tour_tagebuch
Die neuerlich große Sause bei Frau Krause (288)
November, das ist ja auch so ein Monat. Viel Totengedenken, Karnevalsgrusel und ein Feiertag zum Büßen und Beten. Zumindest in Sachsen und heller will es draußen trotzdem nicht werden. Die Sonne geruht nur noch dann zu scheinen, wenn draußen klirrende Kälte herrscht. Mit Schlachtrufen, Luxusflüchen wie: „Wurst! Im! Rauch!“ versucht man sich bereits früh morgens zu motivieren. Nie sterben so viele Wecker übers Jahre verteilt den Wandtod als im November. Doch nun Ruhe im vorweihnachtlichen Getümmel, einen Tag im Monat 11 des Kalendariums wollen wir stets herzensrot anstreichen, den Tag der Sause bei Frau Krause. Begangen wird heute der Tourabschluss „10 Jahre Russian Doctors“. Gebannt wartet Doctor Pichelstein in der heimischen Küche auf ein Klingelzeichen des Fürst Fedja. Dann heißt es: Inventar nach draußen tragen, den Mantelkragen dabei zur Wind- und Wetterspeersitze hochgesteckt. Am Auto wartet bereits Doctor Makarios, Karl-Marx-Städter huschen in die Wohnung hoch. Noch schnell ein paar Sahnelikörchen kippen und ein Fläschchen Sekt. Das muss sein.
Wohlig warm ist’s in der Frau Krause, nach holder, goldener Technikeinweisung wird gesoundcheckt, werden erste Schweißtropfen unterm Beleuchtungssegment vergossen. Jedem dieser Tropfen heute ein Gläschen fein, so dürfte nichts schief gehen, auch das muss so sein. Und als die unglaublich leckeren Schnitzelteller allesamt leergefuttert sind, kann er kommen, der lange Abend. Doch halt nein, da ist noch was. Fürst Fedja rührt beide Doctoren zu Tränen. Hat dieser unglaubliche Pratajevianer es doch tatsächlich fertig gebracht, für jeden eine Matroschka anfertigen zu lassen. Die Betonung liegt hier auf „anfertigen“, denn insgesamt alle sechs Elemente wurden handgemalt, stichgesägt und vermutlich auch gefräst, lackiert und danach in Kartons verpackt. Rührung erfordert Schnaps, Makarios gibt die Bestellung auf. Und wer das Krause-Theken-Team kennt, der weiß, noch ehe der erste Schnaps getrunken ist, steht bereits ein zweiter da. Wir sind ja nicht in der Südvorstadt, von Beruf „Szenegänger“, inmitten so einer Schicki-Studi-Erlebnisgastro mit Pinienkerntee im vergeudeten Sortiment. Oh nein, das sind wir nicht.
Iva aus Prag! Geheimrat Goethe, livehaftiger Vertreter von „Goethes Erbsen“! The unbelievable Peter Richter aus Wismar! Schwarzschnapsbrenner Gurt Kaktus, in wohlgemerkt beiden Händen zwei Flaschen „Schnapsteeschnaps, Jahrgang 2013“, frisch aus dem Ballon! Die Conny-die-Manni-der Uli! Honorige Schülerinnen und Schüler der Steuerfachakademie (nächtliche Opfer von „Schnapsteeschnaps, Jahrgang 2013“). Ach und wie sie alle heißen. Ob herrlich kreischend, laut und lustig, in sich gekehrt, nach der Helga „Peitscha“ Bauer in sich suchend, wie auch immer stehend, hockend und adrett sitzend, rauchend, trinkend, kanariengrell und schwarz wie Pulver. Wir brechen die Analogie hier mal ab, sonst wird’s Konzert noch ganz vergessen.
