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tour_tagebuch

27. Oktober 2016, Chemnitz/Flowpo

Hot Ferkel hat frei (357)


Szene & Auftritt Fürst Fedja, Doctor Pichelstein: Beginn einer Unterhaltung am Tourauto, abgestellt in der Merseburger. Pichelstein raucht. Fedja sucht (immer irgendwas).

 

Kameraschwenk in ein Büro der obersten Etage, in dem sogenanntes „Kreatives Chaos“ vorherrscht, Kamera fängt Bulbash-Flaschen ein, Tippgeräusche auf einer PC-Tastatur. Doctor Makarios beantwortet eine Konzertanfrage, liest laut vor:

 

„Ja, es stimmt, dass im Tourkalender noch einige Tage freigehalten werden, aber auch die Doctors müssen mal freigehalten werden“.

 

Schwenk durchs offene Fenster nach draußen, Close-up: Ein Hotdog fällt zu Boden und stirbt in einer Senflache. Straßenlärm wummert die Karl-Heine auf und ab.

 

Schwenk, langsam, 45 Grad gen Ost: ein altes Mädchen fährt einen Kinderwagen spazieren. Aus dem Wagen ragen Bierflaschen. Es grüßt, Fedja kramt in seinen Taschen, grüßt zurück, man kennt sich. Pichelstein raucht.

 

Stimme aus dem Off: Ganz bald steigen die Helloweenparties. Auf Leipziger Straßenmöblierungen wird ein sich damit schmückender Nachtclub beworben. Freizügig präsentieren drei Damen kinoeske Herrenwelten. Dirty Cindy hat Dienst. Nasty Kitty und Bad Barby, zwei People of Color.

 

Zwischenszene, bevor sich Fedja und Pichelstein unterhalten: Verzweifelt versuchen zwei junge Mädchen mit Hannover-Dialekt (also Null-Dialekt) in die Pension des NBL zu gelangen. Eines schreit in ein mit Spongebobs verklebtes Smartphone, eines saugt hastig an einer Dose Red Bull.

 

Dialog der beiden Mädchen:

1: „Warum tust du das?“

2: „Im Forum von The Better Berlin stand: In Leipzig ist Red Bull total tricky-in. OMG!"

 

3-Sekunden-Einspieler: „Nur ein Leutzscher…“ & „Das kann doch einen Lok-Fan nicht erschüttern…“

Blende, Dialog Fedja, Pichelstein, zwischendrin: erstauntes Nicken der Probanden.

 

F: „Wie, People of Color?“

P: „PoC ist die brandfrisch politisch korrekte Bezeichnung für Mensch***Innen aller Hautfarb***Innen und Stern***Innen in vielen Wörtern... das mal ich dir gleich mal auf... symbolisier***Innen, so wurde es unweit der letzten Campus-Demo, Motto: +++ Kant war kein Aufklärer, Kant war ein Faschist +++ erörtert, das drittmögliche Geschlecht. Keines darf unterdrückt, verschwiegen werden. Es könnte sich ja etwa bei Bad Barby… sicher weiß das keiner…. um Mann, um Frau oder um eine Transitionierende, resp. Nichtbinärin handeln. „Transgender“ darf indes nicht gesagt werden, das ist schon wieder total kantig, resp. faschistisch.“

F:„Und Hot Ferkel? Was ist mit der?“

P:„Die hat Uni und Helloween frei“.

F:„Aha.“

P„Dann lass uns mal nach Chemnitz fahren“.

F„Geht nicht, ich hab das Navi zuhause vergessen“.

 

Abgang Fürst Fedja, Doctor Pichelstein. Doctor Makarios erscheint im Bild, brummt: „Ich hab Hunger“.

Szenenapplaus, Ende des Vorspiels.

 

Wenig später zischt der VW-Dieselskandal Richtung Chemnitz. Richtig, VW. Die Schmette BMW darf heute zuhause bleiben und Moos ansetzen. Pichelstein wurde zum Fahren verdonnert und Fürst Fedja ringt mit dem Zerquetschungstode auf der Rückbank. Damit es dort nicht langweilig wird, beginnt von nun an ein zweitägiges Spektakel. Es trägt den polarisierenden Titel: „Mein Handyakku ist alle“ und jedweder Versuch diesem leidvollen Sujet Einhalt zu gebieten scheitert. Nun ja, ob ein Satz wie dieser aus der Makarios-Feder: „Wirf es einfach aus dem Fenster“ lösungsorientiert ist, hm, das sei dahingestellt.

