Lovestory in Gefesselt-City (297)


Es gibt sehr wenige Hotels und Pensionen, die einem das (relativ) späte Aufstehen nicht verleiden. So dreschen die Sonnenstrahlen bereits kräftig gegen das Fenster, als Doctor Makarios seinen Gitarristen zum Frühstücksbeginn ab 10 Uhr mit einem Klopfgewitter an der Tür anfeuert. Von Fürst Fedja ist bisweilen noch nichts zu sehen. Dabei wurde die gestrige Campa-Überflutung doch genau, wie es Pratajev in seinen medizinischen Schriften vorschlug, mit Kräutern aus dem Wald bekämpft. Ein flascheverpacktes Geschenk von Pratajev-Mitglied Boris Brutalowitsch samt Gattin. Die späte Wirkung der beiden Extreme führt beim Pichelstein zur kurzatmigen Heilung, während Fürst Fedja erst einmal verschwunden bleibt. Selbst anrufen im Zimmer nützt nichts; die Belegschaft des Centralhotels ist ratlos. Haps, macht der Doktor Makarios. Haps, der Doctor Pichelstein. So ein Frühstück, das ist fein. Dann steht er im Raum, der Fürst. Sieht nicht gut aus und klagt so manchen Umstand des gestrigen Abends an.

 

 

Einige Weilen später, frisch geduscht, im niegelnagelneuen Hotel-Künstlergästebuch verewigt und mit halbem Elan, befindet sich die Tour de Docteur auf ihrer zweiten Flachetappe des Wochenendes. Diesmal geht’s nach Wittenberg, ins Irish Harp Pub. Schwere Zwischenprüfungen gilt es zu überstehen; die Elbe muss derweil gleich zweimal per Fähre überquert werden und das Radio schweigt andächtig bis Gallin. Im Gasthaus „Zum Schiffchen“ lauern kulinarische Gefahren. Doctor Makarios bestellt einen Hamster mit Kraut (landläufig als „Kohlroulade“ bekannt), Pichelstein nimmt (in Anlehnung an die Kanapee-Serie der Modern Doctors) den Zander. Fürst Fedja zögert lange, bestellt blutiges Schwein überm Zwiebelgrab und lässt besser die Finger davon. Kamillentee wird mehrfach geordert, während die Herren Doctors sich zum kulinarischen Abschluss (Vorspeise: Suppe mit was drin) einen Obstbrand gönnen. Alles bestens, gut gemeistert, Chancen auf den Tour-Gesamtsieg bestehen weiterhin. Nichts wie zum Harp-Chef B.N. Guinnessoff, ehrenwertes Mitglied der Pratajev-Gesellschaft obendrein.

 

 

„Pratajev-Pop“ ist angekündigt. Nach Durchlaufen der Sky-Sportschau, völlig versalzen mit vernichtenden Niederlagen beider von den Doctors favorisierten Teams, gewinnt Dortmund mit genauso vielen Toren gegen die Südsterne, wie Doctor Pichelstein der Theke zwischendrin Aufwartung erteilte. Schmeckt ja auch ungemein lecker, so ein Kilkenny am Nachmittag. Und noch eins, und noch eins. Auch Eademakow zetert. Aue verlor gegen die fränkische Feindesstadt der Nürnberger in Liga 2. Drum hoch die Becher, für Trauer ist keine Zeit. Peter aus Wismar trifft zu Fuß aus Torgau ein und springt zur Kühlung noch schnell in einen Elbearm hinein.

 

Kaum ist das formidable Kesselgulasch verdrückt, der Soundcheck vollendet, füllt sich das Pub. Besonders erfreut sind die Doctors über jene Lovestory, die Pratajevs Weisen vor gut einem Jahr am selben Ort schrieben. Als Marathonexperte Herr Wildgrube auf eine Hannoversche Perlmuschel traf. Und wie die Dinge heute so ausschauen, ist man weiterhin sehr begeistert voneinander. So soll es sein in der Pratajev-Flirtline. Ein markantes Beispiel dafür, dass Partnerbörsen nach wie vor nur etwas für Nerds mit fiesen, juckenden Krankheiten sind. Der Besuch bei den Russian Doctors reicht für eine glückliche Lebensplanung nämlich völlig aus. Mancher Schnaps tut dabei sein übrigens und auch die Feldmänner sind nie schuldlos dran. Da erklingen sie und los geht die erste Konzertrunde. Die Tour de Docteur liegt in den letzten Tageszügen und die wollen zünftig über die Bühne gebracht werden.

