Die Nacht ist voller schwarzer Luft, wie man nur in Wien sagt (442)

 

So schmilzt die Zeit. Mittlerweile ist Ende März und nicht ein einziges Konzert durfte in diesem Jahr aus Gründen gespielt werden. Umso glücklicher sind die halbgenesenen und vollgeimpften Docs über den heutigen Tag der 3. Bulbash Masters im Wohnzimmer Stallwache. Der nicht nur wohlduftende Narzissen mit sich bringen und verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol (nichts verschütten) fördern wird. Ein Tag, wie von Pratajev ersonnen, der sich wie von selbst vergolden lässt.

 

 

 

Auf geht’s. Pichelstein, Eademakow und Fürst Fedja schleppen die Backline zur Bühnenecke. Makarios radelt frisch gestanzt von der Theaterprobe her. Eine noch recht schwache Sonne scheint durch Scheiben, Kraftklub überraschen mit einem maskenlosen Spontankonzert vorm NBL. Im Hof ruft jemand mit verschmorten Synapsen: „Ich hab dein Kotzversteck von gestern gefunden.“ Während in der Ukraine Krieg ist und nicht sein darf. Völlig verrückt, grausam und furchtbar. Warten wir auf die Iden des März? Synonym für das Ende einer tyrannischen Herrschaft? Warum lassen sich Konflikte immer noch nicht mit einem zünftigen Eishockeyspiel lösen? Ohne Nabelschau, Gewinsel und Gejammer (Attribute, die man der jungen deutschen Männermusik nachsagt). Gerne mit großer Faustdichte, Bankstrafen und blutenden Nasen in stinkenden Handschuhen. Am Ende gibt es immer einen Sieger (im Unterschied zum Fußball) und alle reichen sich die Hände. Hallo? Oh, das Kopfkissen hat im Schlaf geredet, Traum vorbei.

 

 

 

Hinterm Schmelztiegel Schnapsbar postiert sich Schmo, arbeitet sich an einer Stirnfalte ab. Darunter liegen all die feinen Cocktail-Rezepte vermerkt. Ersonnen mit Fürst Fedja, stets bestlaunig. Solange bis die nächste Lifehack-Werbung vom Ordnungsamt unterm Autowischer klebt. Oder andere Fisimatenten dazwischenfunken.  

 

Doctors-Konzerte sind bekanntlich ein Marathon mit vielen Sprints und einigen Pausen. Die beste Pause ist immer noch die Aufbaupause. Mit kalten Getränken und einem Pfeffi, der seinesgleichen sucht und noch im Soundcheck mundet. Bis es besagte Narzissen regnet, danke, unser aller lieber Gärtner.

 


 

Die Stallwache hat sich unterdessen bis zum vorletzten Platz gefüllt, ein jeder sitzt oder steht staunend vorm kredenzten Wodkatablett. Manche hüpfen noch in leuchtenden Schwarzfarben wie scheue Rehe umher (Das erste Konzert seit X Monaten!), andere grinsen schon jetzt voller Vorfreude auf die schier unerschöpfliche Liedertruhe der Pratajev-Docs. Drei Blöcke sind in Planung. Im ersten wird’s ein Best-of, im zweiten ein Oh! Neues von der neuen Platte geben. Im finalen ein Wünsch-dir-Was. Und dass die tote Katze im Wind am Ende vergessen wird, tja, das kommt wirklich selten vor. Hoch die Tassen, auf zur Bühne. Da hält der Wind den Atem an.

 

Noch bevor der allerletzte Platz mit dem verdienten Veterinär der Pratajev-Gesellschaft gefüllt ist. Denn Veterinäre verfahren sich gerne einmal bis nach Polen, weil sie sattgrüne Straßenschilder sehr ästhetisch finden.      

 

 

 

Derweil hebelt Pichelstein gleich mal bei „An ihrem Garten“ die Gesetze der Physik aus und verformelt sie auf der ganz neuen Gitarre aus japanischer Fichte. Wie die klingt. Fichtig! Nach der ersten Pause stehen sich Weltpremieren in den Schuhen, unter anderem der „Herzfleck“ von der Gärtner-EP. Und im Wünsch-dir-Was-Part darf der „Raucher“ nicht fehlen. Was wie immer ein Rätsel ist. Gerne hätte man den trunkenen, tosenden, ausverkauften Abend nach der letzten Schnapsbar noch mit einer vollen Säggsisch-Premiere beendet, doch der Text fehlt. So bleibt ein Refrain in der Ohrmuschel: Geh heme, meine Kleene.

