Als sich die Russian Doctors diese Frage am Ostersamstag stellen, ist es bereits Abend, stecken fünf Stunden Fahrt in den Knochen. Der einzige Raststättenstop, inmitten des Neue-Perspektiven-entdecken-Landes Brandenburg, führte lange vorab erneut zur Lokalkolorit-Erkenntnis, dass es nicht nur in Sachen Flughafen verbesserungswürdiges gibt, nein, auch der Sektor des Kaffeekochens gehört absolut neu überdacht. Da müssen Expertengremien ran! Die Brühe schmeckte so schlimm, dass Doktor Pichelstein nach dem Hinunterkippen reflexartig in die Talcid-Arzneikiste griff, Doktor Makarios, als der Weisheit letzten Schluss, den Becherinhalt nur halb in sich hinein goss, aus dem Rest braunen Schnee produzierte. Denn nein, nichts ist es mit dem Frühling. Der wissenschaftlich herbei gepredigte Klimawandel scheint in völlig konträre Richtungen abzudriften. Während der Gesamtreise schneite es, an den Straßenrändern türmten sich die Wehen teilweise einen Meter hoch. Zugvögel, vor allem nach Erreichen der kulinarischen Leckergrenze von Mecklenburg-Vorpommern, sah man recht ratlos übers eisige Brachland staksen, Rehbraten taten es ihnen gleich; Doktor Makarios deutete auf einen Himmel voller Gans-Formationen. „Tschüss, es geht wieder zurück nach Süden, vielleicht bis Portugal.“

 

 

Unter diesen Eindrücken, die Bundesliga-Konferenz bis zum Ende verfolgend, bog man schließlich ins Ländliche ab, Richtung Grevesmühlen, Roggenstorf. Unweit der heilvollen Ostsee, bei Travemünde. Immer den traktornen Streufahrzeugen hinterher, im dichten Schneetreiben. Und so folgte, wie mit den Veranstaltern abgesprochen, das Navigations-Telefonat. Fritz-Kräuter-Haus also, da soll’s hingehen. Nach wenigen Kurven wird aus Kräuter schließlich Reuter; einige Dörfer weiter, in Stavenshagen, stand nämlich die Wiege des Mundartdichters mit Vornamen Fritz. Alles klar. Auf zur mehrfach 30er Jahres-Party. Koffer, Hinstells, Gitarren ins Haus. Ein großes Hallo folgt, erste Getränke werden kredenzt; voller Bewunderung und Ehrfurcht dreht sich am Spieß ein ganzes Dorfschwein. Herrlich, so war es, so muss es bei Pratajev gewesen sein. Makarios und Pichelstein, beim Anblick des gesamten Ensembles, samt versammelter Mannschaft, freuen sich hungrige Löcher in die Bäuche. Das urig-schöne Nachtlager wie Ferienhaus Walnuss, im benachbarten Rankensdorf verortet, wird inspiziert. Danach gibt’s Schwein, Kräuter aus dem Wald, einen kleinen Soundcheck und wieder Schwein. Lecker.

 

 

Den anwesenden Geburtstagskindern wird honoriges Liedgut zu Gehör gebracht; die Wände zieren nur beste Glückwünsche. Ein Laken ist besonders hübsch bemalt. Es trägt die Inschrift: „Du bist zwar noch nicht so alt – aber als Pferd wärst du schon Seife“. Ballons platzen an tollenden Kindern darüber; das ganze Dorf; geschätzte 100 Menschen, säumen den Saal. Noch ein Stück Schwein an Sauerkraut, dann gibt’s den ersten Pratajev-Satz. Die Stimmung wächst mit jeder Weise; Doktor Pichelstein wird schnellster Gitarrist von ganz Nordwestmecklenburg. Alles noch steigerungsfähig bis zum Diskant, keine Frage. Doktor Makarios muss erst mal einen kleinen Zwist schlichten. Denn das früh gewünschte Lied „Der dumme Nachbarsjunge“ hat nichts mit der hiesigen Nachbarschaft gemein. Schließlich hat’s Pratajev in den 50er Jahren verfasst. Der jüngste Russian-Doctors-Fan, versehen mit einem schicken Shirtlatz, bekommt wenig später, unter großen Mädchenaugen, Autogramme geschrieben.

