tour_tagebuch
Schlagzeuger und Linksaußen haben alle einen laufen (359)
Unaufhaltsam schreiten die Nussknacker-Armeen voran. Wir schreiben die Vorweihnachtszeit des Jahres 2016. Eine Zeit, in der alles sehr besinnlich ist. So besinnlich, dass man gefühlt 30 Termine auf einmal hat. Im November ist das alles nicht so, da bricht die Schwermut herein, die Tage sind dunkel und keine Lichterkette blitzt. Kurzum: es wird, der Toten gedenkend, so vor sich hingeschlurft. Doch nur wenige Wochen später steht man helle erleuchtet am Glühweinstand und das Leben ist wieder schön. Oder anders. Um diese Zeit herum spielen The Russian Doctors traditionell ein meist letztes Jahreskonzert in der Leipziger Frau Krause. Ohne Plakate, ohne Pressemitteilung, lediglich in den angeblichen „sozialen Medien“ verbreitet. Also dort, wo das Daumenkinoland zwischen Ponyhof und Abrissbirne regiert. Die Frage, die sich jedes Mal für die Doctors stellt, ist folgende: Wie voll wird es diesmal? Dass viele kommen werden, steht außer Frage. Aber passen alle hinein? Und reichen die Schnitzel?

Doctor Pichelstein betritt als erster das Wirtshaus des Glücks. Wo er schon mal da ist, baut er die Bühne auf. Support gibt’s in flüssiger Form. Chefdoctor König steht Maßkrug bereit. Schon jetzt sind die meisten Tische besetzt. Wer schlau war, bestellte eine Vorhut in die Krause hinein. Besorgte Anrufe: „Gibt es noch Schnitzel?“ werden knapp mit „natürlich“ beantwortet und schon strahlen sich Fürst Fedja und Doctor Makarios ins Wirtshaus hinein. Aus der Küche hört man's klopfen, da kann der Soundcheck bald losgehen. Mister Sascha Waldfrieden und Mister Peter Krause-König machen Witze. Es müssen um die 20 sein, zwei davon sind haften geblieben (die anderen waren auch nicht schlecht). Aber Witzebehalten ist eine Zier, die nicht jedem vergönnt ist. Das ist wie mit den Sprichwörtern, die sich nach jedem Schnapsglas leicht verändern.
In der Metzgerei.
Kunde: „Ich hätte gerne 200 Gramm Leberwurst von der groben fetten.“
Metzger: „Geht nicht, die hat heute Berufsschule.“
Im Restaurant.
Sie: „Ich muss Dir was gestehen, Schatz, ich bin farbenblind.“
Er: „Ich muss Dir auch was gestehen, Schatz, ich komme gar nicht aus Gera, sondern aus Guinea.“

Nicht nach und nach, sondern schwallartig füllt sich der Saal. Einzelne sind kaum auszumachen. Wittenberg, Oranienburg, Teschendorf, Markleeberg, Torgau, Wismar, Berlin, Dresden, Magdeburg uvm. schickten Gemarkungsvertreter. Der Leipziger Pratajevsüden ist fast vollständig versammelt, auch Nord- und Westlinge tragen randvolle Krüge überm Holzboden spazieren. Schnitzel dampfen, Schnäpse tanzen und „Schlagzeuger und Linksaußen haben alle einen laufen“, sagt wer am Doctoren-Tisch mit weisem Lächeln. Langsam wird’s Zeit, sich gen Bühne zu trollen. Eines der CD-Intros auszusuchen, es zum Player zu tragen, um die Pratajev-Showtime anzukündigen, fällt aus. Es gibt einfach keinen freien Weg mehr, die Krause ist brechend voll. Also los mit „Wodka Wodka“. Der Reigen ist samt Kollabiergelegenheit eröffnet.

Gleich zu Anfang des Sets wird wild bis desaströs getanzt und mitgesungen, so dass Makarios im Konzertpart „Landleben“ einen Flüssigpreis für den besten Vorsänger und/oder Publikumsgitarristen auslobt. Um es vorweg zu nehmen: An diesem 02. Dezember 2016 wird Stephan Schreiter (Sektion Torgauer Brückenkopf) in den highligen Doctoren-Orden aufgenommen. Für den derart genial und fehlerfrei vorgetragenen Gitarren- wie Sangespart „Gefesselt“ gibt es am Ende vom Lied eine Flasche Kräuterschnaps aus dem Hause Kaktus. Wohl bekommt’s.
Bis zur ersten Pause fließen, die Putzfrau hat es später überschlagen, 2,5 Liter Doctorenschweiß durch die Frau Krause. Pichelstein, beherrscht vom Adrenalin, fliegt samt Gitarre durch Rausch und Zeit. Makarios brettert auf einer Pratajev-Harley stimmlich durch die Versammlung der Enthusiasten. Vor der Eingangstür scharren noch mehr Menschen mit den Hufen. Ein wirres Wartezimmer an kühler Abendluft. In der Pause wird davon etwas hineingelassen. Fürst Fedja lässt sich zu einer forschen Bulbash-Verkostungsrunde hinreißen. Das muss sein, denn ab heute steht das Feuerwasser aus Minsk auf der Krause-Trinkerkarte.

