tour_tagebuch
Was ist eine Pe Ah? (355)
Ganz perfide! Killerclown Doctor Förster versteckt sich im Haustürgebüsch und lauert dem ahnungslosen Doctor Pichelstein auf. „Huch“, macht der Killerclown und der gerade einen Haufen Zeug schleppende Pichelstein erschrickt, rennt weg und ward nie mehr gesehen. Falsch, stimmt nicht.
Wenige Augenblicke später sitzt der Gitarrenprimus vor einer aufgeplatzten Bockwurst („Die mach ich noch schnell in der Mikrowelle warm“) und weiß: Wenn Praktikanten die Tankstelle des Wurstglücks übernehmen, tja, dann muss man sowas leidvoll ertragen. Für Menschen, die sich nie an solchen Orten herumtreiben, sei der unhinkbare Vergleich „Restaurant“ und „Bier mit was zu essen in der Südvorstadt“ herangezogen. In ersterer Lokalität arbeiten Menschen, die es können, die jedes Trinkgeld der Welt verdienen und in zweiterem Etablissement jobben total-ohmygod-wie-crazy-lazy-ist-das-denn überforderte Langzeitstudenten, die es einfach nicht können. Die, wenn sie abends selbst irgendwo einkehren, vor Torschlusspanik einen Deckel mit der stattlichen Summe von 7,50 € vorweisen. Und dann, jetzt kommt es, der hübschen Kellnerin noch tranig zuflüstern: „Ich gebe dir 50 Cent Trinkgeld, wenn Du mich mit nach Hause nimmst“.

Anfällig für neuerliches Heldentum geht’s heute nach Dresden, in die allenthalben als romantisch beschriebene Friedrichstadt. „Ja, Dresden“, denkt man sich da, „kein Problem, das wird voll“, aber so leicht ist das nicht. Wie in jeder Metropole gibt es Stadtteile, die erst einmal pfadfinderhaft erobert werden müssen. Und so steckt der Pratajev-Wimpel heute auf dem Dach des Café Friedrichstadt, besser gesagt: ein paar Meter um die Ecke. Neben Kinderklinik und Seniorenstift ist der Weinkeller des Etablissements verortet. Mit einer schwach beleuchteten Wett-Kneipe schräg gegenüber ist dem romantisch anmutenden Sujet dann auch Genüge getan. Fehlt nur noch der Tonmeister, eine Anlage zur Beschallung des Publikums im Schlepptau, und losgespielt. Doch weit gefehlt. „Ihr macht Witze“, sagt der Chefwirt, als danach gefragt wird. Schon bricht Hektik herein.
Es ist mittlerweile 19 Uhr, eine Stunde vorm anvisierten Beginn. Fürst Fedjas unerschöpflichem Bulbash-Netzwerk ist es schließlich zu verdanken, dass nach der unliebsamen total-unplugged-Show im Westfälischen Herne anno 2005 nicht ein zweites Mal ohne Verstärkung gekehlt werden muss. Es eilt herbei ein mächtiger Bus, am Steuer jener Retter, der sogleich in Windeseile den Weinkeller mit Boxen, Mixer, Endstufe usw. versorgt. Darunter hagelt es Anekdoten aus der Tontechnikerwelt; die PA der Scorpions aus den 1990er-Jahren etwa kann im Lager bewundern wer will. Bleibt die Schuldfrage für immer ungelöst und offen? Nein, bleibt sie nicht. Doctor Makarios pfeift erleichtert auf, streichelt den Gastspielvertrag der Doctoren sanft, als der Passus „Der Veranstalter stellt eine ausreichende PA samt Licht zur Verfügung“ zum Vorschein kommt. Der Wirt fragt: „Woher soll ich wissen, was das ist, eine Pe Ah?“. Ähnlich war es dereinst in Herne. Jener Schankmann berief sich auf eine sogenannte Hausanlage, die aus einem Kassettendeck nebst angeschlossener HiFi-Boxen bestand.

