Ein Mittelwellenkonzert (319)


Wau. Winterschlussverkauf - der erste Frühlingstag und alles muss raus. Eben noch in Minusgradpullis begraben, schon stromern die Menschen durch die Parks. Rauchschwaden steigen auf, es wird heftig gegrillt. Sie tragen Bierflaschen spazieren, wandern, hüpfen und springen, als gäbe es kein Morgen. Auf dem Weg zum heutigen Heimspiel im Flowerpower erblickt Doctor Pichelstein dann eine Trauerzeremonie. Junge Abiturienten, alle schwarz gekleidet, zieht es in die Peterskirche an der Riemannstraße. Viele Schmike-Damen tragen im Gesicht Brille (horny und schwarz) an den Füßen wohl erstmals im Leben Stöckelschuhe. Ist das Abitur im Jahr 2015 zur Katharsis verkommen? Was ist nur los? Eine sinistre Frage, die sich in den nächsten zwei Stunden den Doctors noch oft stellen wird.

 

Im Flowerpower lautet die Begrüßung der Techniker 1 und 2 ungefähr so: „Tut uns leid, die Bässe in den Frontboxen sind durch. Wir haben aber eine ganz ausgefuchste Idee. Diese beiden Monitore hier schieben wir fußwärts ans Publikum. Da gehen die Bässe, sie stampfen und wandern, und so gleicht sich der Sound wieder aus. Toll, was?“ Beide Doctoren staunen. Sie staunen weiter, weil keine Mikros und nur ein windschiefes Stativ vor Ort sind und staunen umso mehr, als die vor mittlerweile einer Stunde geborene Beschallungsidee an gebrochenen Kabeln, defekten Mischpultspuren, an der großen Unbekannten straff scheitert. Doctor Pichelstein hilft zwar mit eigener Kabeltrommel, aber auch das nützt nichts.

 

 

Die Techniker sind aufgebracht. Sie telefonieren Verstärkung herbei. Techniker 3 zuckt nach wenigen Augenblicken mit den Schultern und spricht den Satz des Soundchecks: „Komm mir nicht mit Technik“. Er hätte auch sagen können: Man kann ein Kilo Pferdeäpfel einfrieren – es bleiben Pferdeäpfel. Allen, den Doctors inklusive, steht banger Schweiß auf der Stirn. Sollte erstmals ein Flowerpowerkonzert scheitern? Nein, nicht mit Doctor Makarios und nicht mit Doctor Pichelstein, denn jammern verhilft bekanntlich nicht zum Olympiasieg. Running Fürst Fedja besorgt rasch fehlendes Equipment, Doctor Pichelstein kündigt ein Mittelwellenkonzert an und der Laden wird voll und voller. So soll es sein. Jetzt bloß mal was essen, eine Grundlage schaffen. Man weiß ja, im Flowerpower fließt der leckere Kräuterschnaps von allen Seiten nur so auf die Bühne herein. Bis zum Beginn um 22 Uhr sind es noch ein paar Uhrzeigersinne. Makarios, Fedja und Pichelstein knabbern sich durch den organisierten Pizzavorrat und Tresenchefin Ramona hat trotz aufbrandenden Ansturms immer schnell einen kühlenden Drink für die Doctoren. So muss es Pratajev ergangen sein - und die Doctoren brechen an dieser Stelle mal explizit eine Lanze für die Dirigentin der Getränke.

 

 

 

Dann läuft das Intro, und während es noch läuft, knackt es bedrohlich aus den Volksempfängern an der Decke. Ein Trommler zieht darin ein. Ein recht unrhythmischer Geselle. Nach den ersten heiß umjubelten Pratajev-Weisen fehlt nur noch, dass die Boxen Feuer speien. Nein, das passiert aus dem Stegreif nicht und die Doctors wären nicht die Russian Doctors, wenn sie nicht jede erdenkliche Situation im Leben meistern könnten. So gehört der heimliche Trommler eben zum Konzert wie der Schnaps, der wie erwartet zahlreich fließt. Vor der Bühne wird gesungen, getanzt. Frühling ist’s in den 70ern mit Flowerpower. Makarios trägt frisch geerntete Pratajev-Bonmonts vor; Pichelsteins Gitarre liefert sich mit dem Trommler heiße Kämpfe und gewinnt natürlich auch diese Challange. Ein Geburtstagsständchen gibt’s auch: „Löcher im Strumpf“. Der Chemnitz-Umland-Fraktion sei Dank, gibt’s als Beweis auf Youtube. Mit der Harten Wirtin geht’s Richtung Pause.

