Hunger macht böse (309)


Am Mittag nach der Birkholz-Nacht, dem siebten Kaffee selbst gemacht, pocht nicht einmal der Kopfschmerz. So gut war der Schnaps. Im Doctoren-Schlafzimmer werden dreigliedrige Lieder gesummt und Fürst Fedja bricht den Duschrekord. Auf Reisen unterm Pratajev-Banner lohnt es sich sauber zu sein. Die Geschichte vom strengen Zöllner an der Grenze des wohlduftenden Geruchs wurde wohl auf einer Tour geschrieben. Auf geht’s hernach zum Käsehof, zur Bio-Molkerei. Schon blickt der Tross in die Problemzonen rubensfreundlicher Menschheit. Ein runder Käse ist aber nur ein runder Käse und steht dennoch bei manchem wohlgenährten Bauchumfang Pate.

 

Eine sehr dünne, dem Rundkäse gewiss abtrünnig gewordene Zuzug-Dame steht an der Kasse. Schlaue, gehorsame Kinder legen die Einkäufe auf den Tresen. Der ganze Spaß kostet 147 Euro und passt in drei umweltschonende Säcke hinein. Obschon die Zuzug-Dame am Speckgürtel Berlins ein Häuschen hat, gestaltet sich der gesamte Einkauf vegetarisch. „Das ist schon seltsam“, sagt ein Doctor. „Lass uns nach draußen gehen, Käse essen und Kuchen“, entgegnet der andere. Fürst Fedja hat es nicht so mit Käse. Er denkt vermutlich, da steckt Fisch drin. Ein ungelöstes Trauma, dass selbst Doctor Pichelstein weg zu therapieren nicht in der Lage ist. Dafür reicht die Heilkraft des Gitarrenspezialisten keineswegs aus. Weiter geht’s, drei Hobbits mit rasierten Füßen verlangt es nach dem Frühabendmahl.

 

Mittlerweile ist Wittenberg erreicht. Auf der Route Richtung Zerbst wurde man bisweilen weiteren Problemzonen gewahr. Ende September verschwinden nämlich mit einem Mal sämtliche Hinweisschilder der wertvollen Marke „Elbe-Restaurant“. Als hätte es sie nie gegeben. Unfassbar! Der Hunger ist groß. Und Hunger macht böse. Irgendwo muss doch noch so ein abgelaufenes Bifi herum liegen. Doch nein, nicht einmal das wird greifbar. An die Tankstellen will man nicht. Mit Bockwurst-Heißwasser-Gelege-von-letzter-Woche-Dienstag ist schon mancher Magen arg verstimmt worden. Makarios knurrt sich bereits selbst an. Fürst Fedja träumt laut von einem Schwan auf dem Grill. Dann endlich folgt die Erlösung auf dem Bremspedal: „Luther’s Brunnen“ (mit falschen Akzent auf dem S). Nichts wie abgebogen.

 

 

In "Luthers’s Brunnen" ist es allerdings genauso wie in Indien. Wer dort, in diesem komischen Land, einmal fröhlich lüstern die Speisekarte verlangte, wird am Ende feststellen, dass es immer nur das gibt, was auf dem Herd steht. Was auf einem Herd steht, ist also nie das, was auf der Karte steht. Ein Gericht wird heute immerhin feilgeboten. Hamster im Wickel, sprich: Kohlroulade. Du gütige Lutherstadt Wittenberg. Erst nach dem sehr leckeren Schmaus sind alle Beteiligten in der Lage, den weiteren Verlauf des Tages in Planung zu bringen. Doctor Pichelstein widmet sich auf dem Parkplatz der Gitarren-Bearbeitung, die Herren Makarios und Fedja stimmen nun schon viergliedrige Lieder an. Denn auf die Pilz (nicht auf die Pirsch) kann man nicht gehen. Zäune verhindern dies. Rotkäppchen bleibt für ewig weggesperrt.