Jedwede Hektik erlischt, als nach einem kurzen Soundcheck dem Pratajev-Tross Schnitzelteller kredenzt werden und das geduldig am Einlass wartende Publikum endlich Zugang zur Schnapsbar erhält. Die bestuhlte, zucchiniförmige Katakombe ist rasch bis auf den letzten Platz gefüllt. 20 Uhr 30. Jetzt rasch drei Birkenblätterchen-Schnäpse auf ex, dann kann's losgehen und wie es losgeht! Der runderneuerte Weg durch Pratajevs Wirken (jetzt mit noch mehr Schnapsliedgut) führt zu überbordenen Gefühlsausbrüchen. Vor allem die vielen, denen bis heute noch nie eine Silbe des unbekanntesten aller unbekannten russischen Landdichter zuteilwurde, klopfen sich auf die Schenkel, haken sich beim Nachbarn ein, klatschen mit der Brechstange bis die Bluse bebt. Manches Getränkeglas schwappt punktgenau über. Vor allem der Bereich Fetisch sorgt für bösartig gute Zustimmung. Dann ist Pause, geht’s an die frische Luft, und an selbiger denken Makarios und Pichelstein stark darüber nach, den heutigen Kulturbeitrag unbedingt danach mit einem Auszug aus Prumkis Bauernoper zu schmücken.

Gesagt, getan. Was neulich beim Bulbash-Fest für basses Erstaunen sorgt, erfährt eine Wiederholung. Pichelstein schält sich auf die Bühne, übernimmt den Lesestaffelstab und legt los. „Lasst Dalmatov friedlich schlafen“, gesungen und erzählt im Heldenbariton. Nach einem dramatischen Finale („Ich habe sie gesehen“), folgt der enthusiastisch umjubelte Schlussblock, geht es in satt bestellte Zugabenfelder hinein. Wow. Eine Demonstration pratajevscher Würze endet, ein Stadtteil ist in Pionierarbeit erobert und ein Wirt weiß nun endlich, was eine PA ist. Möge der Bänkelsänger-Kollege Doc Fritz, in der ersten Novemberwoche mit traditioneller Musik aus folkloristischen Gemarkungen hier vortragend, davon zehren. Wie dem auch sei – noch ein Schlummertrunk, dann nichts wie auf dem Rücken poetischer Zauberpferde ab in die Hotelkoppel.
Wo der Moment größer als man selbst ist. Aber sowas von! (354)
Mit reichlich müde getrunkenen Schnapsmädchen an Bord starten die Doctoren gen eigentliches Randsachsen und dennoch ins Thüringische. Warum das so ist? Also nicht das mit den Schnapsmädchen. Würde es sich um Brausemädchen handeln, dann wäre der Satz ziemlich absurd. Nein, es geht noch absurder. Als die Bevölkerung rund um Altenburg im Zuge der D-Mark-Annektierung gefragt wurde, zu wem man gehören möchte, entschieden sich im Juni 1990 die meisten pro Sachsen. Wer hatte schlussendlich was dagegen? Die gewählte Politikprominenz. Thüringen zahlte höhere Diäten und Altenburgs Kreistag entschied nach dem Gusto wohlgenährter, nordkoreanischer Führer: Wir hungern lieber und behalten die schöne DDR-Schwimmhalle anstatt Thermalbadsachsen zu werden. Ein Reizthema, das viele Gemüter noch immer zum Blutdruckarzt treibt. Altenburg, eben erst in der Demokratie angekommen, erlebte einen demokratischen Sündenfall. Es soll zu Bratwurst-Boykotten gekommen sein und viele Bewohner ernähren sich bis heute ausschließlich von Eierschecke, Flecke und Sauerbraten in Kartoffelsuppe. Wohl bekommt’s.

Kurvenreich geht es auf der Endstrecke Richtung Garbisdorf zu, die aus langen Dorfstraßen besteht, an denen Klitschen verortet sind. Ja, „Sächsisch to Go“ heißt es wieder einmal und Doktor Pichelstein muss entsprechendes Vokabular erraten. Eine unordentliche, vielleicht lediglich mit Froschbutter korrigierte Frisur ist eine Mecke und weil die Herfahrt eben über die Dörfer ging, waren das alles Klitschen. So ergibt sich zum Beispiel folgender Satz, den kein westdeutscher Exilpolitiker versteht: Ohne Mecke in der Schmette durch die Klitschen (kann mit vielerlei Vokalbetrieb fortgesetzt werden, nur zu).
Die folgenden Stunden prägen diesen Ausruf: Aber sowas von! Es ist der 24. September des Jahres 2016. Noch nie, zu keiner Zeit und überhaupt fand auf deutschem Boden ein Bulbash-Wodkafest statt. Weder im Mittelalter, noch im kalten oder warmen Krieg, schon gar nicht in Sachsen, oder meinetwegen in Thüringen. Fürst und Fürstin Fedja mixen Wodka-Cocktails, alle müssen probiert werden und nach wenigen Gläsern ist das aber sowas von lecker. Pichelstein ist glatt ein wenig benommen, zumal draußen weiterhin ein Ableger des Indian Summer vorherrscht und der zum Schnaps gereichte Apfelkuchen nicht unbedingt eine sattelfeste Grundlage bildet. Dennoch will die Bühne aufgebaut werden. Noch ein Nipperchen am Glase - der doctoreske Soundcheck gelingt umso hechttoller.

