tour_tagebuch
Ein Sommermärchen (255)
Schwer vom Fado gezeichnet gleitet das Tourauto, mehr langsam als schnell, gen Jena. „Mein Doktor, es ist alles so furchtbar“, sagt einer zum anderen. „Heute gucken alle Fußball, da kommt bestimmt kein Mensch“. Andächtige Pause, sogar das Radio schweigt. „Jaja, na mal schauen“. Selbst die Zebrastreifen werden, wie im Süden Europas üblich, als Empfehlung gesehen; Doktor Pichelstein denkt an den gerade erst vergangenen Urlaub, an Portugal und die Fußgängerinnen schimpfen wie deutsche Fußgängerinnen mittleren Alters halt schimpfen, wenn sie nicht zu ihrem Verkehrsrecht kommen. Aber das Motto des Tages, des Jahres, des Lebens lautet nun einmal: „Verzweifelt, wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung“. Das Unrecht heißt Deutschland. Die Empörung darüber ergibt sich so von selbst. Bleiben Sie bitte eine Weile in Portugal, genießen Sie das Land und was erwartet einen zurück in Deutschland? Genau, schimpfende Fußgängerinnen mittleren Alters. Überteuerte Zigaretten, schwarz-rot-goldene Hobbyhorden, Pommes mit Majo, all das.
Und Lothar, den Pfarrer der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte. Ein erster Lichtblick streift die Doctors. Ein Quell voller Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Lothar ahnt den Fado der Doctors. „Da stimmt was nicht, die schauen so traurig“, mag er denken. Ein Plenum wird einberufen, die Frau- und Mannschaft der JG abendlich angeheizt, feurige Brände kreisen und langsam lächelt Doktor Makarios. Lächelt auch Doktor Pichelstein. Obschon ihm eine portugiesische Doradengräte seit Tagen im Zahnfleisch steckt. Ein Umstand, gefüllt mit Schmerzmitteln. Nein, zum Zahnarzt will er nicht. Noch nicht. Aus den Boxen erklingt André Heller; ein trauriges Lied, was der Lothar da auflegt. Da ist er wieder, der Fado. Noch einen Trank, dann einen Trunk. Vor den Toren der JG läuft das Public Viewing der Europameisterschaft. Erstes Spiel. Deutschland gegen? Natürlich gegen Portugal.
Der Soundcheck ist schnell erledigt; im Schankraum wartet französisches Huhn an Kartoffeln, Erbsmöhrenbrei. Dazu wird Weißwein serviert. Herrlich. Immer näher rückt Portugal, das jüngst verlorene Paradies. Das jüngst für kurze, na gut, für etwas längere Zeit, verlassene Stück Himmel auf Erden. Meine Güte, was für ein Mahl. Und was geschieht mittlerweile draußen? Die ersten sehr bekannten Gesichter tauchen auf. Da ist der Eddi vom Majorlabel, die Anne, da sind auch noch Jahn & Marczinke und die treten jetzt auf. Zu Hofe füllt es sich. Immer mehr Menschen folgen dem Motto des Tages. Unrecht und Empörung wachsen; die Sonne geht darüber unter, der freie Himmel indessen weint überhaupt nicht.
Dann starten die Doctors mit ihrem Pratajev, dem es hier gewiss gefallen hätte. Und spielen sich in einen gefühlt nie enden wollenden Rausch. Der Fado kann so etwas, der setzt ungeahnte Kräfte frei. Und sehr dankbar ist man auf der Bühne über die kurzen Besuche vom Lothar, seinen Jungs und Damen. Denn stets hat wer ein Gläschen Brand dabei. Immer wenn das gesungene Wort „Schnaps“ auf die tobende, tosende und feiernde Menge übergeht, ist das das Zeichen. Und wer Pratajevs Texte kennt, weiß nur zu genau, dass der Dichter damit in seinen Texten nicht geizte. Und so geht es weiter und weiter, immer weiter. Bis in die allerletzte Zugabe hinein. In den Walzer der Schnapsbar. In den Himmel von Portugal. Denn die Sterne, die da oben stehen, die stehen auch über der Algarve. So weit weg kann sie also gar nicht sein.
Lieber Lothar, liebe Menschen der Jungen Gemeinde Jena. Das war wahrlich ein Fest. Ihr habt zwei kleine Doktoren sehr glücklich gemacht. Das Leben ist halt manchmal ein Sommermärchen.