 

 

Dann ist Zerbst der nächste Stopp, ein Ort, dem schon viel Pratajev widerfuhr. Umso trauriger stimmt es, dass der Club „k6“ für heute zum letzten Mal öffnet. Die verdorbenen Jugendlichen werden halt auch in Zerbst immer mehr. Jene, die sich tapfer um die Kulturarbeit mühen, dagegen weniger. Schade, schade. Im Laufe des Abends lassen sich die Doctoren so manche Club-Facette erklären. Es soll sogar Jugendliche geben, die geben nur zum Schein an, sich für die Kulturarbeit zu interessieren. In Wahrheit stehen die dann aber hinter der Theke und sind am Ende eines Kulturtages sowas von betrunken! Das darf nicht gutgeheißen werden. Insgesamt wird dennoch gehofft, dass Zerbst auf der Doctoren-Landkarte nicht verloren geht. Wie zum Beispiel Weimar, die Stadt Goethes und auch Pratajevs. Oder Schillers. So schön war es doch einst in Weimar, im Roxanne. Doch dann musste der Doctor Pichelstein… nein, das ist eine völlig andere Geschichte. Die heutige ist umso ergiebiger.

 

Draußen wird gespielt. Das zweite Open Air an einem Wochenende! Zunächst sieht alles danach aus, als hätten die Einwohner von Zerbst völlig vergessen, wie ein Russian Doctors-Konzert in seiner Gänze erblüht. Da wird nur am Anfang gebetet. Gebetet, dass man den Abend einigermaßen heile übersteht. Dennoch: Es dauert geschlagene fünf Pratajev-Weisen, dann brandet der Applaus, ist die stille Messe vorbei und aus dem Kyrie wird ein Furio Eleison.

 

 

Doctor Pichelstein legt Tempo auf der 2-Minuten-Titelstrecke vor; Doctor Makarios bleibt nichts anderes übrig, als das Genre zu wechseln. „Auch die Ratte hat ein Herz“ wird entsprechend mit einem Sanges-Rap versehen, der „Biber“ mit einem Death-Metal-Uah. Eine Pause ist nicht vorgesehen und so jubelt das Volk, so dreschen und preschen die Doctors von Rekord zu Rekord. Fürst Fedja ist im Trankes-Flow. Welch verheißungsvoller Ort dieses schöne Zerbst doch ist. Die Doctoren leben ihren Pratajev-Rochus aus, die Erben und Erbinnen Katharinas der Großen werden nicht mehr müde. Schweißbäche sorgen für salzige Momente und Sensationen auf der Haut. Schlussendlich muss es gut sein, die Kultur verlangt ein Opfer. Im großen Saal geht’s weiter mit schwer erziehbarem Rock. Danke, liebes K6. Die Doctors durften noch einmal hier sein. Mit Hamstern im Bauch und Krautwickeln dazu.

Der brandenburger Minus-Kilometer (308)


Was für ein Freitag bei herrlichem Sonnenschein, Zeit für eine Landpartie. Mit einem optimistisch anmutenden Pilzkörbchen im Gepäck brechen die Doctoren in die Heimat Helga Bauers auf. So verschollen die Erinnerung an Pratajevs gleichnamige Geliebte auch mittlerweile ist, so prächtig leuchtet weiterhin die Sonne über Brandenburg. Fürst Fedja tankt sich durch enge Gassen, schmale Wege und auch Bundestraßen, denn der Weg über die Autobahn ist laut Karte nun mal wirklich länger. Und wenn der Traktor vorm Tourauto mal doch zu langsam ist, lohnt es sich mit der Front daran kleben bleiben und aus dem offenen Wagenfenster heraus ein paar vorbeifliegende Insekten zu verprügeln.

 

Ein wunderlicher Augenöffner sind mancherorts die Entfernungsangaben auf briefkastengelben Hinweisschildern. Der Zieletappe Oranienburg scheint man beispielsweise einfach nicht näher zu kommen. Das metrische Systems Brandenburgs enthält folgedessen den sogenannten Minus-Kilometer. Stopps auf Dorfdurchfahrten erweisen sich darunter als großes Spaktakulum für die Landbevölkerung. Aber da sich die Doctors ja im Kosmos der Minus-Zeit befinden, könnte, nein, müsste es so sein, dass folgende Beobachtung in Echtzeit ein paar Kalenderabrisse vorab stattfand.

 

Das ist die, zugegebenermaßen unspektakuläre Beobachtung: Ältere, beschürzte Damen fegen vor einer Kirche Laub zusammen, ihre Männer träumen vom Wirtshaus und harken Beete. Fürst Fedja parkt den BMW halb auf der Straße, so dass sich im starken Durchgangsverkehr auf dieser zweispurigen Straße ein mächtiger Rückstau bildet. LKW-Fahrer fluchen, dem Tross ist’s egal. An warmer Abendluft wird geraucht.