So um halb zehn dürfte es jetzt sein. „Was wollt Ihr wissen, kennt Ihr Pratajev immer noch nicht (….)“ Das Intro der Ratten-CD lenkt die Aufmerksamkeit des Krause-Volkes gen Süden, gen Bühne. Die Doctoren erstrahlen darauf unter einem Sonnensystem aus lauter leuchtenden Gloriolen. Man könnte auch sagen: Weia, wie die Scheinwerfer blenden. Dem November, so schrecklich er ist, wird gehuldigt. Pratajevs Herbstweise von fallenden Blättern und Gallensäften packt die Befindlichkeit am Schopfe. Makarios holt die „Schöne aus der Stadt“ ab, beim „Löffel aus Holz“ wird ein eben solches Monstrum auf die Bühne gereicht, welches schon viele Suppenkanonen von innen sah. Ein erfahrener, ein weiser Löffel ist’s, der noch auf keinem Gefäßgesäß zerbrach. Jedenfalls sind keine Holzleimspuren zu erkennen. Auch keine Holzwürmer, denn die verachten heiße Suppe aufs Allerschärfste. Vorm „Rotarmisten“, vorm „Schlips aus Lurch“ geht’s an die allseits umjubelte „Schnapsbar“. Verschnaufen, nass sind die Kleider. Hurtig ein Sakko übers Salzshirt geworfen, denkt sich Doctor Pichelstein und taucht die ausgetrocknete Zunge in eines der Gelbschnapsgläser hinein. So viele sind’s, das ist ein Segen. Manche Boygroup würde vor Neid erblassen und zähneknirschend von sich geben: Immer nur Blümchen, BHs und Plüschtiere, die machen den Kohl auch nicht fett. Obwohl, na ja, besagte Kleidungsstücke, vielleicht. Aber nur als Zier auf einem üppigen Getränketablett. Das hätte Pratajev bestimmt auch sehr gut zu Gesicht gestanden. Wollen wir’s mal als kleine Anregung stehen lassen. Passendes Liedgut („Bebende Brust“) ist ja durchaus im Repertoire vorhanden.
Nach kurzer Sondierungsphase geht’s weiter, folgt in der Menge ein klirrender Glasbruch in HD und Dolby Surround dem nächsten. Am Merchtisch hat Fürst Fedja aller Hand zu tun, Gurt Kaktus wird ein „Milzbrand“ gereicht. Für die kalten Nächte in der Datscha. In Piano-Nähe beginnen jetzt die Sangesfestspiele und es darf mit Fug und Recht behauptet werden: So schön, so laut, so wohlgelitten wurde noch nie bei einem Doctors-Konzert mitgesungen! Phasenweise reicht Makarios das Mikro in die tobende Menge. Zu blöd, dass keiner vorher an einen Livemitschnitt gedacht hat. Doctor Pichelstein gibt derweil alles, die Handgelenke überschlagen sich. Röte ziert’s nasse Gesicht; knapp vor Ende der Sause bleibt davon nur eine blinkende Discokugel zurück. Aber was tut man nicht alles, wir sind ja nicht beim Nonnenhockey. Und nach einer Schublade voller Zugaben muss es reichen für heute, für das Jahr 2013. Ein schönes Doctors-Jahr, so rund und voll und wunderbar. In den Weiten Russlands brennt ein Feuerwerk dafür. Mindestens.
Der Kongress tanzt die wilde 13 (287)
Stallburschen, Künstler salutieren vor Dorfschönheiten. Blaue Himmelsfenster, saftiges Grün auf den Feldern, kräftiges Gelb in den Blättern. Herbst ist es schon im Altenburger Land, an einem Ort, der heute Miloproschenskoje heißen darf. Welche Ehre. Die Sonne bricht kräftige Strahlen am Russenpanzer. Ein Panzer, der eigentlich ein Traktor ist. Hat wohl die Ernte eben eingefahren. Gastvater Nikolaj Plautski saß, so die Rede, allerdings nicht am Steuer und ganz Miloproschenskoje, der Quellenhof zu Garbisdorf, Mittelpunkt des heute stattfindenden XIII. Pratajev-Kongresses, atmet hörbar auf.
