Am schönsten ist die Welt, wenn alle schlafen (434)

 

Da kein aufgeweckter Klimaschützer die Russian Doctors samt Backline auf einem üppigen Lastenrad heute nach Magdeburg zu transportieren gedenkt, muss der Tourgolf das eben erledigen. Dumm nur, weil wegen einer Klimaschützer-Kundgebung rund um den Flughafen Leipzig-Halle entsprechend mehr Abgas-Umwege-Kilometer drauf gehen. Und auch die vielen Mannschaftswagen der Demo-Bereitschaftspolenten, die an Wegesrändern der Umleitungen zu erspähen sind, kamen nicht auf E-betriebenen Flügeln daher. Bratwurst und Kaffee wird im Team Blau von Uniform zu Uniform gereicht.

 

Es ist früher Samstagnachmittag unter mausgrauen Hochnebelfeldern, die die Sonne erst nach dem Passieren der A14-Bodebrücke zu knacken vermag. Anschließend wird's eine feine, strahlende Rutsche. Von geriatrischen Notfällen bis zu PS-Porno mit aufgeblähten Bockwurst-Ärmchen im Rückspiegel keine Spur.   

 

Ziel des Tagesritts ist das Bluenote in einem besseren Stadtteil Magdeburgs, in Stadtfeld. Wo Dressurreiter der Apokalypse Teufelchen an Wände malen und kein Obi-Handwerker fasziniert auf Silikon-Brüste starrt. Wo malade Sorgen des Lebens wie Rost von einem abblättern und den gegebenen Umständen maximaler Lebensgenuss abgetrotzt wird. Allerdings, die Docs werden es später noch live vor Ort erfahren, es auch keine aufgeräumten Keller gibt. Was aber für sämtliches Magdeburg gilt, glaubt man der Wirtin, und die muss es wissen. Merke: Niemals einer Wirtin widersprechen.

 

Heureka! Carsten hatte neulich Geburtstag. Jung ist er geworden und die Docs dürfen samt Pratajevs Klanggewitter aus der Torte steigen. Das Buffet ist längst eröffnet, der Spezialitätengrill steht unter wohligem Dampf. Die Bluenote-Belegschaft arbeitet mit cooler Hand-Auge-Koordination, kein leeres Glas bleibt unbefüllt.

 

 

 

Als das 1:0 des 1. FC Magdeburg gegen Kaiserslautern (gleichzeitig der gefeierte Endstand) fällt, stehen die Docs justament im (natürlich) unaufgeräumten Keller des Clubs und sondieren die Lage zum Hochtransport einer Anlage zur Beschallung des Publikums. Lange wurde hier - coronabedingt - nicht mehr live gespielt; gleich zwei mumifizierte Mischpultspinnen zeugen davon.

 

Es folgen tatkräftige Handgriffe, perlnasse Schaltversuche, schlussendlich stimmt der Sound im Check. Am liebsten möchte man gleich loslegen und ein paar Pratajev-Wunderkerzen abbrennen. Aber nein, das Buffet duftet einfach zu gut. Und erst der Grill! Wäre der urlaubende Tourmanager Frank The Tank heute anwesend, oh ja, er wäre sehr glücklich und sähe die Lage rasch klar. Wie nach zwei Litern Küstennebel intus.   

 

 

Das Konzert startet mit perfektem Schaukelüberschlag. Pichelstein schleudert gleich mal das Plektrum über die Bühne, Makarios beschenkt Carsten nach „Wodka Wodka“ passend mit einer Flasche Bulbash und vermittelt große Sauflaune. Das Publikum hat kein schlürfendes Barshipping im Sinn - dafür greift der Spaß (nach ehedem langer Konzertabstinenz) viel zu rasch um sich und steigert sich von Songknospe zur vollen Blütenpracht. Mit unverkennbarer Dunkelstimme führt Makarios durchs Set und treibt Pichelstein zu Hochglanzleistungen.

 

Am Ende steht fest: Germanys Next Top Model-Gitarrist knackte die nächste Schallwelle im Schnellgitarrespielen. Weiterhin: Live-Weltpremiere feierte die „Schweigende Schwester“ (in der kommenden EP-Version). Und: Nach erster Kaltgetränke-Verschnaufpause dauerte es 23,5 Minus-Minuten, bis die Docs wieder auf der Bühne standen und ein Hit-Feuerwerk abbrannten. Weiterhin: Der Zugabeblock (mit Löcher im Strumpf-Chor) schnappte kurz nach 23 Uhr nachbarschaftsgerecht zu. Und, last but not least: Nass wie die Badepudel lagen sich die Docs in den Armen und strahlten übers ganze Gesicht. Auf an die Schnapsbar, man kann ja schließlich nicht immer bloß drüber singen.  