 

Im Flowpo wird ausgeladen, Chef Danny kredenzt Kaffee und belgisches Bier mit dem Rat, davon lieber nicht so viel zu schnell zu trinken. 6,6 Umdrehungen sind auf halbleerem Magen kein Pappenstiel. Aber das Gebräu, ja, es schmeckt sehr lecker. Beste Voraussetzungen zum Bühnenaufbau, zum Hotel-Check-in. Wie immer an diesem mittlerweile auch schon legendären Spielort der Russian Doctors klappt in der Folge alles. Der Soundcheck gehört in die Galerie, die Schnitzelteller gehen weg wie warme Semmeln. Aber weil das mit den „Semmeln“ so altbacken ist, könnte es auch heißen: Die Schnitzelteller gehen weg wie die Downloadsingle „Helene Fischer singt im Duett mit Elvis: Hot Ferkel, Love Me Tender“.

 

 

Mit dem letzten Haps wird’s schon voll im Rund. Hallihallo, wow, Karl-Marx-Stadt hat sich rausgeputzt und alle, die man sehen wollte, sind auch da. Gut, es fehlen welche. Da gibt es immer Gründe. Schließlich ist Donnerstag und morgen Freitag und dann Samstag, ach was noch alles. Neu in der Garde der Enthusiasten ist ein waschechter Friedhofsmusikant, der sich gleich als solcher vorstellt. Um zwei Dinge vorwegzunehmen: Ja, natürlich ersteht der noch die Prumskibeat-Platte „Orchester des Todes“ und, wie Chefwirt Danny berichtet: „Jetzt sind schon 200 Prozent mehr Gäste da als beim letzten Konzert“.

 

 

Keine schwere Hypothek für die Erben Pratajevs! Los geht’s, das Volk säuft, das Intro läuft, „Wodka Wodka“ mengt sich der Szene bei und dann hat er sie, der Doctor Makarios. All die lieben Tierärzte, Schwestern, Schülerinnen, Gärtner, Musikanten, Pfleger, Arzthelferinnen, auch die derzeit neugierig nach irgendwas im Leben Suchenden, die Studenten, Lehrer, Professoren, die frechen Kellnerinnen, die Fetischliebenden, die schwierigen Seelen mit trunkenen Kehlen, die Sonderbaren, die Lauten, die Leisen, die perfekt Filmenden uvm. Und während auf der Bühne der Herzschlag des Glücks und der Zuversicht unweigerlich pocht, Doctor Pichelstein aus „Beim Bücken“ ein „Ti Amo“ zaubert, über den Pausenbreak hinaus, der Rotarmist im Keller ist, Fürst Fedja prostet, während all dies geschieht, bleibt ein Lied. Ein letztes Lied und es handelt von den Lappalien der Leidenschaft, ausgelebt na wo? Genau. An der Schnapsbar, denn alle müssten raus an die (…)

 

22. September 2016, Pößneck/Pößneck Alternativer Freiraum (PAF)

Wie drei faule Schiffe, die auf dunklem Wasser schlafen (356)

 

Einstieg in die Tourschmette. „Junge, Junge, der Himmel hängt nicht voller Geigen, sondern voller Gänse“, ruft Fürst Fedja direkt nach dem eben erst reichlich verkonsumierten Frühstück. Und richtig. Über dem Stadtteil Friedrichstadt fliegt eine Schar gefiederter Luftikusse in Formation den Dresdener Öfen davon. Für die Doctoren geht’s jetzt nach Karlsbad, den Egerländer Hof zum Mittagstisch fest im Visier. Nach dem Grenzübertritt: großes Hallo mit „The Cure-Fans on Tour“. Makarios erklärt den Robert Smith-Jüngern noch kurz, wie die Vignette an der Frontscheibe anzukleben ist, dann nichts wie weiter durchs Schmuddelwetter. In diesem Jahr mündete ein unerwarteter Indian Summer glatt in jene dunklen Tage, die sich bleiern aufs Gemüt legen wollen. Doch all das nicht mit den Doctors, in Karlsbad warten tschechische Spezialitäten in fester und flüssiger Natura. Da kann es noch so feste regnen und nebeln: gutes Essen macht glücklich und dauernd darüber nachdenken zu müssen, was man alles nicht essen will, macht was? Genau. Ist nicht näher zu erläutern, jedenfalls kriegt man davon blasse Gesichtsfarbe mit dunklen Pickeln auf der Nase und muss eines Tages sein Glück auf einer Ü40-Party im Alten Lederwerk suchen.

 

 

Im Egerländer Hof besteht die einzige Schwierigkeit darin, einer sehr korpulenten, nach einem gesundheitlichen Defekt sabbernden älteren Dame nicht beim Zerkauen der Nahrung zuzusehen. Leider ist man durch Facebook oder TV-Formate wie „Dschungelcamp“, „Deutschland sucht den Superstar“ etc. mittlerweile so auf den pawlowschen Hund gekommen, dass man das Elend unbedingt sehen muss. Ja, Elend ist seit Mitte 2000 ganz toll und jeder will dran teilhaben. Man denke nur einmal an Autofahrer, die mit Smartphones tote Leichen am Unfallort vorbeirollend filmen und diese doch sehr private Angelegenheit des Sterbens wenige Minuten später auf Youtube hochladen. Ist die Welt doch schlecht geworden, Junge, Junge. Schnell wegsehen von der sabbernden Dame, hoch die Schwarzbiergläser und Zähne reingeschlagen in Ente, Gulasch, Knödel und Braten.