Das Vorbereitungskomitee tagt am späten Nachmittag. Alles soll bald gerichtet sein zu Ehren unseres großen Dichters. Schon werden Kaffeebecher gereicht, wird der Natur gehuldigt. All den Kühen, Tomaten, Fröschen, Libellen, Bienenstichen, Spatzen, Schafen. Um Pratajevs Segen wird rasch gebeten, dann hält keine Ode ans Idyll mehr die Runde auf. Fürst Fedja, den Doctoren Makarios und Pichelstein wird der Bühnenaufbau übertragen. Manjoschka Gnatz, Wächterin der Münzen, arbeitet hart am Abakus. Zwischendurch folgen Holunderschnapseindrücke. Wenn auch nicht gegen den Durst. Gastvater Nikolaj Plautski schürt ein zweites Feuer, damit die ab 21:30 Uhr locker terminierte Versteigerung einiger sehr berühmter Werke aus Pratajevs Malerphase zur heiß umrahmten Auktion gebracht werden können.
Die Berliner Forschergranden Winogradow und Eademakow feilen unterdessen an früher wie später programmierten Kongress-Vorträgen beim anleitungsfreien Zeltaufbau, angefeuert vom Genossen Ktonibutjew. Der Kulturbeitrag Beringsee komplettiert mit dem wenig später am Firmament auftauchenden Shiva das Die Art-Stelldichein. Ein frohes Wiedersehen und schön ist’s wieder mal alle beieinander zu sein. Weitere Forscher der Haus aus Stein-Buchreihe geben sich die Klinke in die Hand. Brotnowaljow Numski Guinnessoff saugt an Zigarren und noch handwarmem Gelbschnaps zugleich, Inge A. Polenz versprüht Charme und Esprit. Boris Brutalowitsch sichert sich bereits beste Plätze für heimliche Giftschrank-Mitschnitte. Schwarzbrenner Gurt Kaktus umgarnt die Bühnendekoration mit nordelbischen Feldfrüchten, immer ein Fläschchen Trovlower Busfahrerschnaps für den neugierig Dürstenden dabei. Erste Taxis erreichen das muntere Sujet; ans Tageslicht gelangen reichlich ausgezehrt und nahezu verhungert die Frankenländler Danuta und Bruno Molotova. Erfreulicherweise in adretter Begleitung der Iwana Iwanovitsch Artimowitsch, angereist aus der goldenen Stadt Prag. Nur gut, dass es Fettbemmen, dass es Soljanka nach Art Pratajevs gibt. Mit Katze oder ohne, das soll ein Geheimnis bleiben.
Begrüßt wird die Pratajev-Fraktion Karl-Marx-Stadt, werden Dorfbewohner, Karussellkinder und all jene, die den Kongressabend mit Leben und Leber füllen. In letzter Klausur befinden sich nur noch Doctor Pichelstein und Gastsängerin Frau Doctor Franziska. Pratajevs Weisen, oder auch Hits „Schleim am Arm“ und „Auch die Ratte hat ein Herz“ werden geprobt für ein Special ganz besonderer Noten, denn Frau Doctor Franziska vermag sehr schön und klassisch zu singen.