 

Nach einer Schar Kräuterschnäpsen geht’s gefühlt sehr viel später um die Ecke, ins Best Western Hotel Geheimer Rat, und es wird keine Stunde mehr dauern, bis Doctor Pichelstein diese Zeilen an Wände pinseln möchte: Am schönsten ist die Welt, wenn alle schlafen. Frisch geduscht und gerne in einer malerischen Spätsommernacht wie dieser. Dickes Danke lieber Carsten!  

 

Bild 2: Mina Sommer

 

 

Glück findet man dort, wo man es nicht verloren hat (433)

 

Längst hätte sie da sein sollen, die nächste LP der Russian Doctors samt EP und CD. Doch Pustekuchen wegen a) weltweiter Vinylknappheit und b) Auftragsstau im Presswerk. Jede im Pratajev Klangtheater Leipzig aufgenommene - und durch Tonmeister Dr. Jeans veredelte - neu interpretierte Liedweise wurde gar mit einem eigenen ROSTA-Fenster nach Art sowjetischer Propaganda-Plakate beschenkt.

 

Wir erinnern uns: ROSTA-Fenster wurden einst von der russischen Telegrafen-Agentur ROSTA (später Nachrichtenagentur TASS) u.a. als Wandzeitungsbilder herausgegeben. Sie entstanden in Zusammenarbeit mit Künstlern wie Vladimir Majakovski und behandelten politische, militärische und wirtschaftliche Themen.

 

 

 

Kein geringer als der Meister des Ypsilonminus, Jasper Fryth, zeigt sich für die Pratajev-ROSTA-Kunst verantwortlich. Noch nie gehört? Jasper Fryth? Doch! Vielleicht unter anderem Nickname. Als Gitarrist Hodscha F (bei Die Zucht, Die Art, Mad Affaire) oder als Hochschullehrer im Bereich Medien und Kommunikation (André Friedrich).

 

 

 

Der Zufall wollte es jüngst, dass KPJ, Kunst-Kurator des UKL, eben jenen Jasper Fryth auf einer Leipziger Straße traf. Wiedertraf muss man sagen, denn die beiden kannten sich noch aus fülligen Langhaarzeiten unter frivol-musikalischen Revolten der Vorwendezeit. Damals wechselte eine Neu Rot-Gitarre den Besitzer, jetzt war es eine Telefonnummer, und schwuppdiwupp ward eine Ausstellung im oberen Stockwerk der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie realisiert. Inklusive jener ROSTA-Fenster-Werke, die Jasper Fryth für die Doctors Platte „Die Schönen und die Bösen“ angefertigt hatte. Was lag da näher, als die Docs unplugged zur Vernissage herzubestellen?

 

Und so trifft man sich gegen 17 Uhr vorm Haus 1 des UKL in der Leipziger Liebigstraße, bespricht dies und das, bevor es – nach kurzem Impfcheck – forschen Schritts in die Ausstellung geht.

 

 

 

Tja, wie schön. Pratajev ist eben kein Dichter mit Verfallsdatum und inspiriert, ja sensationiert bis heute. Zwar werden die folgenden zwei Stunden keine gewohnt pompöse Party mit Trink-Feier- und Flirtfaktor, nein, es wird sogar Saft gereicht. Und das Publikum steht damit zur Laudatio, beim Konzertbeginn erwartungsfroh im Halbrund.

 

Makarios stimmt den „Baffen“ an, Pichelstein tunkt die schwarze Erlenholzgitarre souverän in göttliche Pratajev-Paste und legt allumfassend los. Es folgt eine süßlich gezupfte „Zarte“, ein brachialer „Fauler“ und ein lachender „Gärtner“ zum jeweils goutierenden Applaus.

 

Wie heißt es so schön in einer kleinen Umdichtung? „Glück findet man dort, wo man es nicht verloren hat“ (Twitter Goethe). So ein Glück … heute hier sein zu dürfen und staunend mit einem Blumengebinde vor schöner Kunst zu stehen.

 

 

Unterkategorien