Das erste Konzert der Russian Doctors vor dem gebadet wurde.
Oder: Gebadet gefallen sie mir am besten (222)

 

Nachtspeicherheizungen sind so eine Sache. Abends wirken sie recht verlockend, hach, wie schön warm! Und bereits wenige Augenblicke später klirrt der Frost, hockt das Winterwunderland unmittelbar in Nasennähe herum. Doktoren bibbern ergo halbschlafend durch die Nacht. Am nächsten Mittag jedoch, da lockt die Wärme - ein paar Häuserblöcke gen Tornadodurchzugsgebiet entfernt. Und dank Niko Biberowitsch werden beide Pensionsgemächer, ausgestattet mit neuster Flachbildfernseherei (O-Ton Doktor Makarios: „Ich hab alles versucht, alle Knöpfe auf beiden Fernbedienungen gedrückt. Nichts! “) gen Frühstück mit Meerrettichaufstrich gerne verlassen. Schön! Gedeckter Tisch! Lecker und ganz lieben Dank an dieser Stelle ans besagte Ehrenmitglied, natürlich nebst Gattin, der Pratajev-Gesellschaft.

 

Söhnchen Kieran, dem Krabbelalter insofern entsprungen, dass bereits beim Pichelstein-Gitarrenbesaiten hilfreich zur Seite gestanden werden kann, bekommt zum Aufbruch noch das Lied von der Katz‘ gesungen. (…) „Sang doch der Kieran vorhin etwas über eine Katze die weg ist, also hat euer Mittagsständchen ihm gefallen,“ schreibt Biberowtisch dann auch wenige Tage nach dem kleinen Küchenkonzert der Erben Pratajevs. Die müssen aber nun weiter wandern; an gebrochenen Baumkronen, abgedeckten Tornado-Häusern und eingestürzten Fabriktürmen vorbei fährt’s Tourauto wie von selbst Richtung Berlin. Doktor Pichelstein schaltet den Autopiloten ein; der plakatierte Wegesrand zeugt von einer ganz neuen, wirklich tollen CD unseres Howard Carpendale. Gut sieht er aus, doch ein Kaiser, ein Roland wird er nie sein und werden. Dafür fehlt ihm einfach die Joana in der Stimme (geboren um Liebe zu geben / verbotene Träume erleben / ohne Fragen an den Morgen).

Ganz in diesem Sinne liegen Doktoren späterhin gemütlich und nacheinander, mit jeweils frischem Öl- und Schaumwasser, in einer Berliner Badewanne. Die Lichterkette glimmt, der Kaffee dampft, die Pizza schmort im Ofen, Bettruhe wurde verordnet. Weitaus besser, als die noch verbleibenden Stunden bis zum verabredeten Duncker-Soundcheck in einer Friedrichshainer Grünen-T-Stube mit Kinderwagendiktat zu verbringen (früher sagte man „Eckkneipe“). Manjoschka Gnatz, u.a. im Zuständigkeitsbereich „Lektorat“ der Pratajev-Bibliothek im Verlag Andreas Reiffer zu suchen, machte all dies möglich. Den Doktoren gefällt’s und so kann mit Fug und Recht abermals ein Erstling pratajevscher Doktorarbeit verkündet werden, nämlich: „Das erste Konzert der Russian Doctors, vor dem gebadet wurde.“

 

Hendrik, Jürgen, Steffi, der harte Duncker-Wirt – alle Lieben sind schon da und emsig geht’s auf Parkplatzsuche. Denn seit dem die Konjunkturpakete selbst in der Hauptstadt ausgepackt wurden, müssen Absperrgitter, Warnbaken und natürlich Parkverbotsschilder wirklich knapp geworden sein. Die Suche endet dennoch, zwar im Strafzettelgebiet, jedoch nicht in Abschleppszenarien. Gut so. Rasch ein Berliner Pilsener und noch eines, Bühne verkabeln, Soundcheck, rauchen, stehen, sitzen, Mensch, hallo! Lange nicht gesehen – Die Herren um Eademakow und weitere Pratajev-Freunde treffen ein. Hochverehrt, Euch alle hier zu sehen. Und ja, der Duncker ist so schön warm, kein Heizungslapsus Marke CWH wie gestern, herrlich.

Die heutige Schönegeisterschau beginnt mit eröffnenden Worten des Neu-Pratajev-Forschers H. Peetersowitsch (vielleicht wird dieser Name noch überarbeitet bis zum nächsten Almanach „Haus aus Stein“), das Rund sitzt geschlossen und bestens mit sich gefüllt zwischen Bühne, Wänden und Schnapsbar. Die Raucherlonge ist verwaist und nach zwei Doktoren-Liedern gibt’s Doktor Pichelstein mal gitarrenbefreit, lesend, das irrlichternde Phänomen „verschwINDIEN“ betreffend. Dann wieder Doctors Live, des Forschers Eingebungen – abendlicher Höhepunkt für Makarios und Pichelstein, ohne Frage! – Pause, Doctors, Makarios liest „Pratajev – Meine Mutter“ und schlussendlich das abschließende Konzert, bestehend aus jenen Werken Pratajevs, die die meisten der Duncker-Gäste zum vielstimmigen Kanon animieren.

 

Vor der Zugabe verschläft Doktor Pichelstein den anvisierten Showeinspieler, erst ein versprochener Eck-Jägermeister lockt ihn zu sich, dann geht’s weiter und weiter und letztlich doch nicht mehr. Punktlandung, Wende hin zum Abbau und endlich auch der Jägermeister. Nichts vom duftenden Badeschaum bleibt. Dafür sehr später noch die Reise mit dem Bus ins Futteral der Gemütlichkeit.