Verdorbene Jugendliche (254)
Überm Fluss, im Sanierungsgebiet Treptow-Niederschöneweide, kreisen die Reiher. Forscherfreund Eademakow versucht sich als Tierfilmer der grzimekschen vs. tembrockschen Schule; kaum mag es gelingen, die von Anglern und Fischteichfreunden gefürchteten Könige der Berliner Spreelüfte in die Digitalisierung zu zwingen. Allenthalben fragt man sich, worauf es denn stets hungrige Reiher überm Spreeabschnitt Hasselwerder Park abgesehen haben könnten? Aufgrund der offensichtlichen, eher ins Grünlich-Trübe spielenden Wasserqualitäten folgern die Fischexperten Doktor Makarios und Doktor Pichelstein nur eines: Die wollen an den Karpfen. Der Karpfen ist schließlich ein Sumpffisch; mitunter wird er nicht umsonst das Mastschwein unter den Flussbewohnern genannt.
Goldeck-Fotografin & Covergestalterin Claudia richtet derweil die Kamera auf zwei sehnsüchtige Matrosen; die fliegen nicht weg, die bleiben an Bord und haben eine Samtmarie im Sinn. Darunter füllt sich der Kahn, das Jugendschiff Rimili, „the unique alternative ship festival”, nimmt Fahrt auf. Erste Bands sorgen für veritable Klangteppiche; Druschba und Hallo an die Pillbox Tales aus Hamburg! Schönes Wiederhören! Doktor Pichelstein reist mit Veranstalter Marco zwischendurch zur Pension. Die Betten sind bezogen; früher residierte in der Villa der russische Militärgeheimdienst, heute gibt es im Erdgeschoss eine Schuldnerberatungsstelle. Geschichte wiederholt sich: Nicht alle Berliner gingen oder gehen fröhlich pfeifend ins Gebäude hinein. Ganz anders späterhin die Doctors, aber bis dahin ist noch genügend Zeit. Wollen wir an dieser Stelle mal kurz die nachtäglichen Konzerteindrücke unserer Besucherin Miss Ada aus dem Facebook frech übernehmen: „Wache auf mit Schleim am Arm, langen blonden Haaren und mit Lurchenleder gefesselt. Auaua, warum hatte die harte Wirtin gestern eigentlich keine Schnapsbar? Habt ihr schön getanzt, ihr jungen Burschen? Irgendwie höre ich Schreie und stelle fest: In meinem Keller ist noch ein Rotarmist!! Aber immerhin geht‘s der Kuh noch gut! Jetzt aber erst mal nen Biber zum Frühstück - Dr. S.W. Pratajev, klären Sie bitte dieses seltsame Szenario auf!“
Wir wollen das gerne im Sinne des großen Dichters tun, sagen aber mittenmang, in Großbuchstaben, zunächst DANKE für den Tag auf der rockenden Spree! Danke dem unermüdlichen Marco wie dem Schatzmeister, der als Meister aller Schätze in die Historie dieses denkwürdigen Tages eingehen darf. Herrlich, schön, prächtig. Und vor allem: mediatorisch wertvoll. Schließlich hört man es nicht oft, dass keine Jugendlichen unter 16 Jahren auf ein Jugendschiff gelassen werden dürfen. Ein entsprechendes Werkhof-Schutzgesetz will es so und irgendwo steht da bestimmt neuerdings drin, dass Pratajevs Texte Jugendliche verderben. Wir wollen das nicht behaupten, nur vermuten. Und genau wie die Veranstalter bedauern wir die Abweisungen durch die Security am Steg sehr. Denn die Veranstalter traf keine Schuld; es brach uns gewaltig das Herz, als ganze Vatertagsfamilien am Steg wieder nach Hause geschickt wurden. In Russland hätte es das zu Pratajevs Lebzeiten nicht gegeben! Ein kleiner Trost an dieser Stelle soll die Ankündigung der Jubiläumsplatte der Doctors sein. Denn die trägt im nächsten Jahr den Titel: „Kinderlieder für Heimatlose“. Und, liebe Kinder, kommt alle zum Elbhangfest nach Dresden – Familiensonntag an der Grottenwirtschaft. Welche Abschweifung, denn ein Szenario harrt der Aufklärung.
Der Sound im Schiffsinneren, auf der Bühne ist ein Fest. „Profi am Mischpult macht gute Laune“ – so die Formel 1 auf musikalischen Reisen. Formel 2 ist reine Poesie: „Lecker gespeist und getrunken, gut verreist und gerne zurück gewunken“. Die Formeln 3 bis 100 erklären wir vielleicht später mal. Aber die Formel 101! Die gibt es selten, nämlich dann, wenn auch zu Ehren Pratajevs, mitten im Set, ein Feuerwerk gegeben wird. Es knallt, scheppert, blitzt und leuchtet am gegenüberliegenden Ufer. Rock AT Spree hat alles, was man sich wünscht und genau das, liebe Miss Ada, klärt das gesamte Szenario auf.