tour_tagebuch
Nur Enten freuen sich über Wasser und Brot, Musiker nicht (464)
Wow, Sonne. Die Gesternwelt ist abbestellt. Womit nicht die immerwährende, schlimmste Medien-Panikmache seit den Gebrüdern Grimm gemeint ist. Nein, ein durchfeuchtetes Leipzig atmet auf. Liebe und Zuneigung ziehen in die Gesichter der Menschen ein; das vor Wochen wetterbedingt verschobene erste Open Air der Doctors-Saison kann starten. Im Biergarten der Frau Krause Pratajev-Arien schmettern. Was gibt es Schöneres auf der musikalisch-literarischen Superspreader-Landkarte?
Während Makarios und Pichelstein die Backline zur Bühne wuppen, trägt der Connewitzer Gemütlichkeitsoverkill bereits Früchte. Volle Gläser und Teller, Gäste davor und dahinter, Frank Zappas Weisheit „Tabak ist mein Lieblingsgemüse“ beherzigend. Nirgends uniformierte Bürgerkinder mit Kopfdisco-Palmen, Siegelringen und Lacoste-Shirts in Sichtweite, na gottseidank.
Erste Pratajev-Dudes aus nah, aus fern lassen sich nicht lumpen, fangen die Frühlingssonne beim Schluckzähler-Training ein. Sogar die Mauersegler sind zurück. Manager Franky Förster, heute barverhinderter Stallwachen-Don, würde mit vorauseilendem Pessimismus-Reflex rufen: „Mauersegler da, Sommer vorbei!“ Übrigens: In der Sprache der Lindenauer Ureinwohner steht sein Name für „Der herrlich aus der Hose fällt und dabei einen Zahn verliert“, weshalb wir ihn einst in Frank „The Tank“ umbenannten. Passt gewissentlich besser.
Der Techniker hat glänzende Vorarbeit geleistet, rote Teppiche sind zum Soundcheck gelegt. Wofür so ein Tippkonzert auf dem Mischer-Tablet alles gut ist. Wenn man es beherrscht. Das ist der Fall. Doc Pichelstein zitiert Hannibal vom A-Team: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert“, schwingt sich einen Gitarren-Hobel um den Hals. Makarios‘ Sanges-Euphorie wird zur wilden Melodie und der Beifall ist bereits jetzt groß. Wobei den meisten schon klar ist, dass die Docs im Soundcheck selten das spielen, was im Konzert vorkommt. „Die schöne Welt“ oder „Mich wundert gar nichts mehr.“ Nur zwei Beispiele, dank König Peter folgen zwei Wodka Bulbash. Sie knarrt, die Schnapsbar, flüstert leise. Ja, hier steht man gerne.
Ein gutes Pferd springt knapp. Traditionell folgt der Frau Krause-Schmaus kurz bevor's losgeht. Pichelsteins Krafttier ist das Schnitzel, Makarios schwört auf Ragout Fin nach DDR-Rezept. Äußerst lecker abgespeist, gepflegte Konversationen später, hält der Wind den Atem an, stehen sich die Menschen in den Schuhen.
Glücklich steht ihnen gut. Laut auch. Die erste Sternstunde des Pratajev-Irrsinns beginnt. Angekommen bei der "Schönen aus der Stadt" liegt bereits ein Flirren in den Köpfen, spontane Paarungstänze sind im "Starken" Thema. Kein Wunder bei Pichelsteins emsigen Gitarren-Obsessionen. Wodka Bulbash wird zur Bühne getragen und zeigt Wirkung. Doping halt. Merke: Nur Enten freuen sich über Wasser und Brot, Musiker nicht.
Wer schrieb das einst? "Begehe die Nacht nicht einsam / Sieh zu, dass du Herz gewinnst." Pratajev? Pichelstein? M. Kruppe? Makarios? Hölderlin? Passt heute umso schöner. Doc M. bringt Pratajevs Wirken näher. Es darf gekocht werden. Mit einem "Löffel aus Holz". Erste Menschen im Rund verfallen dem Miloproschenskoje-Syndrom, das zügellose Wünsche nach gebackenen Katzen und natürlich Wodka zur Folge haben kann.
Damit die um sich greifende Ausgelassenheit nicht verdurstet, wird zur Pause gerufen, nein, gesungen. "Hier hab ich gelegen ..." Und alle wissen: Auf der Krause liegt ewiger Segen. Gewiss ohne Bergquellwasser in der Vollmondabfüllung.
Weiter geht's. Mit Inbrunst. Wurde doch der Fetisch-Block vor 12,8 Pausenminuten zerschnitten. "Der Baffe" richtet alle wieder auf. Adrenalin fließt ins Blut, in kleinen und größeren Schlucken. Die Doctoren fallen beinahe übereinander, so schnell jagt Gitarren-Oktopussy Pichelstein Pratajevs Wandergesellschaft durchs Land. Viele müssen mit. Etwa: "Der Faule", "Der Satte", "Der Wanderer", "Die Schwimmerin", "Der Käferzähler", "Die Zarte" und natürlich "Der Gärtner" - allesamt große Helden auf der Klaviatur des Doctoren-Universums.
