Herzscheiße auf 92,8 (261)


Durch die Musikerwohnung, schräg gegenüber vom gestrigen Blumeninferno, ziehen dichte Bratschwaden. Es ist kurz vor 10 Uhr morgens, als Doktor Makarios den Quell des Übels in Küchennähe ausmacht. Ein ehemals vegan lebendes, bunt verziertes Mädchen brät Pressfleisch in einer Pfanne und geht gerade dazu über, einen Klumpen Gouda darauf zu verteilen. Auf der Nachbarkochplatte blubbert ein Schlag Erbsen aus dem Glas. Ihr männlicher Begleiter klappert derweil mit letzten Kräften (die Nacht war lang) Teller und Besteck herbei. „Frühstück“ wird gerufen. „Um Himmels Willen“, rufen beide Doktoren nacheinander zurück. „Ein Kaffee wäre schön“, wagt Makarios den Quantensprung an Lebensfreunde. Wasser in Caropulver wäre möglich. Da wendet man sich lieber anderen Dingen zu. Doktor Pichelsteins angeschmutztes Beinkleid etwa bedarf dringend einer Reinigung, gesagt getan. Merke: Kleines Gepäck zur Tour entbehrt stets eine zuweilen notwendige Ersatzhose. Dann geht’s wieder rüber ins Flowerpower. Die Welt ist gerecht, hält heißen Kaffee vor - am Tresen sitzend ist sie jederzeit wunderbar. Guten Morgen, Stadt der Moderne, Druschba Chefwirt Danny! Die Sonne scheint. Alle sind tiefenentspannt; sogar die fleißig kehrende Reinigungskraft ist zum Philosophieren aufgelegt.

 

 

Draußen, unterm vorderen Autoscheibenwischer, klebt bereits ein Gruß des Chemnitzer Ordnungsamtes. Im Auftrag des, wie es heißt „gemeindlichen Vollzugs“ grüßt eine fesche Damenhandschrift, Vorname M-Punkt. Mehr ist nicht zu entziffern. „Pfff“, macht man da nur, stellt den Heimatlieder-Radiosender an und ab dafür. Zeit genug bis Dresden, also rasch runter von der Bahn, an der Elbe entlang, Richtung Meißen. Dampfer gucken, lecker Essen. Das ist das Ziel.

 

Funny van Dannen hatte Recht mit seinem Hit „Herzscheiße“. Was weibliche wie männliche Interpreten auf der MDR-Tourfrequenz 92,8 zum Thema Cor versus Kardia anführen, ist genauso gemeint, wie der verehrte Herr van Dannen es in seinem Lied beschrieb. Sätze wie „Liebe geht im Herzen los“, „Mein Herz schreit nach Liebe“ oder „Lass mein Herz endlich in Ruh“ sind keine Seltenheit. Als perplexer Zuhörer, diesem Herz-an-Herz-Irrsinn amüsiert lauschend, wähnt man sich beinahe auf dem zuletzt schwer in der Kritik stehenden Gebiet der Organspende. Wenn es heißt: „Mein Herz gehört nur Dir“, „Dein ist mein ganzes Herz“ oder „Lass Dein Herz bei mir“. Im Wunschtitel eines Hörers wird dann sogar noch auf den wehrlosen Hohlmuskel eingedroschen. Im nächsten (Textauszug: "Mein Herz ist verwundet") werden einem Nebenbuhler gleich Schläge androht („Was macht der Typ bei dir / Ich hau ihm gleich eine rein“ – jedenfalls so ähnlich; man kann sich das alles gar nicht merken).

 

Eindrucksvoll erschlagen, beinahe froh über manches Funkloch, wird ein Elbufer samt Restaurant „Zuessenhaus“ erreicht, die Mittagskarte studiert, in sonniger Sehnsucht bestellt. „Unsere Speisen werden alle frisch zubereitet; es dauert deshalb länger, bis sie nach ihrer Bestellung serviert werden“, ist kartenabwärts zu lesen. Nach knapp einer Stunde friedlichen Dösens darf dann göttergleich getafelt werden. Welche Freude!

 

 

Als die Doktoren lange Zeit später aufs Areal der Dresdener Chemiefabrik einbiegen, gezeichnet vom Stadtverkehr, bedingt durch weniger gloriose, verkehrstechnische Ampelschalt-Unfähigkeit der Stadtplaner, ist die Erleichterung allenthalben groß. Chefwirt Mario wird geherzt, das erste Felsenkeller schmeckt, die heutige Vorband heißt Herbst in Peking; Luft wird ergo geschwängert werden von berauschenden Substanzen. Es folgt ein Soundcheck der Doctors, einer mit h.i.p und ja, da sind sie wieder da. Wie man sie einst kannte. Dunkel, grenzpunktig, berlinböse, beatdurchtrieben, herbstlich eben. Schön, sich das später als ganzes Konzert anhören zu dürfen. Enjoy your personal demon! Noch ein Felsenkeller drauf. Seligkeit ist ein hohes Gut.

 

Auch heute wird’s rasch voll; die Pratajev-Forscher Winogradow und Eademakow seien hier stellvertretend, gemeinsam mit den Damen vom Orden des Gelben Fettfrosches, für alle Dichterfreunde genannt. Erste bis mittlere Eindrücke obsiegen, dass es eine lange Nacht werden wird, ja muss, denn Herbst in Peking lassen sich gerechte Zeit im Spielprogramm. Doch plötzlich schwingen sich die Doctors auf die Bühne; alles muss jetzt ganz schnell gehen. Jedes Kabel, jeder Stecker sitzt. Das Intro ertönt, die Beine sind zwar schwer von Schnapsbar-Kaltgetränken, doch der Chemnitz-Funke von gestern ist gleich da und zündet. Erste Punks liegen Doktor Pichelstein zu Füßen; es wird geprostet, von der Bühne gesprungen, gegrölt und mitgesungen. Eine Pause gibt es nicht, dafür erstmals „Frauen die wie Katzen kreischen“ live und in Farbe und so weiter und so fort.

 

Die Erlenholzgitarre erreicht zeitweise Schallgeschwindigkeit. Makarios hat es längst aufgegeben seinen Doktor zur rechten Seite in liedgerechte Tempo-30-Zonen zu führen. Knapp drei Stunden geht das so. Bis zur letzten Schnapsbar an einem Abend, der mehr als gelungen ist. In tiefer Nacht pustet man letzten Rauch aus den Lungen. Nichts wie ins Bett, das steht nicht weit von hier. Und der sanfte Regen spielt ein glockenhelles Kopfsteinpflaster-Mitsummlied dazu: Geh weg mit deiner Herzscheiße…