Die Bierglasarmee, ein Entenaufschreckpustegerät und ein deutscher Gott (350)


Es gibt nichts, was es nicht gibt. Eine Fahrraddemonstration zum Beispiel, bei der eine der tapferen Verfechterinnen für die Ausweitung des örtlichen Radwegenetzes in die Straßenbahnschienen gerät. Wie eine trunkene Kneipenkometin fliegt sie zu Boden; alsbald werden mitstreitende Helferinstinkte geweckt, Taschentücher gereicht und Tränen getrocknet. Der Doctoren-Tross sitzt derweil gemütlich an der Ecke Riemannstraße, mümmelt an prä-orientalischen Sodbrennereien und ist ganz ergriffen vom Sattelflug mit Schotterflechte. „Ich kann darüber nicht lachen“, wirft Makarios ein. Noch am gestrigen Tage war er es, der einen echten 90-Grad-Tutukin im Outdoor-Velodrom von Leipzig-Plagwitz aufs Parkett legte. Für eine Mitgliedschaft im ESV Blau-Rot Bonn e.V. reichte es hinterher alle Male und so muss in diesem Jahr erneut ein Barhocker auf der Bühne stehen. Wir wollen hoffen, dass Ausnahmen nicht zur Regel werden.


Das 350. Konzert wird es heute werden, im Leipziger Doctoren-Wohnzimmer ist der Sound an diesem samt und sonders heißen Freitagabend bereits gerichtet. Man hätte durchaus Open Air spielen können, doch beim Januar-Booking eines Septemberkonzertes kann niemand ahnen, dass plötzlich Indian Summer ist. Ebenso wenig ahnte die gestürzte Fahrraddemonstrantin morgens um zehn beim Knoppers in der Buchhandlung nicht, dass der Abend im Dress des ESV Blau-Rot Bonn e.V. enden würde. Wie dem auch sei. Nach einer Runde Talcid geht’s zurück in den Nahkampfblumenclub. Wenn das Leipziger Flowerpower Bücher, ein Lebenswerk der skurril-schönen Ereignisse schreiben könnte, ach, das wäre schön. Was hier alles schon los war. Da möchte man ganz sentimental werden und so ist jedes Konzert immer auch ein kleiner Rückblick auf die ersten 13 Jahre The Russian Doctors. Schade, dass Impresario André heute verhindert ist. Da fehlt einem ein wenig der gütige Schulterklopfer, verbunden mit dem Sätzchen „Trinkt mehr als es euch lieb ist“.



Die Starterklappe fällt um 22 Uhr; das Publikum trollt sich bereits vor die Bühne, in den Ecken. Es ist voll, heiß, nass und siehe da: Durch die Tür schreitet er hinein, der Herr Durst, klopft Fürst Fedja aufs Shirt, ruckelt synonym an beiden Doctoren. Er deutet auf die errötende Schnapsbar und schon fliegt er von dannen. „Wodka Wodka glasklar und rein“ wird darunter gesungen. „Wodka Wodka so muss es sein“. Schon füllen sich die Gläser, reichen bald erste Trinkdeckel an den Tischen nicht mehr aus, so strichelvoll sind sie. Die heutige Reise durchs Pratajevsche Wirken birgt durchaus sauflustige Eskapaden. Kein Wunder. Die neue Platte der Doctors steht kurz vorm Durchschreiten des roten Vorhangs. Dass es sie am heutigen Abend noch nicht gibt, ist zwar schade, lässt sich aber nicht ändern. An so einem Werk arbeiten bildgesprochene Rädchen und wenn eine dieser Rundungen geckert, nun ja, dann dauert es eben ein bisschen á la Haarmann-Style („Warte warte noch ein Weilchen…“).



Bereits in der Pause lässt sich Doctor Pichelsteins Schulterabwärtskleidung auswringen, Makarios trägt Salzhemd und Fürst Fedja einen weiteren Bulbash durch die Nacht. Draußen trifft sich das feiernde Volk, selbst die Bierglasarmee hat den Schnapsbar-Standort verlassen. Es wird geraucht, getrunken, philosophiert und bevor alle noch einer Meinung sind, stößt Makarios ins Horn zur nächsten Doctors-Runde. „Der Rotarmist“ beginnt den Reigen und es folgt Pratajevs Gefolge bis nur noch Strumpflöcher übrig sind, ein „Raucher von Bolwerkow“ verhaftet wird und allen klar ist: „Es muss nicht sein, dass das Leben schlecht ist, weil schlechtes Leben nicht gerecht ist“. Jubeltrubeltrinksamkeit brandet auf bis schließlich die Zugaben-Knautschzone prophetisches verheißt.


Nach fünffacher „Schnapsbar“ geht allen die Puste aus und ja, da ist er, der prickelnde, passende Konzertabschluss: die Hymne des Bruders aus der Sowjetunion wird zum Besten gehörpeitscht. Am Mikrofon: Die Number One der Bierglasarmee, in seinem Munde ein Entenaufschreckpustegerät. So muss er verrinnen, der Tag im Flowerpower zu Leipzig. Mit einer neuerlichen, kuriosen Geschichte, die das Leben nur hier schreiben kann. Während sich draußen, am Grillstand, ein emotional stark geladener Zaungast auf Leerflaschenpirsch vor wurstkauenden Taxifahrern entblößt und behauptet, er wäre ein deutscher Gott. Wie niedlich.