tour_tagebuch
Makärriusss! GoGo-Girl und Schnaps am Schuh (292)
 Endlich steht wieder Halle auf dem Tourplan. In den letzten Jahren war es nämlich so, dass, wenn die Doctors eine Lokalität in der Saalestadt erobert hatten, diese zusätzlich gleich dem Untergang geweiht war. Was nicht an den Doctors lag. Wohlmöglich wurden die Wirte nach der traurigen Abreise des vorab hoch umjubelten Pratajev-Trosses schwermütig und verfielen dem Schnaps oder den Weibern. Oder beiden zugleich. Man weiß es nicht genau. Umso besser also, dass es heute in die Markt-Wirtschaft geht. Die-Art-erprobt und umgeben von einer Handvoll Psychotherapeutischer Praxen, deren Spezialgebiet zum Teil darin besteht, Sprachhemnisse zu reparieren. Auch dem Leben (Synonym für: „Alltag“) abseits der Tourette-Syndrome soll wieder eine Prise Sinn verliehen werden. Welch hehre Ziele! Gebrannt auf Messingschildern, versehen mit Handynotrufnummern.
Mit Sinngebung kennen sich Doctor Makarios und Doctor Pichelstein bestens aus. Auf diesem Gebiet sind sie fürwahr Meister ihres Faches im Sternzeichen des großen Dichters S.W. Pratajev, dessen Aszendent liebend gern eine sehr junge Schwesternschülerin war. Manchmal reichte aber auch gut und gerne eine Flasche Schnaps. Doch zunächst drückt der Hunger; um die Ecke warten Burger, osmanische Fleischrollen, stehen 13-jährige Jacquelines in den Pfützen. Gewartet wird auf Jungs mit Schulhofschläger-Gestus. Das juvenile Damenproletariat hat sich also hübsch gemacht, steht mit fettigen Haaren, öligen Kappen und verwaschenen rosa Leggins um eine Schale Majo-Pommes herum. Kevin und Mohamed schlendern darüber ganz verzückt um die Ecke und rülpsen hellen Mixbierschaum aufs Pflaster. Es ist ja schließlich Samstag, da will etwas ganz besonderes erlebt werden. In die Markt-Wirtschaft wird es sie nicht ziehen. Da ist man doch sehr froh. Froh sind auch die Doctors, als die Bühne vom PARTEI-Sekretär der Gemarkung Halle freigegeben wird. Liebe Bürger der Saalestadt, wählt also „Die Partei“; das Kommunalprogramm hat es in sich. Man konnte ja gar nicht ahnen, dass Halle und Halle-Neustadt so grundverschieden sind.
Wernesgrüner wird feilgeboten, kühl aus der Froste. Der Soundcheck gelingt und kaum ist der Merchstand aufgebaut, gibt’s ein großes Hallo. Die Sektion Nürnberg, verstärkt durch Merseburger und Leipziger Allerlei, darf huldvoll begrüßt werden. Schnell ist vom gestrigen Abend im Café Westen die Rede, werden olympische Ringe unter den Augen in ein legitimes Tageslicht gerückt. Und dann hört Doctor Pichelstein, artig auf einem Stuhl im Backstage verharrend, lautes Wonnegeschrei von draußen: „Makärriusss! Gib mir einen Löffel aus Holz!“. Besorgt muss der Artikulationsquell in Betrachtung gezogen werden. Doch es droht keine Gefahr. Nur einem Supernova-Feierbiest aus Riga, wie sich später noch eindringlich herausstellt, gelüstet es einzukaufen. Doch besagte Löffel sind nun mal heute nicht im Sortiment. Und wenn sie es gewesen wären, wer weiß, was damit alles angestellt worden wäre. Denn die Dame wirkt ein wenig neben der Spur, passt also sehr gut ins Geschehen rund ums Sternzeichen des großen Dichters S.W. Pratajev. Aszendent: konsumfreudige, scharfzüngige Lettin.
