The other side of Erzgebirge (311)


Bevor über diesen Abend, privat ausgerichtet vom großen Holzfeiermeister Ernst Eiswürfel, berichtet wird, muss konsterniert werden: Frankenberg, in der Nähe der sächsischen Industriestadt Chemnitz verortet, gehört nicht und niemals zum Erzgebirge. Ein Satz, den die Doctoren immer dann hören, wenn es Richtung Mittelsachen geht. Ein Satz, den die Doctoren bereits hörten, als das Erzgebirge mit riesigen Räuchermännchen an den Wegen nicht mehr zu verleugnen war. Doch seinerzeit befand man sich eben in der Gegend des Erzgebirgsbeckens. Und natürlich niemals nicht im Gebirge. Gleich nach dem Eintreffen der Doctoren in der ehemaligen Garnisions- wie Divisionstadt wird darüber munter diskutiert. Man einigt sich schließlich auf die Präambel „Vorland“. Und so wird eben im Erzgebirgsvorland gespielt. Doctor Pichelstein kennt derlei aus Norddeutschland nur zu gut. Niemand möchte freiwillig „bei den Ostfriesen“ wohnen, weshalb große Teile dieses Landstriches unweit der holländischen Grenze vor langer Zeit bereits in „Emsland“ umgedeutet wurden. Obwohl es hüben wie drüben genauso aussieht. Wie, das sei dem Flachlandbetrachter überlassen. Landstiche zu dissen gehört sich nicht.

 

Dank DJ Thomas ist die Bühne bereits gerichtet. Der Blutgitarre des gestrigen Krause-Abends fällt Bewunderung anheim. Ständig muss Pichelstein die Finger vorzeigen, besorgt wird gefragt: „Kann man damit spielen?“ Und ob man kann, schließlich besteht der halbe Medizinschrank der tourenden Erben Pratajevs aus einer Ansammlung diverser Pflaster- wie Fixomulldreingaben. Woraus der andere Teil besteht, wird indes nicht verraten. Verraten wird nur, dass großes Geschick dazugehört, derart bepflastert zu Werke gehen zu können. Wo doch DAS Gitarren-Plektrum ständig an einer Unebenheit zwischen den Fingern hängen bleiben möchte. Die Kunst besteht einfach darin, während des Schnellspielens mit drei bis vier leicht dehnbaren Ellipsen in Händen loszulegen. Am Ende vom Lied hält man vielleicht nur noch ein einziges Plek zwischen den Fingern. Die verlustig geflogenen werden aufgesammelt und weiter geht’s.

 

 

Die ersten Gäste treffen ein. Herr B. aus C. schwört sogleich, heute Nacht nicht wieder zu Fuß von Frankenberg ins doch recht entfernte Chemnitz laufen zu wollen. Das Buffet eröffnet sich von selbst. Gepriesen seien Fettbemmen und gehaltvolle Salate. Pichelstein versucht sich am ersten endemischen Bier, Makarios bleibt zunächst bei dunklem Brausewasser, Fürst Fedjas Mineralien-Nachdurst ist groß. Aus den Musikboxen erklingen die Hits der 90er. Einzig Van Halens „Jump“ ging in der Auswahl verloren. Als DJ Thomas zurück vom Weihnachtsmarkt auftaucht, naht Rettung. Es wird Jazz-Rock geboten. Jazz-Rock der gefühlt 70er/80er Jahre mit poetischen DDR-Texten, abgespeichert im Laptop-Ordner „The other side of Schlager“. Doch genauso wie niemand Landstiche dissen sollte…. Jedenfalls hat der Grillmeister seinen Dienst aufgenommen, die Festspiele zu Frankenberg können nach leckeren Würsten beginnen.

 

 

Doch nein, noch nicht. Ein Hello-Kitty-Schnaps muss getrunken werden. Und noch einer. Dann stehen die Feldmänner am Rand. Alles, was dort noch gesichtet wird und ein „Der“ im Liednamen trägt, wird dargeboten. In leichter Wildheit freut sich’s verehrte Publikum. Der Applaus brandet wie die Nordsee bei Flut. Und dann kommen sie, die kleinen, gemeinen, erstaunlicherweise schon wieder richtig gut schmeckenden Schnapsbecher. Pichelstein wird der Mund damit gefüllt, Makarios nippt zunächst. Doch man kann nicht aus seiner Haut. Außerdem: Was würde denn das Feiervolk denken? Im Eishockey heißt es schließlich auch in Überzahl vorm gegnerischen Tor „Hinein, hinein“. Umso besser, dass bald Pause ist. Es folgt der Geschenkblock und Meister Ernst Eiswürfel macht reichlich Gebrauch davon. Als imposanteste Erscheinung wird eine Polyester-Lady im verführerischen Outfit gereicht. Nun, getreu dem eben gehörten „Gefesselt“ der Russian Doctors muss Hand dran gelegt werden. Mit „Beim Bücken“ ist hier kein Staat zu machen, denn die Lady ist ja aus Plastik. Die Doctors hingegen nicht und so jagt Konzertrunde zwei durch die Tischlerei. Tierlieder, Menschenlieder, Russenlieder. Makarios und Pichelstein geben alles. Es fliegen die Pleks, zischen die Biere, heute lässt es sich gut leben. Und als der letzte Ton verklungen ist, weiß jeder im Rund: Der Abend, die Nacht geht noch weiter. Und das ist, wie Pratajev es fürwahr ausdrücken würde: gut so, gut so, gut so, gut so.

