Der brandenburger Minus-Kilometer (308)


Was für ein Freitag bei herrlichem Sonnenschein, Zeit für eine Landpartie. Mit einem optimistisch anmutenden Pilzkörbchen im Gepäck brechen die Doctoren in die Heimat Helga Bauers auf. So verschollen die Erinnerung an Pratajevs gleichnamige Geliebte auch mittlerweile ist, so prächtig leuchtet weiterhin die Sonne über Brandenburg. Fürst Fedja tankt sich durch enge Gassen, schmale Wege und auch Bundestraßen, denn der Weg über die Autobahn ist laut Karte nun mal wirklich länger. Und wenn der Traktor vorm Tourauto mal doch zu langsam ist, lohnt es sich mit der Front daran kleben bleiben und aus dem offenen Wagenfenster heraus ein paar vorbeifliegende Insekten zu verprügeln.

 

Ein wunderlicher Augenöffner sind mancherorts die Entfernungsangaben auf briefkastengelben Hinweisschildern. Der Zieletappe Oranienburg scheint man beispielsweise einfach nicht näher zu kommen. Das metrische Systems Brandenburgs enthält folgedessen den sogenannten Minus-Kilometer. Stopps auf Dorfdurchfahrten erweisen sich darunter als großes Spaktakulum für die Landbevölkerung. Aber da sich die Doctors ja im Kosmos der Minus-Zeit befinden, könnte, nein, müsste es so sein, dass folgende Beobachtung in Echtzeit ein paar Kalenderabrisse vorab stattfand.

 

Das ist die, zugegebenermaßen unspektakuläre Beobachtung: Ältere, beschürzte Damen fegen vor einer Kirche Laub zusammen, ihre Männer träumen vom Wirtshaus und harken Beete. Fürst Fedja parkt den BMW halb auf der Straße, so dass sich im starken Durchgangsverkehr auf dieser zweispurigen Straße ein mächtiger Rückstau bildet. LKW-Fahrer fluchen, dem Tross ist’s egal. An warmer Abendluft wird geraucht.

 

 

Dann stehen sie da, am Wegesrand. Die ersten Pilze sind in Sichtweite. Der durch seine bestechend scharfen Rennsport-Leistungen auf der Kurzstrecke einmal mehr verehrte „Driver of the Pack“ (wie ihn Hollywood bezeichnen würde) Fürst am Steuer seines bayerischen Feuerblitzes schafft es tatsächlich, wieder in die Echtzeit zu gelangen. Pilze! Doctor Makarios hält kein Wasserfall mehr auf, es wird gesammelt, nicht gejägert, und so trudeln Pratajevs-Tourerben mit ein wenig zu sehr verflossener Zeit auf der Uhr schließlich in der Gemarkung Birkholz ein. Das Hallo ist groß, kulinarische Köstlichkeiten aus skandinavischer Küche gibt es so weit Elch und Auge um die Ecke gucken können. Die Sternenfänger Kalfei Schafowitzsch und Gattin Erna Macheta wissen eben, was lecker ist. Und dass man vor jedem Gedanken ans Schmausen stets einen Schnaps vertilgen sollte, ist oberstes Gebot. Solchem Brauchtum folgt fürwahr Forscher Eademakow als würdiger Vertreter der Landeshauptstadt ohne zu zögern. Der Teschendorf-Express vollendet die Riege der Denker, Trinker und Lenker. Baumfreund Ekmel samt Leuchtfeuer-METchen halten die Fahne des Löwenberger Landes hoch. Freudig geherzt wird Teschendorfs Sangesgott Joachim.

 

 

Kurz vor Sonnenflucht am weichgespülten Horizont macht sich Doctor Pichelstein ans Werk, muss der Bühnengrund doch langsam mal mit Inhalten gefüllt werden. Die sehkraftverstärkende, großkalibrige Sonnenbrille nützt da wenig und wird beiseite gelegt. Rastlose Kinder tollen herbei, wollen in jedes Mikrofon singen, dem heillos überforderten Gitarrendoctor helfen, spielen mit Kabelsalaten und bewundern Gitarren. Dann fällt auch noch der linke Boxenkanal aus. Verzweifelt wird ins Telefon gerufen: „SOS. Die Herren, wo sind sie?“ – „Direkt neben ihnen, gleich dreißig Zentimeter“, ruft Fürst Fedja in den kleinen Flachbildautomaten hinein. Vielleicht sind Kontaktlinsen auf Dauer keine schlechte Lösung, lieber Doctor Pichelstein. Auf Dauer, denn der Mensch braucht Fernziele, selbst wenn er sie auf kurze Sicht nicht zu erkennen vermag.

 

Dann geht‘ los, Pratajevs Weisen erklingen über Wiesen, Felder und Meisenhäuser (womit nicht die nächste psychiatrische Heilstätte gemeint ist). Pichelsteins Terrierkünste auf der Gitarre verleiten Makarios zur hurtig dargebotenen Best-of-Melange, stets begleitet von der Fürsorge Kalfei Schafowitzschs. Der Becherfüller vor dem Herrn bittet die Gattin zum Tanze. Jeder Schluck ist auch heute wahrlich ein guter Schluck. Sangesgott Joachim führt den Chor der Weisen an.

 

Mittig des Kulturbeitrages wird – es wurde aber auch wirklich Zeit – Carinina Zapfinska Guinnessoff, die „Harte Wirtin“, in die Pratajev-Gesellschaft eingeführt. Coach Brotnowaljow Numski Guinnessoff schwenkt stante pede die Gelbschnapsflasche, schon ist die Weihe in ganzer Perfektion nicht mehr zu überbieten. Und so treiben sie der lauen Sinne entgegen, die Gäste, The Russian Doctors, die furchtlosen Kinder. Fürst Fedja wird zum Grillmeister der schwarz-güldenen Kohle ernannt und am Ende der Nacht, kurz vor der berüchtigten Fahnenstange, ist wirklich jeder Tropfen ausgetrunken. So muss es sein, nicht anders, deshalb fein.