 

 

Doktor Makarios nippt in der Disco-Tanzsause an Milchschnäpsen, schafft den Becher in wenigen Zügen und wundert sich: „Mein Doktor, furchtbar, ich bin schlagartig betrunken.“ „Das muss an der Milch liegen.“ Derweil werden Pichelstein Vorzüge finnischer Metalbands näher definiert; gemeinsam wird darunter das Handzeichen „Shocker“, unter Bedeutungshoheit „Two in the pink, one in the stink“, geübt. Es soll sogar entsprechend farbige „Shocker-Handschuhe“ geben, um das damit verbundene Anliegen, vielleicht nicht unbedingt beim österlichen Kirchgang, einmal mehr und mitmenschlich zu verdeutlichen. Nach einem Disco-Fox für die Mütter geht’s mit den Russian Doctors weiter. Diesmal mit mehr Pegelkraft am Mischpult, allen Hits, die gen Bühnenplatz gerufen werden. Schnell, schneller, Pichelstein. Doktor Makarios‘ Stimme umschlingt dabei die seines Gitarristen, Saiten bersten, die rasanteste „Schnapsbar“ seit Einführung dieser Pratajev-Lyrik ins Programm wird geboten und dann muss es nach einigen Zugaben gut sein. Zurück geht’s ans Buffet, noch mal schnell vom Schwein es Stück, dazu Kräuter aus dem Wald, Kaltgetränke, ab ins Taxi. Die Walnuss wartet, der nächste Tag bringt die Sommerzeit, doch auch während der Rückreise wird davon nichts zu sehen sein. Ganz im Gegenteil.

 

Ein großer, lieber, warmherziger Dank an die Küste!

 

Roggenstorf

Frieren gegen Nazis (269)


„Wir stehen auf – für eine Welt ohne Menschenverachtung“ spricht das Motto einer bundesweiten Aktion wahr. Laut sein gegen Nazis, da zögerten die Russian Doctors keine Sekunde und sagten dem lokalen Initiator Sebastian Krumbiegel kurzfristig zu. Rassismus, das muss man gar nicht schreiben, ist Mist. Und wer das einfach nicht begreifen will, dem gehört bei jedem Wetter laut auf die Ohren gesungen. Das wusste bereits Pratajev, der wusste eigentlich alles.

 

Wenn jetzt noch Frühling wäre, schließlich schreiben wir Ende März, „12 Grad Minus“ kündigt die Wetterstation in Leipzig-Holzhausen an, tja, dann böte sich folgendes Bild: Makarios und Pichelstein, mit kalten Freisitzgetränken versorgt, harren ihres Auftritts, lauschen samtnen Bühnenklängen, den „Liebenden“ des warmherzigen Prinzensängers, heftig applaudierend, dem gesprochenen Wort folgend und so weiter. Doch nein, Frau Holle schüttelt die Betten; im Schneetreiben frieren die Hände an den Taschen an. Wohl dem, der eine Dackelfellmütze trägt. Immer wieder versucht das Publikum sich in sibirischer Standfestigkeit, mal sind es hundert, mal fünfzig, dann wieder mehr, doch es ist einfach zu kalt, dem gesamten Set zu folgen. Selbst Moderatorin Griseldis Wenners Gedanken mögen beim Versprecher „Wir sind gegen Menschenrechte“ dem Frost geschuldet sein. Wenig später die Korrektur, ein Grog muss her. Schließlich können Pratajevs Weisen nur aufgetaut zu Gehör gebracht werden.

 

 

Open-Air-Minusrekord – das wahrlich nun aber wirklich (zuletzt schmückte ein Großenhainer-Tourtagebuch aus dem Februar 2011 sich mit dieser Überschrift) „Kälteste Konzert der Russian Doctors“ steht kurz vor Ultimo. Fürst Fedja bricht den ersten Rekord. Fünf Doctors-Konzerte am Stück! Dafür gibt es auf dem nächsten Pratajev-Kongress das Holzlöffler-Verdienstkreuz am Bande mit Fischschleife dran. Dann will der MDR ein Interview führen, live für den Sachsenspiegel, doch auch in dieser Angelegenheit verliert man sich im Froste. Es folgt ein Sprung auf die Bühne, Doktor Pichelstein greift, nach Verlust des Mantels, zum wärmenden Neman Grodno-Eishockey-Shirt, Doktor Makarios spricht, beginnt das Set und die Gitarre fängt gleich Feuer. Der Funke springt mit den „Veterinären“ aufs tapfere Publikum über. 30 herrliche Minuten wird gespielt, gesungen - rumpftanzend bewegen sich die Menschen und vor allen Dingen sind sie LAUT, was ja Ziel des Abends ist. Über den „Käferzähler“ geht’s zu den Tierliedern bis an die „Schnapsbar“.

 

So schnell, das darf mit Fug und Recht behauptet werden, wurde nie zuvor in der Leipziger Innenstadt Gitarre gespielt. Vielen Dank, lieber Sebastian, für die Einladung. Und beim nächsten Konzert der Doctors haben wir Frühling. Wehe, wenn nicht!

 

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