 

 

Dann stehen sie da, am Wegesrand. Die ersten Pilze sind in Sichtweite. Der durch seine bestechend scharfen Rennsport-Leistungen auf der Kurzstrecke einmal mehr verehrte „Driver of the Pack“ (wie ihn Hollywood bezeichnen würde) Fürst am Steuer seines bayerischen Feuerblitzes schafft es tatsächlich, wieder in die Echtzeit zu gelangen. Pilze! Doctor Makarios hält kein Wasserfall mehr auf, es wird gesammelt, nicht gejägert, und so trudeln Pratajevs-Tourerben mit ein wenig zu sehr verflossener Zeit auf der Uhr schließlich in der Gemarkung Birkholz ein. Das Hallo ist groß, kulinarische Köstlichkeiten aus skandinavischer Küche gibt es so weit Elch und Auge um die Ecke gucken können. Die Sternenfänger Kalfei Schafowitzsch und Gattin Erna Macheta wissen eben, was lecker ist. Und dass man vor jedem Gedanken ans Schmausen stets einen Schnaps vertilgen sollte, ist oberstes Gebot. Solchem Brauchtum folgt fürwahr Forscher Eademakow als würdiger Vertreter der Landeshauptstadt ohne zu zögern. Der Teschendorf-Express vollendet die Riege der Denker, Trinker und Lenker. Baumfreund Ekmel samt Leuchtfeuer-METchen halten die Fahne des Löwenberger Landes hoch. Freudig geherzt wird Teschendorfs Sangesgott Joachim.

 

 

Kurz vor Sonnenflucht am weichgespülten Horizont macht sich Doctor Pichelstein ans Werk, muss der Bühnengrund doch langsam mal mit Inhalten gefüllt werden. Die sehkraftverstärkende, großkalibrige Sonnenbrille nützt da wenig und wird beiseite gelegt. Rastlose Kinder tollen herbei, wollen in jedes Mikrofon singen, dem heillos überforderten Gitarrendoctor helfen, spielen mit Kabelsalaten und bewundern Gitarren. Dann fällt auch noch der linke Boxenkanal aus. Verzweifelt wird ins Telefon gerufen: „SOS. Die Herren, wo sind sie?“ – „Direkt neben ihnen, gleich dreißig Zentimeter“, ruft Fürst Fedja in den kleinen Flachbildautomaten hinein. Vielleicht sind Kontaktlinsen auf Dauer keine schlechte Lösung, lieber Doctor Pichelstein. Auf Dauer, denn der Mensch braucht Fernziele, selbst wenn er sie auf kurze Sicht nicht zu erkennen vermag.

 

Dann geht‘ los, Pratajevs Weisen erklingen über Wiesen, Felder und Meisenhäuser (womit nicht die nächste psychiatrische Heilstätte gemeint ist). Pichelsteins Terrierkünste auf der Gitarre verleiten Makarios zur hurtig dargebotenen Best-of-Melange, stets begleitet von der Fürsorge Kalfei Schafowitzschs. Der Becherfüller vor dem Herrn bittet die Gattin zum Tanze. Jeder Schluck ist auch heute wahrlich ein guter Schluck. Sangesgott Joachim führt den Chor der Weisen an.

 

Mittig des Kulturbeitrages wird – es wurde aber auch wirklich Zeit – Carinina Zapfinska Guinnessoff, die „Harte Wirtin“, in die Pratajev-Gesellschaft eingeführt. Coach Brotnowaljow Numski Guinnessoff schwenkt stante pede die Gelbschnapsflasche, schon ist die Weihe in ganzer Perfektion nicht mehr zu überbieten. Und so treiben sie der lauen Sinne entgegen, die Gäste, The Russian Doctors, die furchtlosen Kinder. Fürst Fedja wird zum Grillmeister der schwarz-güldenen Kohle ernannt und am Ende der Nacht, kurz vor der berüchtigten Fahnenstange, ist wirklich jeder Tropfen ausgetrunken. So muss es sein, nicht anders, deshalb fein.

 

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