Gott sei Dank nicht in der Fastenzeit (224)


Wie Baumfreund Ekmel späterhin treffend skizzierte, wurde in Velten selbstredend wild bis hemmungslos getanzt, besonders nach der Pause. Doch nun heißt es: Abschied nehmen, den gemütlichen Gasthof verlassen. Nach Frühstück und dankenswertem Bettverbleib bis hinein in die erste Mittagsgeisterstunde. Sachsen-Anhalt ist das Ziel, genauer: die Lutherstadt Wittenberg. Das „Rom der Evangelen“, wie Doktor Makarios treffend bemerkt. Der Plan ist es, die samstägliche Bundesligakonferenz einmal ohne die in Tourtagebüchern viel zu oft vertretene Ohrverkleisterin Sabine Töpperwien erleben zu dürfen. Heißt: Eine Sky-Sportsbar muss her. Telefonisch werden zwei davon vor Ort ausgemacht. Eine davon, als „Pogobar“ am Handy missverstanden, wird sich nach getaner Reise über Wege (und vor allem Umwege) gar selbst als Poker-Sportsbar im Vereinsheim des Landesklassenvertreters Einheit Wittenberg (aktuell: Abstiegskampf) wiederfinden.


Nun kann man sich sicherlich denken, was einen da so erwartet. Beeindruckt von echten, gestandenen DDR-Männern, die vornehmlich einen Plastekamm in der Arschtasche und ein Beutelchen aus Lederersatz mit sich herumtragen, setzt sich Doktor Pichelstein an den Rundtisch. Der Becher Kaffee lässt nicht lange auf sich warten. Schön wäre zwar ein Bier gewesen, aber das geht noch nicht – der abendliche Irish Harp Pub wird erst in 90 Minuten, nach Spieleschluss, angesteuert werden können. Nürnberg führt auf Schalke, Kaiserslautern gegen Hamburg und die Besucher der Poker-Bar spielen laut schimpfend auf sich, bzw. andere, und somit gegen sich selbst. Sagt ein Kammträger zum nächsten: „Halt die Fresse, wir wollen Fußball gucken“, blickt dabei aufmunternd, um Zustimmung buhlend, beide Doktoren an. Vornehme Zurückhaltung ist angesagt. Die Frage: „Was sind das nur für Leute?“ kann man schließlich auch ins Tourbuch hineinschreiben oder laut denken, als Schalke und Hamburg jeweils ausgleichen oder als der erste Alt-Betrunkene arg verschwenderische Bierglasinhalte gen Holzboden verteilt. Nichts wie an die frische Luft, ans erste Kaltgetränk, immer wieder ein Höhepunkt, das Spielen im Irish Harp.


Die Bühne steht in wenigen Minuten soundgerecht zum Haps aus der Speisekarte, Guinnessblumen blühen schaumwärts und Miss Wittenberg hat Geburtstag. Ein Umstand, der allen im Pub im Laufe des Abends noch viele Hingucker bescheren wird. Taucht die holde Hoheit der örtlichen Gefesselt-Fraktion beim Konzert schließlich als Schwesternschülerin auf und fühlt Doktorenpulse. Herrlich. Boris Brutalowitsch, Pratajev-Neumitglied Nummer 52 in seiner Funktion als „Werwolfjäger“, platziert den Konzertmitschneider, Doktor Pichelstein frohlockt ob einer feinen Holunderschnapsflasche, dankbar gespendet von Begleitung Silvi und die himmelblaue Spendendose für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje thront, mittlerweile bereits anständig gut gefüllt, über der Abteilung Merch. Die Tür öffnet sich im Sekundentakt; schnell platzt der Pub aus allen Nähten. Der Wittenberger Pfarrer schafft es, einen der raren Sitzplätze in Ausschanknähe zu ergattern und ein Geheimnis kommt ans Licht. Jenes, warum es beim letzten Doctors-Konzert hier nur halb so voll war. „Da war Fastenzeit, jetzt spielt ihr hier vor der Fastenzeit…“ Aha. Na da muss man erst mal drauf kommen.





Das Konzert startet via Intro; die Bässe darinnen kollidieren mit den Ausgangsboxen der Konservenmusik. Die PA dagegen ist eine Wucht, klingt auch so, und fanatisch peitschen sich beide Doktoren durchs erste Set bis in die Pause hinein. Doktor Pichelstein scheint vom Sieg der Dortmunder gegen Bayern München auf Red Bull zu sein, doch so was trinkt der ganz gewiss nicht. Boris Brutalowitsch sorgt für gerechten Nachschub, ein Guinness, ein ganz leckeres, ein kaltes fließt in den ausgemergelten Gitarrenweltmeister hinein. Und nach der Pause geht’s genau so weiter, fallen Zugaben auf die Bühne. „Gefesselt“. Natürlich, das Lied der Wittenbergerinnen, darf nie und nimmer fehlen. Aktiver Fetisch muss sein, schließlich befinden wir uns außerhalb der Fastenzeit.

 


Viel später beschleicht die Nacht ein Müdgefühl, längst sind Gitarren, Koffer und Kabel verstaut. In die Bierstuben geht’s. Nicht um dort zu trinken, wie vermutet werden dürfte, nein, dort wird geruht und gehofft, dass der nächste Mittag ein Erbarmen hat.


Es sei am Schluss dann noch erwähnt: Die Heimreise klappte ohne Unterlass, wenn auch mit freudiger Verwunderung vorbei an einer Senioren-Pension namens „Zum Biber“. Über Frostschäden, weniger über Belag, ging es unbeschadet heimwärts. Sonntag, du Wohl der Woche. Auf zum Eishockey, bzw. zum Mexikaner.

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