 

 

Zwanzig Minuten später brechen alle Dämme bereits beim Rotarmisten und so peitschen sich die lieben Menschen im Rund in den Zugabeblock hinein. Eademakows Brotschnaps aus dem Erzgebirge fließt körnig, souverän meistern die Docs ihr erstes Mittelwellenkonzert in der mittlerweiweile 12-jährigen Geschichte. Dann heißt es: Raus an den Schnapsbar, Poster unterschreiben, Bäuche unterschreiben, Vergabe des feuchtfröhlichen Titels „Weitgereiste Doctors-Entourage“. And the Winner is: Nürnberg! Ein ganzer Bus voller Franken. Herrlich! Man möchte sich vor Freude, ganz im Sinne Helga Bauers, eine Kette aus frisch gepflückten Hagebutte um den Hals binden und schicklich damit leuchten.

 

Fett, einäugig, revolutionär (318)


Streng blickt der steinerne Nischel, als der Pratajev-Tross Chemnitz verlässt. Die Nacht war kurz im Hotel Mercure; den Äußerungen des Fürsten Fedja ist zu entnehmen, dass Doctor Pichelstein zu früher Lerchenstund‘ ein Liedchen summte oder sang. Jedenfalls so erhaben und ausdauernd, dass die Fürst Fedja-Nacht in Zimmer 2001 noch knapper verlief. Und im Fernsehen gab es nicht mal Schieß-Filme. Ausgiebig gefrühstückt wurde dann bei Danny samt Hund im Flowerpower, darunter: die feierliche Übergabezeremonie eines Siebdruckbildnisses der „Trinkerin“ aus Pratajevs Malerphase.

 

Fast ist es April und genauso benimmt sich das Wetter. Von Sonne bis Hagel ist dabei. Ein Ausflug ins tiefe Mittelsachsen steht an. Ziel ist des Doctor Makarios‘ Kinderstubenheimstatt Grimma. Es geht dorthin, wo die Flut öfter mal böse zu den Menschen ist, wo Mühlsteine und Wasserräder einst die Vorratskammern mit Sonne und Brot befüllten, an Rochlitz vorbei. Dorthin also, wo einst die heute völlig zu Unrecht vergessenen Wettiner herrschten, wo Markgraf Dedos Schlankheitskuren gründlich misslangen. „Fett, einäugig, revolutionär!“ rufen sich die Doctors im Auto, bei jeder Raucherpause, zu und der nach wie vor dem Spirit(us) entsagende Fürst Fedja nickt mit ruhmreicher Gestalt. Es geht ihm also wieder besser, doch nach wie vor gilt die Dreiviertel-Askese. Das fehlende Viertel beklagt: Hunger. Also wird eingekehrt. Ins „Gasthaus zur Wassermühle“ auf Bärlauchsuppen, Roulade, auf Knoblauchsteak, Tafelspitz und so weiter. Frau Spick-Schneider bedient zuvorkommend - wie einst die Mägde Dedos. Man möchte ihr vor Wonne… nein, möchte man nicht. Denn das gehört sich nicht. Spannend ist, wie eine hochbetagte Seniorin am Nebentisch mit nur drei sichtbaren Schneidezähnen in Windeseile ein Rumpsteak zerkaut und verdrückt. Große Kunst, großes Mittelsachsen.

