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Der Ersatz-Prinz (276)
Die Zeit der Muße war nur kurz; nach dem Goldeck-Spektakel auf dem Berliner Remili-Spreeschiff am Mittwoch, einer Folgenacht, die an anderer Stelle gewiss noch Erwähnung finden wird, versammelt sich der erweiterte Doctorentross am Labelbüro, bereit, wieder fahrtüchtig, zu neuen Abenteuern. Fürst Fedja steuert den BMW. Doctor Pichelstein den Audi. Und weil bereits am Samstag der Goldeck-Tanker in Jena Station machen wird, ist Gitarrenmatrose Shiva gleich mit an Bord.
Das Ziel ist die Eröffnung des 13. Göpfersdorfer Holzbildhauer-Plenairs im malerischen Grenzgebiet zwischen Thüringen und Sachsen. Doch bevor das Land des Pratajev-Kongresses 2013 angesteuert wird, ereignet sich an der Shell-Tankstelle Borna-Eula eine Wurstübersättigung mit späterhin für Pichelstein weitreichenden Folgen. Denn die Wurst, eine bockige mit Senf, ist eindeutig zu groß. Alle anderen orderten zuvor, gesegnet mit dem Quell der Vernunft, die S-Variante für den kleinen Hunger.
Als das 400-Euro-Jobmädchen indes den arglos hinzu stromernden Pichelstein befragt, sagt der nur: „Groß“. Wie zauberhaft doch Tankstellenmädchen lächeln können, selbst wenn sie die 50 lange überschritten haben. Eine XXL liegt auf dem Teller. Die ersten Hapse klappen, dann wird es schwer. Versuche, Fürst Fedja oder Makarios Großreste anzudrehen, scheitern. Die Teilzeit-Kindheitstraumata des Gitarrendocs aber rufen: „Iss, Junge, iss, dann gibt es morgen schönes Wetter; die Kinder in Afrika würden sich freuen, so eine tolle Wurst am Spätnachmittag verputzen zu dürfen (…)“
Gefüllt wie eine pralle Dönertüte, unkontrollierbare Geräusche dabei von sich gebend, Wurst aus dem Zahn heraus piepelnd, ohne Verdauungsschnapskonsum in Reichweite, setzt Pichelstein die Fahrt fort. An den Wegesrändern lassen sich, nach der Abzweigung ins Thüringische, die Kreuze vermissen. Discounfälle: Fehlanzeige in Ermangelung an Discos. Dafür sprießt die Natur aus jeder Ritze, ein ländliches Idyll bis hin zum Quellenhof und auch darüber hinaus.
Die Begrüßung durch das Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft, Nikolaj Plautski, ist herzergreifend. Dann kartoniert und schnapsergreifend; schon löst sich die bockige Wurst ein wenig, verhindert aber dennoch die Lust, ins dargereichte Fettige zu greifen. Das aber wäre klug gewesen. Dann einzig eine Bockwurst stellt keine befriedigende Grundlage für eine wilde Doctors-Sause dar. So ist es nun mal und man benötigt keinen Eselsführerschein, um solches Wissen zu beweisen.
Die Künstler, ihre Entourage, Nachbarn, Freunde, Dorfbewohner – alles versammelt sich mittlerweile im Atelier. Rasch wird die Bühne aufgebaut, eine Klangprobe genommen, schon kreist der Schnapskarton erneut, steht der Becherovka, der Bulbash kühl im Eise. Diskussionen, ob der Leipziger Osten, speziell die Eisenbahnstraße, immer noch ein lebend’ Trümmerfeld darstellt, wo Bäume nur deshalb nicht aus Häusern wachsen, weil die Häuser ständig brennen, verebben mit dem an Pichelstein gerichteten Satz: „Wenn ich mir deine Frisur so betrachte, könntest du auch bei den Prinzen mitmachen“. Verdutzt starren alle auf die Fläche oberhalb von Doctor Pi’s Sonnenbrille. Der das sagt, ist Künstler, Dorfbewohner oder alles zugleich. Man einigt sich schließlich auf die Funktion eines Ersatz-Prinzen. Die gute Landluft birgt interessante Ideen; lieber Sebastian, wenn Du das hier liest, keine Sorge. Ein Doctor bleibt ein Russian Doctor :)
Plötzlich, die Reden sind verebbt, verschwunden wie guter Wein, heißt es für Makarios und Pichelstein: Ab in die Pratajev-Ecke, der „Schönen aus der Stadt“ gelüstet es, hervortreten zu dürfen. In Reihen sitzen bereits Damen und Herren, dem Kulturbeitrag harrend, während an der Schnapsbar die Drehverschlüsse knirschen und die Korken plöppen.