Leichten Fußes starten die Doctoren ins Prä-Pausenabenteuer, beladen mit Geschenken, vielen demütigen Dank dafür. Zweifelsohne: Pratajevs Geschichten kennen kein Verfallsdatum, die Eskalation der Kabale regiert. Frei nach Wittgenstein könnte umgewandelt werden: „Pratajev ist alles, was der Fall ist". Und so ist noch einiges in der Pipeline bis Doctor Makarios nach der vierten oder fünften oder zehnten Zugabe fluchtartig von der Bühne springt und sich hinter einem großen, imaginären Gänsebraten versteckt. Pichelsteins Beine lahmen, er kommt nicht hinterher, hockt in der Ecke und schnaubt. Was soll er machen? Vorne schreien sie den schnellsten Erlenholzgitarristen wieder auf die Bühne, bestechen ihn mit Schnaps. Es muss sein, Solo wird Liedgut vorgetragen. „Schau mich nicht so an“ und einiges mehr. Beinahe, und das wäre ein glatter Fehler gewesen, den er mit einer weiteren Bühnenhalbstunde hätte bezahlen müssen, rutscht ihm noch Arbeiterliedgut á la „Die Internationale“ raus. Doch, nein. Pichelstein beißt sich auf die Zunge, wirft das Plektrum in die Menge und versteckt sich ebenfalls hinter einem imaginären Gänsebraten. Kraft weit geöffneter Augenringe nebst Denkerstirn fällt ihm nur noch ein: "Gut gemacht, Eigenlob muss sein". Und DANKE, liebes Krause-Volk. Wir sehen uns zum Open Air im Frühjahr wieder.

Ein Glas Nutella, eine junge Frau und ein Hund (358)
Ein Doctor nach dem anderen erwacht im Mercure-Hotel, wieder einmal ist das Frühstücks-Buffet bereits lange geschlossen. Schlau, dass man’s nicht buchte! So wie heute verhält es sich in den meisten Tourfällen: 1. Aufsteher Doctor Makarios, 2. Doctor FraFö, 3. Doctor Pichelstein. Und so wie heute klopft der Erstaufsteher gerne ans Kämmerchen des Zweitaufstehers, der aus der Slowmo-Dusche schreitet, die Tür öffnet und wie siedenes Kartoffelwasser in den Flur dampft. Würde Makarios Brille tragen, wäre die jeweils glatt beschlagen. Pichelsteins Job besteht zu einem wenig späteren Zeitpunkt darin, anhand letzter verbliebener Feinmotorik-Reste Gitarren mit neuen Stahlsaiten zu versorgen. Das erklärt dann auch, warum der frisch gebackene Olympiasieger öfter reichlich gesichts-gestriemt in das erste Tagesfoto lächelt. „Der Akku hat nicht geladen, die Steckdose ist kaputt“, ruft Doctor FraFö noch, dann folgt der Rückzug aus dem Mercure in geordneten Bahnen.

Im Flowpo muss die Backline verladen werden. An der Schnapsbar warten kirschroter Likör (igitt) und Kaffee (lecker). Eine der immer noch wachen Kellnerinnen erzählt die Geschichte vom Glas Nutella, die an dieser Stelle nicht in Gänze wiedergegeben werden kann. Würde sie in Gänze wiedergegeben, käme das Tourtagebuch auf den Index. Nur so viel sei bruchstückehaft, poetisch verpackt verraten:
Ein Glas Nutella, eine junge Frau und ein Hund
Treffen sich zu später Stund
Sie nimmt das Glas und schmiert sich damit ein
Sagt zum Hund
Nun lecke fein
Ende. Ohne kirschrot zu werden. Braunschweig ruft. Mit einem Zwischenstopp am Karl-Marx-Stadt Borna Hp. Es gibt Kuchen. Makarios und Pichelstein sind glücklich. Es gibt eine Steckdose. Fürst Fedja ist glücklich. Zwischenzeitliche Handy-Ladeversuche am Zigarettenanzünderloch schlugen zuvor im Auto fehl. Jedenfalls: Das Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft „Der Tierarzt“ präsentiert mit besagtem Bahnhof einen neuen, potentiellen Ort gesellschaftlicher Feiermomente mit viel Auslauf ins Grüne. „Da müsste noch ein Zaun vor die Gleise, sonst laufen die Betrunkenen den durchfahrenden Zügen entgegen“, bemerkt Doctor Makarios fachmännisch. „Kein Problem“, ruft der Tierarzt und entschwindet zur ersten Operation an diesem nasskalten Freitag. Einer Katze muss der Schwanz teilamputiert werden, ein Reifen rollte drüber, nun hängt der Schweif in Fetzen. Gerne wären die Doctors bei diesem Ereignis zugegen, doch es geht weiter. Erst zur Tankstelle, dann direkt in den Stau vor Halle und schließlich in den Harz. Und während die ganze Zeit über Roland Kaiser singt (3 CDs, jeweils 16 Titel auf einer), wird der Traum von einem leckeren Grillteller immer größer, immer mächtiger. Fürst Fedja, Makarios und Pichelstein singen ihn dabei immer lauter, den Song vom Knopf, der zubleiben muss. Amore Mio! Bis er platzt. Nicht der Knopf, sondern der Traum vom Grillteller oder meinetwegen der Traum vom Forellenteller. Denn während bereits sommers sämtliche Restaurants im Nordharz um 20 Uhr schließen, setzt die Herbstsaison noch einen drauf. „Küchenschluss um 16 Uhr“ ist unweit der Burg Regenstein zu lesen. Leider ist es genau 16 Uhr und aus furios erwarteten Grilltellern werden im Einkaufscenter Blankenburg schlussendlich Klöpse und Leberkäse an Kartoffeln und letzten Nudeln.