20:05 Uhr schlägt die Stunde, „kurz nach Um“, wie der Sachse sagt. Die Eröffnung des XIII. Pratajev-Kongresses wird durch den Ehrenvorsitzenden Doctor Makarios begangen. Bestuhlte Reihen blicken gebannt, an der Schnapsbar ist dennoch (und so muss es sein) die Hölle los. Fürst Fedja jubiliert: Endlich ist er kalt, der Gelbe Schnaps aus Karlsbad. Doctor Pichelsteins Gaumen nimmt es mit wohligem Schauer zur Kenntnis. The Russian Doctors folgen mit einer kleinen musikalischen Bresche. Eademakow berichtet live und in Farbe von einer neuerlichen Forschungsepistel unseres großen Dichters. Die Geschichte, wie es Pratajev einst aufs berühmte Foto der Alliierten am Torgauer Brückenkopf geschafft haben soll, gibt es im nächsten Haus aus Stein zu lesen. Doch das erscheint, an dieser Stelle sei es erwähnt, nicht wie gewohnt im Februar 2014, sondern später. Das liegt einfach mal daran, dass Herausgeber 1 (Pichelstein) fast durchweg zuletzt sechs Monate am Schreibtisch verbrachte, um einen knapp 400 Seiten dicken Buchwälzer namens „Eishockey in Deutschland – Nichts für schwache Nerven“ zu kreieren und entsprechend schreiblädiert ist. Herausgeber 2 (Makarios) steckt in den Abschlussarbeiten zu „Pratajev IV“, welches tatsächlich 2014 erscheinen wird.
Ab 20:50 Uhr, der Sachse spricht jetzt von: „zehn vor Um“, kennt der Saal kein Halten mehr. „The Russian Doctors Classics - feat. Frau Doctor Franzsika“ feiern Premiere, Pichelstein erzählt danach von Pratajevs Psychiater Schizophrenow, den Aufzeichnungen seines Sohnes, einen stummen Vorwurf an eine Kreisstadt im Mittleren Ural namens Bolwerkow nicht verhehlend. „Raus an die Schnapsbar“ heißt es hernach. Von den Inhalten wird reichlich Gebrauch gemacht. Und so verwundert es kaum, dass innerhalb der von Nikolaj Plautski hervorragend inszenierten Pratajev-Auktion die Wogen überschäumen, die Werke des großen Meisters Höchstpreise erzielen. Manjoschka Gnatz gelingt es gerade noch das Werk „Messer mit Möhre“ für das Büro der Leipziger Pratajev-Zentrale zu ersteigern. Bierflaschen mit grüner Leiter auf gelbem Grund prosten sich durchs Gewimmel.
Beringsee spielen kurz danach zur besten Daseinsfreude auf und von hier an schwinden die Erinnerungen des Tagebucherzählers. Er weiß noch, dass die feuchtfröhliche, von knallenden Krimsektkorken begleitete Übergabe der diesjährigen Kongress-Pokale „Held der Arbeit“ (an Nikolaj Plautski) und „Der Wanderer“ Jauchzen und Staunen mit sich brachten. Dass die Übergabe des letztgenannten Forscherpokals (Gurt Kaktus an Winogradow) alle Ketten sprengen ließ, die bezaubernde Moderatorin Manjoschka Gnatz Mühe hatte, die Auszeichnung der „Schönsten Pelzzunge“ zur Prämierung auszurufen. Denn der dafür vorgesehene Zweitpreisling Brotnowaljow Numski Guinnessoff schlief bereit den Schlaf des gerechten Wirtes. Als 1. Sieger in der kunstbeflissenen Werkedisziplin wurde Pratajev-Mitglied vito (Erfurt) ausgerufen. Und als sich die Tumulte wieder legten, sang Winogradow poetisch-samtene Schwarzmeer-Verzauberungen zur Gitarre, bevor ein Wirbelsturm an letzten Pratajev-Weisen der Herren Makarios und Pichelstein den Kongressdeckel in früher Morgenstunde schlossen.
An dieser Stelle gemahnen die Erinnerungen des Tagebucherzählers völlig zu entschwinden. Nicht ohne ein deftiges Allen-sei-Dank, vor allem gen Gastvater Plautski nebst umsorgender Quellenhof-Entourage, zu richten, bevor die Geschicke des nächsten Tages für immer verschwiegen werden. Denn jedem Tag Eins nach einem gelungenen Pratajev-Kongress wie diesem, kann nur zugerufen werden: Heute geschlossen wegen gestern.