Pichelsteins Bockwurst verursacht mittlerweile fürchterliches Sodbrennen; Talcid schafft Abhilfe. Dann ist sie mit einem Male verschwunden, die Wurst. Hunger, Pichelstein leidet Hunger und spielt bereits das dritte Lied im Programm. Statt Hack gibt’s Schnaps, immer wieder, der sich zunächst wohlig in die leere Magengrube legt, dann in Strohhalmmanier gen Blutzirkulation gerät. Bis zur Pause. Erschöpft sinkt der Gitarrendoc draußen nieder; neuerliche Ersatz-Prinz-Diskussionen halten erneut vom Verzehr fetthaltiger Nahrungsmittel ab. Weiter geht’s mit dem Russen im Keller über die Tierlieder bis auf einmal ein mumifizierter Frosch die Bühne erreicht. Makarios besieht den einst fröhlich quakenden Teichlüstling; es kommt, was gesungen werden muss: der „Gelbe Fettfrosch“. In der Historie der Erben Pratajevs die Nummer drei an Mumienpräsenten. Bis dato gab es eine Ratte und zwei Katzen.
Vorm heftig umjubelten Zugabeblock wird den Wirten aus Miloproschenskoje ein klapperndes Denkmal gesetzt. Fürst Fedja sei Dank. Der Unbill der Bockwurst führt zu ersten Ausfallerscheinungen. Gerade noch gelingt es Doctor Pichelstein die Galerie der schönen Malkünste Richtung frischer Brise zu verlassen. Schon erklärt er Shiva sein Leid, unterschreibt noch ein paar Tonträger und macht sich auf kleiner Reise davon. Über Hügel, Stöcke und Steine geht es wenige Meter nach rechts. Eine Bank, auf der gewiss manch Armer schon saß, ist das Ziel. Eben noch in die Sterne schauend, bettet sich das müde, trunkene Haupt auf hartem Holze. So kann auch nur von ungefähr berichtet werden, was dem Pratajev-Tross in wenigen Metern Abstand derweil noch wiederfährt. Sei es der spontane Erwerb einer Holzplastik, seien es die Lobeshymnen der älteren Semester auf Makarios, dem beschieden wird, mindestens die Aura eines Joachim Schwanzers, also eines Joe Cockers, zu verströmen. Sei es der Sturz des Shivas über strenge Zeltdrähte, auf dem Weg zur langsam anrollenden Suche nach dem schnellsten, verschwundenen Gitarristen von ganz Garbisdorf.
Doch Ende gut, alles gut. Nicht bei den Lebendfröschen wird dauerhaft genächtigt; die Helden der Landluft, Fedja und Plautski, sammeln Pichelstein von der Bank, schultern ihn, leiten ihn zum Gästehaus und am nächsten Morgen kräht der Hahn ein Lied von Matthias Reim.
Im Autokorso der Eisbärenfans (275) Dynamo! (275)
Langsam erwachen die Gemüter; Doktor Makarios ist bereits ein wenig länger unterwegs an frischer Natur, als sich Fürst Fedja zur Ruh begibt. Doctor Pichelstein hilft mit einer Anti-Russensirup-Talcid-Kautablette aus. Ein erster Versuch, den Dingen des täglichen Lebens folgen zu können, misslingt kräftig. Also wieder hoch in die Kammer, Augen zu. Beim nächsten Aufstehversuch wird draußen bereits heftig am Frühstücksbuffet gewerkelt. Kalf, Chrissi, Guinnessoff, Winogradow, Makarios, Eademakow und all die Verbliebenen lassen den Abend noch einmal Revue passieren. Worte wie „Dreilochstute“ fallen - kaum einer kennt mehr den Zusammenhang. Warum Sätze wie „Du grinst ja wie ein Schwein“ fielen, wer kann’s rekapitulieren? Nur, dass Peter Richters Lampen wahrlich von großem Nutzen waren, als sich der Merchkoffer in völliger Dunkelheit öffnete, wird als gesicherte Erinnerung in die Annalen der Nacht eingehen. Und natürlich die Randbemerkung, im Haus habe es nächstens aus allen Ecken und Winkeln heraus geschnarcht, dass die Wände wackelten.
Einer der Gäste erhebt sich aus seinem schweren Liegewerk, spaziert vorbei am nach wie vor schwankenden Hund, biegt um die Plumskloecke. Deutlicher kann man nicht erbrechen. Darauf angesprochen, verschwindet er beleidigt unter den Worten: „Ich hab gar nicht gebrochen“ in eines der Autos. Es folgt: leckeres Rührei, viel Kaffee, noch ein Schläfchen. Herrlich ist’s, weil man hier ist, selbst Fürst Fedja erwacht nun. Guinnessoff fährt ihn zurück gen Lutherstadt, Heldentaten, so sehen sie aus. Wenig später brechen Winogradow und Eademakow auf in die Hauptstadt. In sechs Stunden startete das nächste Doctors-Konzert.