Dann kehrt wieder Ruhe ein; vertraglich zugesicherte schweinische Leckeressen werden fachköchisch zerteilt. Fürst Fedja schnalzt mit der Zunge. Auf geht’s Rippchen, kämpfen und siegen. Kräuterschnaps hinterher, es kann losgehen. Das Intro wecket die Gemeinde auf, voll ist’s zur Rechten der Bühne, denn näher traut man sich nicht ran. Wieso nur? Spielen die Doctors so unglaublich, dass kein Näherkommen zur Diskussion steht? Ehrfurcht, Starre und so weiter? Natürlich, klar. Aber das ist nicht der Grund. Wild geht’s wenige Zentimeter vor den Mikros her. Die Magdeburger Pratajev-Sektion hat den Miloproschenskojer Froschteich-Pogo für sich entdeckt. Und mittendrin: die Riga-Dame. Mal auf der Bühne, dann wieder liegend davor. Ein wahres GoGo-Girl und jene, die sich vor ihr in Sicherheit wiegen, freuen sich lauthals übers Geschehen. „Makärriusss! Gib mir einen Löffel aus Holz!“
Und der so angebetete Doctor gibt nicht nur das, sondern alles, was auf der Liederliste unter „vor der Pause“ steht. Die tut wahrlich Not. Nass von diversen Bierduschen mit Schnapsflecken an den Schuhen begeben sich die Doctors über am Boden knirschende Glasbausteine ins Backstage. „Wenn das so weiter geht, mein Doctor, müssen wir durch den Hinterausgang“, sagt einer zum anderen und schüttelt die tropfnasse Mähne. Am Merchstand gehen unterdessen die Holzlöffel-Dispute weiter; Fürst Fedja hat alle Hände zu tun und freut sich über jeden Buchhändler, der endlich das Thema nach seiner Passion zu wechseln in der Lage ist.
Frenetisch beklatscht beginnt die zweite Runde. Gilt dito für die Pogofestspiele von Halle-Miloproschenskoje und als „Der Wanderer“ dran ist, kulminiert die Szenerie. Wer auch immer fliegt Richtung Mischpult. Prompt schweigen die Boxen, das Konzert muss ruhen. Magdeburg befindet sich im Clinch gegen Lettland, ein einziges Tohuwabohu folgt – bis der rettende Herr Goethe einschreitet und sich alle Parteien, um des lieben Friedens willen, wieder lieb haben. Bass vor Staunen über diese neuerliche Entwicklung setzen Pratajevs Erben das Set fort und fort und erreichen die letzte Schnapsbar des Abends. Mit keuchenden, durstigen Kehlen, vereint im Pulk derer, die noch heute von sich behaupten können, dabei gewesen zu sein. Am Tag, an dem Doctor Makarios zum „Makärriusss“ wurde, als die Fetzen flogen und Pratajevs legendäre Wirtshaus-Tumultgeschichten live und in Farbe wahr wurden.
Westalgie! Lindenau sucht den Superstar (291)
Da ist der Doctor Pichelstein aber sehr froh. Liest ihn doch Fürst Fedja glatt mit Sack und Pack am Straßenrand auf und schon düst man zum Tourstart gen Leipziger Westen. Genauer geht’s ins Café Westen an einem Tag, dem bisher ein eher mattes Drehbuch vergönnt war. Beim Erreichen der Odermannstraße färbt es sich reichlich blau-weiß. Strenge Polizisten bewachen gerade jene nationalen Mitbürger, deren Toleranzvermögen in eine Streichholzschachtel passt. Was mag eine Stunde Bewachen den Steuerzahler so kosten? Was verdient ein Absolvent der Polizeiakademie? Würde er nicht viel lieber ganz woanders sein, als der Entdeckung der Langsamkeit zu frönen? Mit Betty Ballhaus unterm Arm die Gegend lieb gewinnen? Nun, da kann man wohl nichts machen. Präsenz ist Präsenz. Während unweit des Wartens, im Café Westen, tatkräftig an der Bühne geschraubt wird und Ronny, der Koch Catering-Bestellungen aufnimmt. Kleine Vorspeisen mit Hauptgerichten, guter Plan. Dazu reichlich Flüssignahrung; King Karsten liefert die erste, wohlschmeckende Runde und nebenan, vorm Eingang einer betreuten Sterbestätte, geniest ein Pulk Pflegerinnen die Weihen des sonnigen Märztages.