Am Eingang des Kulturgutes Quellenhof stehen 24 mit Herbstlaub bekleidete Schnapsmädchen Spalier und kredenzen den ankommenden Gästen Begrüßungsdrinks. Besonders die Sektion Berlin-Brandenburg freut’s aber sowas von und Doctor Pichelstein sieht mehrdimensional. Denn eigentlich sind es nur zwei Schnapsmädchen (leicht bekleidet stimmt aber). Gläser scheppern, Kühe muhen, Schüsse hallen durch den Abend, denn es ist Wildjagd in Garbisdorf. Winters will man schließlich Schwein haben. Ein Großraumzelt wird aufgebaut, ein braver, wurstverliebter Hütehund bewacht die Szenerie. Willkommen in Belarus bei Göpfersdorf, wo der Kranichschrei über den dunklen Augen des Sees hinter der Scheune flehentlich zu Herzen geht, wo der Moment größer als man selbst ist. Wirklich schade nur, dass es die Störche bereits gen Süden zog. Denn der Storch ist das Heiligentier des Weißrussen. Nicht weil er die lauten Frösche frisst, sondern weil er bei Ankunft den Frühling verheißt und die Unbilden des Winters vergessen lässt. Frühling wiederum bedeutet: draußen sein, Spieße aufs Feuer legen, König Bulbash mit stiller Würde, ohne Ausflüchte in Zügen und auf Bänken genießen.

Über den weiteren Verlauf des Abends soll nur marginal berichtet werden. Lassen wir die Bilder für sich sprechen. Und mögen all jene jetzt ganz neidisch sein, die nicht kommen konnten. Ihr habt grandiose Pratajev-Huldigungen, allerlei Beifallsorgien für den Schlager-Act „Die Ketten der Gefühle – A Tribute to Conny Cocker“, eine schnapsgeschwängerte Tombola (Loseziehung mit augenverbundenem Schnapsmädchen, immer gewann die Pratajev-Sektion Boehlen), einen russischen Hexenfilm der Baba Jaga-Reihe, präsentiert von den LandCineasten, verpasst. Weiterhin ist euch nicht geläufig, was es mit dem Fruktizismus, einer verblüffend neuen Kunstrichtung, auf sich hat. Herrlich! Mit Weitblick vorgetragen von Makarios himself. Die Doctoren spielten ihre neue CD „Manchmal wenn der Durst kommt“ auf Hochtouren vor, sogar Stargast Miss Fedja sang nach Zufuhr einiger Mutmacher „Wodka Wodka Woditschka“. Bis nach Königshain-Wiederau drang die beseelte Ode an Volkes Ohr. Dann war da noch diese in allen Belangen bestechend schöne Bauernoper Prumskis. Pichelstein in „La Datscha: Lasst Dalmatov friedlich schlafen." Bolschoi Spasiba für dieses geniale Tänzchen in Garbisdorf. Die Wandlungsfähigkeit aller Akteure, aller Gäste war beeindruckend und keineswegs nur dem auserlesenen Wodka-Buffet geschuldet.

Danke an Klaus Hiller (LandCineasten), Claudia Weingart (Fotos), Bulbash (Minsk, gleich hinter der neuen Eisarena), der Sonne, dem Wirt am Grill und in der Unterkunft. Vor allem verneigen sich die Doctoren vorm Wodkartell mitsamt Generaldirektor Fürst Fedja. Eines Tages sollte folgendes in den Geschichtsbüchern stehen, die Mutter wird es zum Einschlafen dem Kinde vortragen: „Es war der 24. September 2016. Eine ziemlich wirre Zeit, der Aufstand der Dummen im Land war kaum mehr zu ertragen. Aber das war gar nicht entscheidend, denn an jenem Tag fand das erste Bulbash-Wodkafest statt. Die Menschen kamen, sahen, staunten, tranken und jeder ging mit mindestens einer Flasche glücklich nach Hause. Aber sowas von!“
