Herr Kümmer und Frau Ling (298)


Draußen, vor der Toren Leipzigs, liegt die Kreisstadt Markkleeberg. In den Ortsteil Gaschwitz verschlägt es heute die Doctoren. Eine Mission gilt es zu erfüllen. Sie lautet: Belebt die Umgebung der ehemaligen Centralhalle, in der schon Renft, Electra oder Pata Rhei auftraten, mit neuem Glanz. Ehrt mit den Augen Pratajevs heiliges Terrain aus Underground-Episoden. Die Zeit der grünen Kutten, der Karo-Kippen ist zwar vorbei - und doch stehen wahre Männer mit Bärten Spalier, als die Tour-Limousine des Herrn Fedja die Eingangsmauer passiert. Kein Wunder, denn in 20 Minuten soll’s Konzert schon losgehen. Na, das wird nicht mehr ganz klappen und zu alledem gesellt sich die Frage: „Wer sollte eigentlich für die Anlage zur Beschallung des Publikums Sorge tragen?“ Achselzucken, alle oder keiner. Letzteres ist die Erkenntnis. Kaum angekommen, düst rasch der tapfere Fedja mit dem umsorgenden Hein los. „Wir finden schon eine“, so die Auskunft. Makarios und Pichelstein erkunden derweil die Karte an der Schnapsbar und trödeln durstgestillt, gestärkt zum Festzeit zurück.

 

 

Und wie durch ein Gruftwunder Pratajevs später Jahre, wird nur eine Stunde später an zusammengeliehenen Soundsystemen gewerkelt. Bis alle Lämpchen am Mischpult leuchten, aus den Boxen feinste Tone klingeln. Improvisation ist eben alles und da weht er wieder, der Wind der Nostalgie vergangener Jahre. Hinfort also, du blöder Wind of change! Zumindest musikalisch betrachtet und weil fürs Speisen, fürs Intro absolut nun keine Zeit mehr bleibt, werfen Doctoren Pullis in die Ecke und legen gleich mal kräftig los.

 

 

Als ob alles so geplant war, ist das Festzelt am Radlerhof auf die Minute bestens gefüllt. Draußen fegen Blitz und Donner über die Lande. Wer eben noch Rad fuhr, muss schnellstens unter Planen und wird tonal beglückt. Makarios‘ Pratajev-Weisen, unterbrochen vom Schnellspiel des Doctor Pichelstein, lassen keine Pause zu. Schnäpse noch und nöcher werden an die Bühne gereicht. Der alte Herr Kümmer und die sehr junge Frau Ling wussten schon immer, wo die besten Kräuter wachsen. So heizt die gedanklich neu formierte Liederliste den Saal stetig weiter an. Tosend brennt die Begeisterung Uhrzeiten nieder, denn plötzlich ist es bereits Nachbarsschlafenszeit, kurz nach zehn, die erste Zugabe gerade erst gespielt.

 

Was tun? Doch Blicke können lieben, das wusste bereits Helga Bauer, als sie im Sommer 1958, morgens gegen acht, aus dem Teehaus Protnik in die Arme einer orthodoxen Melkerin fiel. So geht es weiter und immer weiter, wenn auch nicht mehr ganz so laut und schnell. Dann muss es gut sein, wahrlich gut sein. Herr Kümmer legt sich schlafen und Frau Ling wartet bereits zum Anbeißen an der Schnapsbar und schlägt ein gläsernes Rad.

 

Lovestory in Gefesselt-City (297)


Es gibt sehr wenige Hotels und Pensionen, die einem das (relativ) späte Aufstehen nicht verleiden. So dreschen die Sonnenstrahlen bereits kräftig gegen das Fenster, als Doctor Makarios seinen Gitarristen zum Frühstücksbeginn ab 10 Uhr mit einem Klopfgewitter an der Tür anfeuert. Von Fürst Fedja ist bisweilen noch nichts zu sehen. Dabei wurde die gestrige Campa-Überflutung doch genau, wie es Pratajev in seinen medizinischen Schriften vorschlug, mit Kräutern aus dem Wald bekämpft. Ein flascheverpacktes Geschenk von Pratajev-Mitglied Boris Brutalowitsch samt Gattin. Die späte Wirkung der beiden Extreme führt beim Pichelstein zur kurzatmigen Heilung, während Fürst Fedja erst einmal verschwunden bleibt. Selbst anrufen im Zimmer nützt nichts; die Belegschaft des Centralhotels ist ratlos. Haps, macht der Doktor Makarios. Haps, der Doctor Pichelstein. So ein Frühstück, das ist fein. Dann steht er im Raum, der Fürst. Sieht nicht gut aus und klagt so manchen Umstand des gestrigen Abends an.