 

Dann geht’s weiter über Stock, Stein und vor allem durch gewagt konzipierte Kurven. Hier, im Muldental, wird die Lebenserwartung noch in Fahrstunden gemessen. Vorbei rasen gedankenlose Freizeitraudis mit schadhaften Köpfen ohne Haare. Wer hat bloß diesen Trend gesetzt? Viele junge Männer, denen bereits in der sogenannten „Saftphase“ eines Lebens kreisrund die Haare ausfallen, entscheiden sich eines frühen Vormittages für eine Komplettrasur. Man sieht dann immer so schadhafte Stellen auf dem Kopf, möglicherweise vernarbte Areale, die so aussehen, als hätte eine Ex-Freundin mal mit dem nach oben offenen Sektglas darauf herum gedrückt. Oder zugeschlagen. Aber das wollen wir Ex-Freundinnen gar nicht zutrauen. Obwohl denen einiges zuzutrauen ist! Auch in Gegenden der 1. Vorstufe des Erzgebirges, wie Doctor Makarios quizrichtig bemerkt. Wahrlich, die Umgebung Torgaus gehört bereits zum Erzgebirge. Da gibt es nichts zu leugnen.

 

 

Nach Mahlzeiten soll man ruhen. Auf ins Torgauer Hotel Central. Noch zwei Stunden, bis der Tross an der Kulturbastion erwartet wird. Einer arbeitet (Doctor Pichelstein - muss ja nach jedem Konzert neue Gitarrensaiten aufziehen), einer schläft (Doctor Makarios), einer guckt endlich (!) Schieß-Filme (Doctor Förster). Dann nichts wie los, denn in der Bastion warten bereits die Brötchenteller, wartet ein nagelneuer Kühlschrank auf Entleerung. Es ist immer wieder unglaublich, wie gastfreundlich das KAP-Team ist, wie es jedem noch so anstrengendem Musikertag (schlafen, fahren, essen, schlafen) ein Schleifchen zu binden in der Lage ist. Selbst der Soundcheck fühlt sich so unbeschwert gemütlich an, als säße man in Pantoffeln vor einem Liebesfilm, in dem ein strammer Wettiner, dem noch keine Haare ausgefallen sind, raue Brautwerbung betreibt.

 

Dann erscheint Schnapsbrenner Gurt Kaktus im Backstage; es hagelt Geschenke. Zwei Flaschen Campa Orange für die namhaften Dedos, nein, Doctors dieser Welt (bzw. dieses Abends) stehen neben Pratajev-Zigarren, einem sicherlich mundgeblasenem TRD-Aschenbecher usw. im Mittelpunkt des erlauchten Geschehens. Rührender Dank folgt auf dem Fuße und dann schaut schon der Blumenkohl aus der Schnitzelbeilage paniert hervor. Danach einen Campa Orange, einen Brand aus Obst. Und danach und danach und danach geht das Konzert auch los.

 

 

Obschon der Bar-Bereich gewiss vollere Zeiten erlebte – in der 1. Vorstufenregion des Erzgebirges gibt es immer mal Ausfälle durch unaufschiebbare Familienangelegenheiten, durch drei Tropfen Regen zu viel und auch drei Tropfen Regen zu wenig - treiben die Angekommenen beide Doctors zu Höchstleistungen. Besessen von unwiderstehlicher Vergnügungssucht wird umso lauter applaudiert, setzt sich pratajevsches Brauchtum in Stimmen und Gitarrengewittern durch. Kurz wird nach einer Stunde diskutiert, ob eine Pause dem Russissmus-Reigen zuträglich wäre. Sie wird genehmigt. Und natürlich gibt es immer wieder Campa Orange, gelben Schnaps und auch weißen.

 

Mit lieblich verschatteten Blicken folgt drei Zigaretten später der nächste Konzertblock. Getrieben vom Dunkel, vom Hell Pratajevs schlottern sich alle in die Zugaben hinein und zum Schluss bleibt auf der Bühne nur noch Doctor Pichelstein übrig. Längst ist Doctor Makarios hastig über die Showtreppe entschwunden. Doch er kommt wieder, zu sanften Klängen aus dem Erlenholz. Er kriecht herein in die Hütte. Auf allen Vieren. Das hat es nicht mal in fast 30 Jahren Die Art gegeben. Dann wird final auf der Showtreppe gesessen. Für ein letztes Lied, so sanft, so zart, mit sicherem Blick aus klaren Augen. Willkommen zuhause, Pratajev.

 

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