 

 

B.N. Guinnessoff, Meister seines Chefwirtefaches, hilft dabei; bewaffnet mit Gelbschnaps in Frostegläsern wird für reichhaltige Benetzung doctoresker Stimmbänder gesorgt. Freigesetzte Adrenalinstürme greifen aufs Publikum über. Doctor Pichelstein betrachtet die feiernde Szenerie mit Schwitzwasser in den Augen wie einen gespaltenen Regenbogen. Doctor Makarios‘ scharfe Reibeisenstimme wird zum erotischen bis erratischen Pratajev-Periodikum, als die Fesselspiele des großen Dichters ihren Gipfel mit der Lyrik „Der Bedrückte“ erreichen. Im Kollektiv wird die erste Schnapsbar zur Pause geentert; das Personal rennt, der Zapfhahn ist gut geölt. Auch jener im Herrenklo, direkt überm Pissor. Eine Erfindung, die unbedingt patentiert werden sollte. Doch nun weiter im Text, im Programm. Denn wer rastet, der betet und bügelt schlecht, weil er rostet. Alte Lutherweise.

 

Pratajevs Allerlei wird zur zweiten Runde geboten, Absolution denen erteilt, die eigentlich fasten. Doch so kurz vorm Eierfest darf getrost in den Schnapsglasgrund geschaut werden. Schwimmt ein verlorenes Wimpernhaar drin, sind alle Sünden vergeben. Doch wer verliert schon beim Schnapstrinken gerne eine Wimper? Noch dazu vielleicht eine aus Plastik? Eben. Und dann liegen sie sich in den Armen, die Russian Doctors. Der Abend ist jetzt schon gelungen, darf aber noch nicht zu Ende sein. Im Wunschblock gibt’s von der „Alten Henne“ bis zum Raucherlied über jenen Ehegatten, der mit der Axt (nicht mit der Steuererklärung) die eigene Frau splittet, alles, was das Herz begehrt. Danach nichts wie über drei Ecken wieder an die Schnapsbar. Autogramme werden geschrieben, die T-Shirt-Kollektion „Gefesselt“ ist nach einem kurzen Momentum bereits ausverkauft. Natürlich, wir sind ja auch in Wittenberg und bleiben es so lange, bis aus wilder Hatz nur noch Tiefenentspannung bleibt.

 

Flachetappe nach Torgau (296)


Große Ereignisse werfen fürwahr ihre Schatten voraus. So lautet der beliebte Rennbericht der Tour de Docteur: Heute Flachetappe nach Torgau. Der Fahrerpulk wird in rasender Geschwindigkeit gegen 21:00 Uhr die Ziellinie an der Kulturbastion erreichen. Wahrscheinlich wird das Team Russian Doctor einen Ausreißversuch starten, um den Sieg vom Vorjahr zu wiederholen (…)

 

Bis dahin ist es noch ein Weilchen. Um 17 Uhr rollt das Tourgefährt mit seiner wertvollen Fracht an der Verladestation Dr. Pichelstein gen „Nordelbien“. Ein Wort, aus dem die automatische Rechtschreibkorrektur gerne „Nörgelelbien“ machen würde. Doch das lassen wir nicht zu. Die Menschen im Landkreis TDO sind allesamt freundlich. Zumindest jene, die sich mit Pratajevs Werk und seinem Leitspruch „Jeder Schluck ist ein guter Schluck“ befassen, The Russian Doctors in ihrem Terminplan stehen haben und wissen, dass das TV-Endgerät heute kalt bleibt.

 

Über staubefreite Umwege, die gefürchtete B87 („Spiel mir das Lied vom Kreuz am Wegesrand“) genauso wie manche Biogasanlage hinter wie neben sich gelassen, wird die Kulturbastion Torgau erreicht. Als musikalische Untermalung diente eine Kassette mit Demo-Liedgut der Modern Doctors, welches im Laufe der nächsten Gezeiten gerne einer Studiovertonung unterzogen werden könnte. Besonders stolz ist Komponist Doctor Pichelstein aufs eben ersten gelungene „Auf dem Kanapee ein girl, Teil 4“. Mehr sei dazu noch nicht verraten. Denn heute soll es keineswegs modern zugehen, sondern russisch und natürlich im Geiste Pratajevs. Na dann: Wohl bekommt’s. Drinnen wird Kino-Popcorn angerührt, draußen schmaucht man Kippchen und Fürst Fedja liefert die Hotelschlüssel.