 

 

Einige Weilen später, frisch geduscht, im niegelnagelneuen Hotel-Künstlergästebuch verewigt und mit halbem Elan, befindet sich die Tour de Docteur auf ihrer zweiten Flachetappe des Wochenendes. Diesmal geht’s nach Wittenberg, ins Irish Harp Pub. Schwere Zwischenprüfungen gilt es zu überstehen; die Elbe muss derweil gleich zweimal per Fähre überquert werden und das Radio schweigt andächtig bis Gallin. Im Gasthaus „Zum Schiffchen“ lauern kulinarische Gefahren. Doctor Makarios bestellt einen Hamster mit Kraut (landläufig als „Kohlroulade“ bekannt), Pichelstein nimmt (in Anlehnung an die Kanapee-Serie der Modern Doctors) den Zander. Fürst Fedja zögert lange, bestellt blutiges Schwein überm Zwiebelgrab und lässt besser die Finger davon. Kamillentee wird mehrfach geordert, während die Herren Doctors sich zum kulinarischen Abschluss (Vorspeise: Suppe mit was drin) einen Obstbrand gönnen. Alles bestens, gut gemeistert, Chancen auf den Tour-Gesamtsieg bestehen weiterhin. Nichts wie zum Harp-Chef B.N. Guinnessoff, ehrenwertes Mitglied der Pratajev-Gesellschaft obendrein.

 

 

„Pratajev-Pop“ ist angekündigt. Nach Durchlaufen der Sky-Sportschau, völlig versalzen mit vernichtenden Niederlagen beider von den Doctors favorisierten Teams, gewinnt Dortmund mit genauso vielen Toren gegen die Südsterne, wie Doctor Pichelstein der Theke zwischendrin Aufwartung erteilte. Schmeckt ja auch ungemein lecker, so ein Kilkenny am Nachmittag. Und noch eins, und noch eins. Auch Eademakow zetert. Aue verlor gegen die fränkische Feindesstadt der Nürnberger in Liga 2. Drum hoch die Becher, für Trauer ist keine Zeit. Peter aus Wismar trifft zu Fuß aus Torgau ein und springt zur Kühlung noch schnell in einen Elbearm hinein.

 

Kaum ist das formidable Kesselgulasch verdrückt, der Soundcheck vollendet, füllt sich das Pub. Besonders erfreut sind die Doctors über jene Lovestory, die Pratajevs Weisen vor gut einem Jahr am selben Ort schrieben. Als Marathonexperte Herr Wildgrube auf eine Hannoversche Perlmuschel traf. Und wie die Dinge heute so ausschauen, ist man weiterhin sehr begeistert voneinander. So soll es sein in der Pratajev-Flirtline. Ein markantes Beispiel dafür, dass Partnerbörsen nach wie vor nur etwas für Nerds mit fiesen, juckenden Krankheiten sind. Der Besuch bei den Russian Doctors reicht für eine glückliche Lebensplanung nämlich völlig aus. Mancher Schnaps tut dabei sein übrigens und auch die Feldmänner sind nie schuldlos dran. Da erklingen sie und los geht die erste Konzertrunde. Die Tour de Docteur liegt in den letzten Tageszügen und die wollen zünftig über die Bühne gebracht werden.

 

 

B.N. Guinnessoff, Meister seines Chefwirtefaches, hilft dabei; bewaffnet mit Gelbschnaps in Frostegläsern wird für reichhaltige Benetzung doctoresker Stimmbänder gesorgt. Freigesetzte Adrenalinstürme greifen aufs Publikum über. Doctor Pichelstein betrachtet die feiernde Szenerie mit Schwitzwasser in den Augen wie einen gespaltenen Regenbogen. Doctor Makarios‘ scharfe Reibeisenstimme wird zum erotischen bis erratischen Pratajev-Periodikum, als die Fesselspiele des großen Dichters ihren Gipfel mit der Lyrik „Der Bedrückte“ erreichen. Im Kollektiv wird die erste Schnapsbar zur Pause geentert; das Personal rennt, der Zapfhahn ist gut geölt. Auch jener im Herrenklo, direkt überm Pissor. Eine Erfindung, die unbedingt patentiert werden sollte. Doch nun weiter im Text, im Programm. Denn wer rastet, der betet und bügelt schlecht, weil er rostet. Alte Lutherweise.

 

Pratajevs Allerlei wird zur zweiten Runde geboten, Absolution denen erteilt, die eigentlich fasten. Doch so kurz vorm Eierfest darf getrost in den Schnapsglasgrund geschaut werden. Schwimmt ein verlorenes Wimpernhaar drin, sind alle Sünden vergeben. Doch wer verliert schon beim Schnapstrinken gerne eine Wimper? Noch dazu vielleicht eine aus Plastik? Eben. Und dann liegen sie sich in den Armen, die Russian Doctors. Der Abend ist jetzt schon gelungen, darf aber noch nicht zu Ende sein. Im Wunschblock gibt’s von der „Alten Henne“ bis zum Raucherlied über jenen Ehegatten, der mit der Axt (nicht mit der Steuererklärung) die eigene Frau splittet, alles, was das Herz begehrt. Danach nichts wie über drei Ecken wieder an die Schnapsbar. Autogramme werden geschrieben, die T-Shirt-Kollektion „Gefesselt“ ist nach einem kurzen Momentum bereits ausverkauft. Natürlich, wir sind ja auch in Wittenberg und bleiben es so lange, bis aus wilder Hatz nur noch Tiefenentspannung bleibt.

 

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