Wenige Zigarettenlängen später passt der Sound in eine Opernhausschachtel, will heißen: alles klingt glockenhellprächtig und Ronny liefert die feinsten Früchte seiner Herdplatten direkt auf einen Tisch aus Holz, an dem mittlerweile gestaunt wird. Wenn die Vorspeisen schon XL sind, was folgt im Anschluss? Glücklich ist, wer einen Mitesser hat. Denn volle Teller gibt man ungern zurück. So werden weise Wimpernschläge später Burgerköstlichkeiten verwaltet und nach Abwägung aller Umstände größtenteils auch gegessen. Danach hilft nur eines: Bauch halten, Schnaps hinein, abwarten. Bis der Startschuss fällt, das Feldmänner-Intro die Doctors zur Arbeit ruft. Die Mission lautet: Stadtteileroberung, denn in Lindenau waren Pratajevs Erben noch nie zugange. Umso erquicklicher, dass sie endlich da sind. Im Wohnzimmer des verehrten Fürst Fedja, in dem jeder Barhocker vor kühnster und edelmütiger Geschichtsnoblesse nur so strotzt.
Drum auf zur adeligen Leipziger Westalgie! Der Beifall, er spricht Bände. Verzeihung: eBooks. Gläser klirren, die erste Schnapsrunde wird auf die Bühne gereicht und noch einmal wollen wir darunter den Worten des Doctor Makarios lauschen: „11 Jahre gibt es die Russian Doctors nun schon und ein findiger Statistiker hat herausgefunden, dass jedem der beiden Musiker im Durchschnitt vier Schnäpse pro Konzert gereicht werden. Für den Stand der Dinge ergibt das 2.320 Schnäpse, die die Doctors in pure Energie umgesetzt haben - und wir wissen, vereinzelte Fangruppierungen basteln an hinterhältigen Plänen, den Durchschnitt nach oben zu treiben….“ Weise Worte zum Geleit, muss man wahrlich sagen. Huldvoll wird jedes volle Glas entgegengenommen und im prompten Anschluss verzehrt. Naturgedopt wie zwei gewaltige Krimcatcher verlangen die Doctors darob ihrer Liederliste alles ab. Die wurde vorm Konzert komplett runderneuert; Doctor Makarios‘ wundersames Pratajev-Erleben (darin erzählt) sorgt für Erheiterungsstürme. Längst kocht das Café Westen und wer eben noch geruhsam Karten spielte, hat längst das Weite gesucht. Dann ist Pause. Schwitznass glänzen sich beide Doctoren unterm Scheinwerfer an.
Mit der „Harten Wirtin“ geht’s in die zweite Runde. Am Bühnenrand toben sich, wie sich später am Abend noch herausstellen wird, Lindenauer Superstars aus. Doctor Pichelstein rast seinem Sangesdoc davon - bis schließlich die zweite Schnapsbar im ersten Zugabe-Finis mündet. Ein Mix aus Punk und präpotentem Walzer. Dann soll es gut sein, doch das darf es natürlich nicht. Also noch eine Runde. Angepeitscht mittlerweile auch vom unermüdlichen Forscher Winogradow. Bis schließlich die allerletzte Schnapsbar eine echte ist. Vor der man steht und ja, es dürfte die längste im ganzen Leipziger Westen sein. Und dann kommen die Superstars und stehen Schlange. Doctor Pichelsteins Order: „Gitarren für alle!“ wird glatt befolgt und wäre Fürst Fedja in den frühen Morgenstunden nicht eingeschritten, so spielten sie noch heute. Ein wahrhaft subversiver Abend, herzlichen Dank dafür.