 

 

Im mit reichen Wanderergaben befüllten Backstage hängt nach wie vor ein Poster des US-amerikanischen Rockers Richie Kotzen. „Möchtest du so heißen?“ – Eine wie immer viel diskutierte Frage vorm Soundcheck. Dann bittet der Tontechniker zum zungenlösenden Tanz, die Bühne ist angerichtet. Zeit für Doctor Pichelstein, den Watzmann bis nach Oschatz zu zersingen. Doctor Makarios schlägt dagegen jeden Kaisermania-Parvenü um Längen. Man muss wissen: Bühne aufbauen ist ein reiner Multitasking-Overkill. Wer danach noch schön singen kann, hat’s raus und die Lebensfreude gepachtet. Gut so. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen, wieder ab ins Backstage auf leckere Schnitzelteller plus Beilagen. Wenig später heißt es darin: „Hoch die Tassen – Schwarzbrenner Gurt Kaktus ist da“.

 

Nach üppiger Begrüßung, nebst Rückgabe einer gläsernen Tortenplatte zum 10-jährigen Doctors-Jubiläum vor einem Jahr, wird tatarisches Gebäck nebst Apfelschnaps gereicht. Genauer: Ein „Campa“, hergestellt nach einem Originalrezept von Helga „Peitscha“ Bauer“. Und der hat es in sich. Fürst Fedja ist gleich hin und weg, der Schluckzähler rattert. Doctor Pichelstein genießt in Maßen, ja, er kennt die Tücken der schwarzen Schnapsmagie nur zu gut. Dann füllt sich das Rund zu aller Zufriedenheit; im Kino gehen zudem Lichter und Popcorntüten aus. Mögen die Spiele also beginnen. Das Intro im knackigen Dolby-Surround weist den Weg, los geht’s mit idyllischen Feldmännern über Applaus, Löffel und Stein. Nassforsch erklärt dazu Doctor Makarios das lyrische Raster Pratajevs, all sein rühmliches Wirken und Werkeln. Erste Besucher klagen über „Schnapsrücken“ (eigentlich, zu Deutsch: „Bierrücken“) und prusten allerlei Daseinsfreude heraus. Peter aus Wismar (Speckstein-Pokal: weiteste Anreise) tanzt den Stulpenarmtanz und immer wieder heißt es: „Doktor Pichelstein, der schnellste Akustikgitarrist von….“ Und immer wieder gibt’s zur Belohnung dafür Helga Bauers „Campa“. Tücken hin oder her.

 

 

Pausepustend, im Schwitzshirt hockend, stellt Doctor Pichelstein fest, dass einskommafünf Flaschen bereits leer sind. Doch darüber den Satz des unbekannten Dichters: „Ich war so am Boden, ich konnte einer Ratte ins Arschloch schauen“ zu bemühen, ist fehl am Platze. Auf geht’s zur zweiten Russian Doctors-Runde. Doctor Makarios hat einen Rotarmisten gesichtet. Grals-Lyrik gibt es zum Besten, saftige Wiesen, russische Felder auf denen gewandert und Spaten und Sensen geschwungen werden. Pichelstein erreicht den Turbo-Konzertzenit mit dem „Biber“. Fürst Fedja sinniert: „Geht doch gar nicht mehr schneller“. Noch ein „Campa“ - weckt die Helga Bauer tief in dir. Wir erinnern uns an einen ihrer Gedichtbände. Er trug den verheißungsvollen Titel „Die Peitsche hat ihr gut getan“. Für die letzte Schnapsbar gilt dasselbe? Nee. Das Kulturbastionsvolk will noch einmal „Jeder Schluck ist ein guter Schluck“ hören, dann dies und das und das und jenes. Und wann auch immer, jedoch sehr viel später, hocken die letzten Aufrechten an der Bar beisammen. So ist es noch erinnerlich und kein Mann in Weiß steht Pate.

 

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