Zwei Stunden später ist kurz vor Wegesende das Braunschweiger Einbahnstraßenmodell mit seinen erschreckend kurzen Ampelphasen überwunden. Alex Andra kredenzt heiße Würstchen und Gnocchi-Salat am Holztisch bevor der heutige Auftrittsort ins Visier gerät, die Galerie „einRaum5-7“, knapp 30 Quadratmeter groß. Eigentlich war das Theater Lindenhof das Ziel, doch es muss unmittelbar nachdem Plakate und Flyer gedruckt und verteilt waren, Streit gegeben haben. Die Braunschweiger Zeitung berichtet in großen Lettern „The Russian Doctors im Theater Lindenhof“. So ein Pech aber auch, beziehungsweise: Sei eine Möwe und scheiß drauf. Kurzum: das Publikum trägt schwer daran, die Erben Pratajevs in der Eintracht-Metropole ausfindig zu machen. Doch jene tapferen vielleicht 25, die sich durch den nassen Herbstwind im Laufe des Abends hierher verirren, werden großes erleben, ein Feuerwerk russischer Zange, vor Freude flirrende Stimmen und ein Gitarrengewitter, das sich gewaschen hat.
Verleger Wallgold II Junior war mitunter so fleißig, die Bühnenecke herzurichten, Eintracht Braunschweig führt 2:0 in Dresden. Alex und Kai Andra brauchen dringend Bulbash aus großen Bechern, Dresden trifft ins Schwarze. Verlegergattin Heike verteilt bereits das dritte Wolters Pilsener an Doctor Pichelstein, Ausgleich. Stehkragenproletariat verschwindet in der Kneipe gegenüber, Doctor Makarios ruft zur Bühne, Braunschweig verliert 2:3 und die Trauer ist groß. Ein guter Grund, mit dem ersten Set loszulegen. Herbstblätter fallen, Saft steigt aus allen Gallen und so bringen es die Doctoren nach wenigen Minuten tatsächlich fertig, erfolgreich Trauerarbeit zu leisten.

Die Phase der Akzeptanz ist frei nach Elisabeth Kübler-Ross fix erreicht, dann brechen alle Dämme. Beim ersten Bühnenschnaps erleidet Doctor Makarios noch einen Niesanfall, beim nächsten und übernächsten wird der Bulbash gleich in die Nase gekippt. Frei nach Leo Trotzki: „Um nichts zu trinken, muss man sich nicht versammeln“ steigert sich die kollektive Konzertdramatik bis zum Diskant, bis zur Pause, um gleich danach unter all der schönen Kunst im Raum eine neue Schleife zu drehen. Wieder heißt es zunächst „Beim Bücken“, dann „Ti Amo“, und als die letzte Walzerschnapsbar verklungen ist, hat Eintracht Braunschweig gefühlt nicht nur 12:0 gegen Dynamo Dresden gewonnen, sondern führt kurz vor Schluss im Endspiel der Championsleague 7:1 gegen Barça. Grundgütiger, was für ein feiner Abend und ein ganz lieber Dank gebührt Alex Andra. Zu der es jetzt geht, zurück an den Holztisch. Man darf sich Lieder wünschen, Rio Reiser singen, einen gepflegten (Fürst Fedja) und einen polnischen Abgang (Gästin, deren Liedwunsch unerfüllt blieb) bewundern, lässig an Gefäßen nuckeln und im Regel steht ein großes Nutellaglas.