Die Uhr tickt. Punkt 22:00 Uhr muss Schluss sein. Wegen des einen Nachbarn, der bereits die 11 von 110 ins Telefon tickert. Die deutsche Eishockeynationalmannschaft hat Österreich besiegt, Pichelstein wird's beim nächsten Bulbash-zur-Bühne gesteckt. Innerer Jubel. Äußerer Speed.
Eishockey ist wie Schnellgitarre spielen. Du darfst nicht wissen, wo der Puck ist, sondern wo der Puck sein wird. Sprich: wo die Finger auf dem Brett sein werden, wenn sie noch woanders sind. Das ist der ganze Trick. Nie nachdenken, nur spielen und in den kurzen Liedpausen die Stimmgeräte nicht vernachlässigen. Das am Boden liegende treten, das eigene kräftig ölen.
21:59 Uhr. Der Nachbar drückt die Null. Doch das bringt heute nichts. Makarios zieht alle Stecker und so spielen die Docs ganz leise, ganz weise eine letzte Ode an die Schnapsbar. Das war's für heute bis zum nächsten Mal. Mit Schnaps in der Blase, Sonne im Herzen.
Als die Docs Stunden später ins Taxi steigen, hat die Nacht die Sterne schön und Cinderella einen Schlappen verloren. Oder ein Handy. Von hinten schleichen sich Kater an, werden zu körpereigenen Gästen. Ein Umstand, der sich erst am folgenden Morgen als leichter Nachteil erweisen wird.
Fotodank: Frau Ast, Frau Singrobär, Paschka Parlierowna
It’s not over before the fat Lady sings (463)
Roland Kaiser spielt in der Arena Leipzig. Gar nicht selten kommt es vor, dass sich der Hochverehrte im Schatten der Docs die Ehre gibt. Regelmäßig ist das etwa in Pirna zur Hofnacht der Fall, wenn die Kaisermania im benachbarten Dresden über die Elbbühne geht. Folge davon: Damenmangel, doppelt so viele Herren im Publikum. So auch heute.
Nach Beginn des kalendarischen Frühlings sollen Pratajevs Erben an diesem Freitag auf der NBL-Bühne erblühen, ein neuerliches emotionales Heimspiel steht bevor. Schlag 18 Uhr trifft man sich bestens gelaunt zum Soundcheck beim Techniker in der 1. Etage.
Alles ist wie immer; Pichelstein zieht ein wenig über die besonders in Leipzig-Plagwitz anzutreffenden, verstrahlten, Flasche-Bier-tragenden Mützenschlümpfe her, Makarios donnert stimmgewaltig ins Mikro. Nach kurzem Thinktank erhält die ältere der mitgeführten Erlenholzgitarren den Vorzug. Erstaunlicherweise klingt die heute einfach besser. Auf zur Hot Dog-Bude um die Ecke. Warum eigentlich nicht Hot Doc-Bude?
Bei Rückkehr wird Schichtbeginn-Rum ausgeschenkt, ein leckeres Gesöff. Noch eine Stunde bis zum Konzertstart. Die Kasse steht, binnen weniger Augenblicke ist sie proppenvoll.
Auf geht’s, Tabula Rasa im NBL, heilende Docs im Line-up, was soll da schief gehen? Das Publikum drängt Richtung Schnapsbar. Man sieht die Hand vor Augen kaum, so eingehüllt ist die lüftungsfreie Lage.
Makarios schickt Pratajev auf die Reise durchs gelobte Landleben, Pichelstein verwandelt die Gitarre in eine Bazooka und schießt los. Der Jubel ist groß, sehr groß. Erste Menschen verfallen dem Miloproschenskoje-Syndrom, das einen zügellosen Wunsch nach gebackenen Schweinen und natürlich Wodka zur Folge hat.
Nach 1,5 Stunden, dem Fetischblock und mit viel Aussicht auf einen glorreichen Endspurt, muss zur Pause gerufen werden. Ein englisches Sprichwort passt jetzt leider sehr gut: It’s not over before the fat Lady sings.
Die Fenster bleiben zu. Pichelstein schlürft kaltes aus reichhaltigen Flaschen, Makarios trimmt sich mit reinem Tonic fit - so startet der 2. Teil. Mit einem juchzend, tanzendem Rotarmisten.
Pratajevs Wanderschaft beginnt. Der Satte wird mitgenommen, der Käferzähler, die Schwimmerin, das nach Schnaps stinkende Mütterchen. Viele sollten noch mit. Doch nur der Gärtner schafft es.
An dieser Stelle endet das Tourtagebuch. Weil das Konzert an dieser Stelle enden musste und schnelle medizinische Assistenz eintraf. Danke Ihr Lieben für die herzliche Hilfe.
Fotodank: SEB, Frau Ast