 

 

 

Nie waren die Docs in diesem Jahr schweißnasser als heute. Fürst Fedja päppelt sie mit Kaltgetränken wieder auf und der ersehnte Marathon mit all seinen Sprints und Pausen biegt in eine lang andauernde Zielgerade ein. Dann ist Lichterlöschen angesagt, Zeitumstellung dazu. Draußen harren Eademakow und Dr. Pichelstein der Taxi-Dinge und pfeifen ein innerliches DÖF-Lied („I steh in der Költ'n und woat auf a Taxi, oba es kummt net, kummt net, kummt net …“) Und die Nacht ist voller schwarzer Luft, wie man nur in Wien sagt. Schön. Ein Knopfloch im unberechenbaren Ozean.  

 

 

Wie die Liebe dem Leben alle Farben schenkt (441)

 

Nachdem die Negativserie ausgefallener Konzerte zuletzt doch stark verlängert wurde, drückt Doctor Pichelstein heute das Gaspedal durch, überholt lauter Schotterhippies auf Lastenrädern und nimmt Kurs auf den Leipziger Westen. Anstatt den Abend mit beruhigend-kinetischem Sandschneiden zu verbringen, dürfen die Docs zur Jahres-Deadline noch einmal Pratajev aus der Kiste lassen. Und damit das auch richtig gut gelingt, muss natürlich Fürst Fedja mit Anwesenheit glänzen.

 

 

 

Es wird ein Konzert ohne Livepublikum, dafür mit Kameras, viel Technik und dem rührigen Team des Noch Besser Leben in Leipzig-Plagwitz. Dazu gesellt sich eine unbekannte Anzahl Menschen vorm YouTube-Kanal. Alle sind sie versammelt. Von der katholischen Nichtraucherin bis zum absoluten Euphoriker. Menschen, die aus Nah und Fern bald jede der ausgewählten Weisen mit Applaus überzuckern. Mögen die Docs mit Pratajev, der Galionsfigur besserer Wodkatrinker, die Zeit zwischen 20 und 21 Uhr vergolden. Wie die Liebe dem Leben alle Farben schenkt. Hygienekonform versteht sich, wir haben ja schließlich die Seuche an den Hacken. Immer noch. My Color Is Black.  

 

 

 

Verbunden wie in einem Kajak-Doppel auf wildem Strom legen die Docs nach akribischen Trockenübungen inklusive Pizza-Schmaus los. Galvanische Zeiten! Strom fährt durch die Muskeln, schon hackt Pichelstein wie ein neurotischer Buntspecht in die Saiten, verpasst Makarios der Tour mit den 15 größten Hits der Russian Doctors samtig-raue Sangesnoten.

 

„Alles begann im Jahre 2003 mit einem Song, den Doctor Pichelstein mit nach Leipzig brachte. Er wusste damit nicht, dass dieser Song ein Hit sein würde, ich wusste es sofort. Hier kommt er, der Rotarmist …“

 

 

 

Wodka-Bulbash wird zur Bühne gereicht, klar, Fürst Fedja ist da. „Was wären die Russian Doctors ohne Pratajev, den großen russischen Dichter, und was wären sie ohne Schnaps?“

 

Mittenmang folgt ein Interview, das Pratajevs Wirken in aller Metaphorik zu entschlüsseln versucht. Geschichten aus dem Paulanergarten, resp. Bulbash-Garten, setzen dem Ganzen ein Krönchen auf, dann geht’s weiter im Text, im Gesang, weiter auf der bestens aufgelegten, fröhlich gestimmten Erlenholzgitarre bis „Fürchte dich nicht vor der Flasche“ einen Blick in die Zukunft wagt. Und die Schnapsbar-Zugabe die Gegenwart mehr als beschreibt.

 

 

 

Das war es. Und es fühlt sich sehr gut an. Später, als der Abend der Nacht das Zepter übergibt, wird Fürst Fedja heldenhaft die Chauffeur-Nadel am Band überreicht. Eine räudige Plagwitzer Katze springt noch rasch zur Seite und sieht dabei wie eine schattenwerfende Klobürste aus. Bald schon mag Feuerwerk über der Stadt grummeln.

 

 

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