 

Nach diesem schönen Ausflug, verbunden mit mageren Pilzfunden an Straßenrändern, wird Thüringen angesteuert. Es geht nach Pößneck, ins PAF, und bei Ankunft ohne große Umschweife direkt an den Grill. Auf Privatparties sollte man sich keinen Illusionen hingeben – meist zu unerwartet früher Abendstunde sind die Kohlen erloschen, der Grillmaster betrunken und es regnet heftig in den vergessenen Kartoffelsalat hinein. Ja, das Tourleben ist schon eine tolle Sache. Satt wird man immer und getreu Pratajevs Ode an den Wanderer ist dafür nie ein Salär zu entrichten. Sehr gut. Und sehr gut drauf ist heute auch der bitterbierige Thomas, Organisator des Events und vermutetes Geburtstagskind. Doch der Anlass ist eigentlich egal, wie immer kommt es auf die Feier an. Dass die laut und heftig gelingt, davon wird das gefühlte, tomatenförmige Großherzogtum Pößneck noch lange berichten, doch der Reihe nach.

 

 

Minuten nach dem Soundcheck, in dem jede Mühe mithin von kleinen Erfolgen gekrönt wurde, tritt eine jugendliche Sängerin vors Mikro, greift entschlossen zur Akustikgitarre, legt verspielt los und mäandert traumgleich von Lied zu Song dahin. Es koppelt ein wenig, weil die Gitarre an keinen Stromkreis angeschlossen werden kann, aber bald ist Weihnachten. Liebe Eltern, so eine akustische Erlenholz-Ovation mit Klinke-Tonabnehmer (wie sie Tsutomu Kobori gottergeben zupft) sollte in diesem Jahr unterm Baum liegen. Doctor Pichelstein berät gerne. Der Pratajev-Tross hockt derweil zu 2/3 rauchend in einer Ecke wie drei faule Schiffe, die auf dunklem Wasser schlafen. Dann klingelt der Wecker, fragt: „Wollt Ihr Schnaps? Geht los.“ Ah! Und das ist schön, das gefällt Doctor Pichelstein besonders. Der Tonmischer ist eindeutig auf seiner Seite, heißt: Heute wird nicht nur schnell, sondern vor allem mit reichlich Ohrenfutter gespielt. Makarios schaut dann und wann verzweifelt; aus den Monitoren, den Frontboxen: Nichts als dicke Gitarrenwände. Gepaart mit jeder Menge Flüssigdoping steigert sich der Speeddoc von Stück von Stück und mit ramponierten Fingern geht’s in die verdiente Schnapsbar-Pause des Volkes.

 

 

Majestätisch geht’s 18,5 Minuten später weiter. Das Publikum teilt sich in drei Zusammenhänge. Gruppe eins tanzt, feiert, singt. Gruppe zwei denkt darüber nach, zur ersten wechseln zu wollen, wippt darunter bereits heftig mit Hüften und Zehen. Gruppe drei plagt das schiere Entsetzen, dass zwei wohlstimmige Musiker sich diesem Pratajev verschreiben. Es wird sogar ein Brief verfasst, in dem das genauso steht. Aber Gruppe drei ist eindeutig in der Minderheit, eine Radikalisierung ist nicht zu befürchten und so werden schadlos die Zugabeblöcke erreicht. Höhepunkt darf hier die goldecksche „Samtmarie“ werden, die sich tief in die Herzen der männlichen Besucher frisst. So tief, dass mancher spät in der Nacht sein ganzes Leben in Frage stellt, kopfschüttelnd an der Schnapsbar sitzt und nach einem heilenden Bulbash verlangt.

 

Gute zwei Stunden später schleicht die Tourschmette hinter einem lichtlosen Rennrad durchs nächtliche Pößneck her bis die Unterkunft, der schmucke Franzenshof im eingemeindeten Jüdewein, erreicht ist. Herrlich ist doch die Geruhsamkeit. Und die Aussicht auf ein kräftiges Frühstück darf ruhig auch schon sein.

 

  1. 21. September 2016, Dresden/Café Friedrichstadt, Weinkeller
  2. 24. September 2016, Garbisdorf/Kulturgut Quellenhof, Wodkafest
  3. 27. August 2016, Leipzig/Hinterhof Schleußig, Doctors-Grillen
  4. 09. September 2016, Leipzig/UT Connewitz

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