 

Ist der Kittel abends weiß, zeugt das nicht von großem Fleiß (310)


Wieder neigt sich ein Doctors-Jahr dem letzten Kalenderriss entgegen, traditionell soll es im Leipziger Klein-Žižkov, in der „Frau Krause“, zu Ende gehen. Wo ist denn nur wieder die Zeit geblieben? Wie eh und je tafelt der Tross in seiner Stammecke Krause-Burger. Gutes aus dem Stall, panierte Schnitzel von glücklichen Schweinen. Dazu ein kräftiges Würzfleisch. Man muss schließlich vorsorgen, denn Erntedenkfeste im Leipziger Süden sind nicht von trockener Pappe. Sondern bisweilen eher geprägt durch orgiastische Stelldicheins, drollige Augenblicke, goldene Sterntalererlebnisse, fatalistische Glücksgefühle, die schon mal mit einer Stippvisite in der Notaufnahme enden. Doch wie heißt es so schön im Chirurgen-Jargon? „Ist der Kittel abends weiß, zeugt das nicht von großem Fleiß“.

 

Noch ist das gleichfarbige T-Shirt des Doctor Pichelstein frisch am Weiher gewaschen, noch trägt Doctor Makarios reinstes hasardeurschwarz. Pratajevs Zigarettengedichte stehen hoch im Kurs. „Der Frau mit dem Buckel beißen die Dackel in die Nase“ wurde eben erst in Grodno, in Weißrussland, entdeckt. Gar nicht langsam füllt sich die Gaststätte. In-Leute und Out-People ergänzen sich zu einer wunderbaren Melange. „Tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, sagen sie sich. Ganz im Sinne des großen Dichters. Und weiter: „Heute ist das Leben eine Kraft aus Gelbfroschwasserquelle und Erleuchtung, also schön“. Wie gut, dass die Bühne schon steht und man sich unter den Scheinwerfern ein Bild davon machen kann.

 

 

Auch in diesem Jahr weilen weitgereiste Gäste dem Krause-Geschehen bei. Vertreter Wismars, Berlins, Magdeburgs - um nur einige zu nennen. Doktor C.S, gerade aus Köln angereist: Schnell den Koffer im Hauptbahnhof verstaut und nichts wie los. Klein-Žižkov kocht mittlerweile wie in roher Schinken. Immer mehr Holzlöffler-Familien ziehen ein. Die Damen tragen Nudeln, denn „1000 Nudeln durchbohren mein Herz“, bald schon wird es erklingen, dieses in Putschmittel eingelegte Störfeuer russischer Breitkochkunst. Pratajevs Erben gönnen sich auf Anraten des Tourmanagers noch ein Schnäpschen. Abschlagen sollte man ihm nichts, denn der Fürst Fedja genannte ist ein weiser Mann.

 

Schon tanzt sie, die kleine Heldenstadt. Ihre heutigen Bewohner lieben die Wirte und verehren jeden freiwilligen Seegang. Makarios walzt die Lebensumstände Pratajevs feinfühlig aus, erklärt, singt, gibt den Takt vor, trägt Anekdoten, Geschichten vor. Pichelstein lässt die Gitarre wie ein Toaster erglühen. Noch gibt es Lieder als zum Teil freundlichen Mix aus Sonne und Wolken, doch dann erinnert sich der Gitarrist ans Versprechen, heute mindestens einmal am Weltrekord kratzen zu wollen. Bereits während die Löffelfamilie zur Apokalypse ruft, narren ihn Adrenalinschübe. Ein ums andere Mal eilt er Makarios davon wie ein Punker dem Strebergarten. Im zweiten Break der „Harten Wirtin“ ist es schließlich so weit. Die Schallmauer wird durchbrochen, Fingernägel fliegen, das Plektrum landet im Becherovka-Glas. Ein Massaker. Blut auf der Gitarre, auf dem Shirt, überall. Makarios zählt die Anschläge pro Sekunde. Und wenig später ist Pause.

 

 

Der Plan lautet: sitzen, verschnaufen, dann frisch ausgeruht in die zweite Runde gehen. Doch während Dr. Makarios all dies beherzigen kann, strecken sich dem armen Pichelstein Gedecke voller Gelbschnaps entgegen. Im Sinne Pratajevs und Prumskis muss es heißen: Flucht nach vorn, austrinken. Schon stehen sie wieder auf der Bühne, die Doctoren. Erntedankfeste in der Frau Krause dulden nun mal kein bankrottes Ende. Und so spielen sie, die Doctors. So tanzen, fallen, stürzen und lachen sie, die Menschen vor der Bühne. Als gäbe es kein Morgen. Heilige von der Stange sind sie glücklicherweise wahrlich nicht. Bis Dr. Pichelstein zwar noch die Saiten trifft, sich jedoch aus einem nicht näher erklärbarem Grund in den Kopf setzt, ständig neue Liedversionen zu erfinden. Von der Ska-Version der „Toten Katzen im Wind“ bis zum „Schnapsbar-Reggae“ ist alles dabei. Dann muss es gut sein, mehr Zugaben werden es nicht. „Der Abend ist gelungen“ klappt am Ende nur noch als Wiener Walzer. Und wenn man es genau betrachtet: So dreht sich die Frau Krause wahrlich auch in ihrer ganzen Becherovka-Seligkeit. Ein Königreich dem, der das Taxi erfand.

 

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