Die Zeit bis dahin scheint ausreichend. Makarios und Pichelstein, mittlerweile in Groß Köris, angekommen, dabei an wohl genährten Damen mit Hartz-4-Frisuren vorbeifahrend, gelüstet es nach Kuchen in der Sommerfrische. Im Hotelrestaurant „Zur Seeterrasse“ wird man fündig. Vorm Gebäck gibt’s Kartoffelsuppe, auf dem Wasser ramentern Enten, Seehühner und fischschnappende Raben.
„Mein Doktor, was ist eigentlich eine Hartz-4-Frisur?“
„Das ist eine mit vorne kurzen, hinten langen Haaren und einem Klecks Leuchtstofffarbe in der Mitte.“
„Aha. Eine Discokugelfrisur. “
„Mit einseitigem Bart.“
„Wenn man so will, ja.“
„Wie sagt eigentlich der Brandenburger: Gabi geht geradeaus in ihren Garten?“
Und so weiter und so fort….
Kellnerin Heike, braungebrannt wie drei wasserstoffblonde Chicken Wings nach dem Solariumbesuch, trägt ertüchtigende Getränke herbei. Fein macht sie das. Und los geht’s, zum Endspurt auf die Hauptstadt. Der Dunckerclub ist das Ziel. Die sich darin verortete „Schoenegeisterschau - Ein Abend mit Pratajev und The Russian Doctors“ ein probates Mittel, um den Sonntag ausklingen zu lassen.
Doch es dauert. Mehr als eine Stunde quält sich Doctor Pichelstein hinterm Steuer durch die Menschmaschine Berlin hindurch, stetig umsorgt vom Sozius Doctor Makarios. Die Cola ist lauwarm, die Sonne brennt gnadenlos durch völlig verdreckte Scheiben. Zäh wie Leder ruckelt der Verkehr. Was im Westteil, um den heutigen Aufsteiger Hertha BSC, geschieht (fanatischer Jubel um eine Fahrstuhltruppen-Fußballmannschaft mit dem Logo der Deutschen Bahn auf den Trikotagen), kennt im Ostteil dito keine Grenzen. Obschon die Sympathie für den frischgebackenen DEL-Meister Dynamo Berlin im Grunde groß ist, raubt das Mittendrin im Autokorso der Eisbärenfans wahrlich letzte Nerven.
Völlig ruiniert erreichen die tapferen Erben Pratajevs viel zu spät die Dunckerstraße. Veranstalter Hendrik, samt bezaubernder Katzendame Sandra, werden begrüßt. Das Maximum an Erleichterung ist erreicht und potzblitz! Es dauert nur fünf Minuten, bis ein Parkplatz gefunden ist! Fünf Minuten! In Berlin! Einen Parkplatz gefunden! Einen, von dem man nicht verschleppt werden kann! Da es im weiteren Verlauf, geschuldet der Schwächezustände des Gitarrendoctors, keine neuen Rekorde zu vermelden geben wird, bleibt dies der heutig einzige.
Claudia, Fotografin, Filmerin u.a. des letzten Die Art-Videos, schaut vorbei. Winogradow, Eademakow lassen sich frisch geduscht blicken. Welch Freude! Und was soll’s. Her mit dem bulgarischen Schnaps, selbstgebrannt. Reinigung muss sein, wenn schon nicht von außen, so denn wenigstens von innen. Pichelstein hebt den Becher. Leben wird es geben. Jesus! Und all das.
Die Bühne aufzubauen, auszuleuchten war vorab ein Akt der Verzweiflung. Jeder Schritt trug Bleifuß, nun ist es geschafft, füllt sich der Club, kann bald begonnen werden. Impressario Hendrik begrüßt die Gäste, Doctoren spielen, abwechselnd wird aus dem Haus aus Stein und aus neusten, ganz frisch entdeckten Werken Pratajevs gelesen. Dann wechselt der geneigte Impressario das Genre hin zum Forscher, trägt ebenfalls bei, ermittelt in Sachen Fetisch. Zum großen Abschlusskonzert stimmt auch endlich die Gitarre. Der zuvor verheerende Kampf mit dem Bodenstimmgerät geht eindeutig an Pichelstein. Lange nicht so geschwitzt. Weltpremiere feiert eine herzergreifende Ballade namens „Man weiß nicht wie es geht“. Schon bald in kleiner Raritätenserie, als CD immer dabei, solange der Vorrat reicht. Mit vielen bekannten wie unbekannten Risiken und Nachwirkungen. Anspieltipp: „Die Dünne“ in der Version Pi.
Schlussendlich: die Lichter, die Protagonisten des Abends strahlen, aller Hände Beifall tut unheimlich gut; das langsamste, dafür sicherlich herzergreifendste Konzert der gefühlt letzten drei Jahre nimmt ein Ende. Raus geht’s in die Schnapsecke zu Dr.h.c.mult. Mary Fiction, dem Bootsmann. Lange wird nicht mehr verweilt; ein Taxi rauscht heran und eine schöne Dreifach-Katzennacht, weich und gemütlich, wartet unweit von hier.