Eine kleine Bergpredigt oder:

Gottes Ordnungsamt auf Erden (226)


Wenn man sich das heutige Datum, 21. April 2011, auf der Zunge zergehen lässt, dürfte kaum an der Welt gezweifelt werden. Wird indessen etwas genauer hingeschaut, aha, dann ist Gründonnerstag. Der Tag vor Karfreitag. Und was wird dem ganzen Land an diesem Tag verwaltungsrechtlich verordnet? Richtig, Ruhe und Andacht sollen sein. Und zwar ab Mitternacht. Gott will es so, der Papst und seine Prügelbischöfe auf Erden auch.

 

Wir wollen gar nicht gegen die katholische Kirche zu Felde ziehen, wollen uns nur rasch wundern, welche Strahlekraft der Sterbetag eines Menschenfischers (eines Anglers in der Dämmerung) so mit sich bringt. Und erkennen: Einen Bescheid des Leipziger Ordnungsamtes. „Strafe zahlen soll der, welcher Unheil über die Nulluhrmarke zum Karfreitag hinwegbringt und zwar 500 Silberlinge“. Darauf kann es heute nur eine Antwort geben: Selig sind die, die Pratajev huldigen. Selig sind die Schnapsmutigen unter den angereisten Völkern. Selig sind The Russian Doctors und das Leipziger Flowerpower mitsamt Gefolge. Selig sind die Gäste aus Pirna, aus Chemnitz, Torgau, Ilmenau und dem Rest der Republik. Selig sind sogar die sehr jungen Magdeburgerinnen. Selig sind drei leckere Bagel vorm Auftritt. Selig sind Silvi und Stone (danke für die kleinen, feinen Gelbschnaps-Geschenke und der Rundblick ist eine Wucht). Selig ist Anatolij Sabberowski II jun. (danke für Pratajevs Roten aus Vodka und Himbeere & für die Entdeckung alten Pratajev-Schellacks). Selig ist Strobi am Zapfhahn. Selig ist die wummernde Technik auf der Bühne. Selig sind all jene, die das Flowerpower von Null auf Gleich mit sich füllen. Auf dass sie gefüllt werden. Selig sind die Schnäpse mit dem Nährwert eines guten Bauernfrühstücks. Selig ist die POFF-Belegschaft (zu attraktivsten Teilen versammelt).Selig sind die Frauen, Wunder der Beweglichkeit vor der Bühne. Nach der Konzertpause erst recht. Selig ist SEB (danke für die Videos auf Youtube). Selig ist die heilige Fraktion des Fliehenden Sturms. Selig ist die Frau-Krause-Geburtstagsrunde. Selig ist eine Band, die heute niemand mehr kennt (steht hier wegen des Reimeffektes). Selig ist der schnellste Akustikgitarrist der Welt. Selig ist Pratajevs Entdecker am Mikrofon. Selig ist Wallgold II jun., der von Ferne das Große Lexikon des „Puschkin von Miloproschenskoje“ vergoldet. Selig ist der Unbill des Lebens (auch wenn er heute draußen auf der Riemannstraße bleiben muss). Selig ist Helga „Peitscha“ Bauer. Selig sind die Holzlöfflerfamilien. Selig sind alle, aber wirklich alle Raucher von Bolwerkow. Selig sind die Sektierer an der Bar. Selig sind die Komsomolzen aus den russischen Teilrepubliken am Bühnenrand; ihr federnder Schritt ist nicht nur dem Inhalt großer, nunmehr leerer Flaschen zu verdanken. Selig sind die Siechenden, an der Bar wird ihnen gerne geholfen, wird Wasser zu Schnaps verwandelt, werden Schnapslästerer schiefkrumm beäugt. Selig ist und selig sind sie heute alle. Bis besagte Uhr sich gefährlich nah an Gottes Heilig-Geiststunde heranpirscht.

 

 

Wir wollen an dieser Stelle aber keineswegs verraten, wann die letzte Zugabe der Russian Doctors denn nun tatsächlich über den Jordan, bzw. über den Ölberg ging. Römische Legionäre stießen jedenfalls nicht dazu und nahmen Makarios & Pichelstein zur Kreuzigung mit. Drum soll niemals Ruhe sein, sollen Doctoren spielen, wann immer man es will, soll laut und heftig getanzt werden. Sollen die Reliquien schweigen, fasten und höchstens einen Biber braten. Denn ein Biber ist ein Fisch, der kam immer schon auf den Priestertisch. Gottes Ordnungsamt auf Erden, trinken wir trotzdem auf deinen Unsinn, der dich antreibt. Bis so gegen Vier in der Früh. Und danach ein leckeres Steak vom Flowerpowergrill. Da beißt man gerne die Zähne zusammen, sofern man welche hat. Ach ja und selig soll auch der Taxifahrer sein, auf dass kein Unheil ihn jemals beschleiche.

 

 

Im Wohnzimmer der Enthusiasten (225)


Leipzig, aus Messeanlass heute mal wieder Bücherhauptstadt, macht es seinen Einwohnern und Gästen nach wie vor schwer. Das war schon immer so, sagen die, die es wissen. Das wird immer unglaublicher, sagen die, die es besser wissen. Fangen wir beim Irrsinn einer Olympiabewerbung an, nehmen die Umweltzone hinzu, umfahren allerorten jene Asphaltschlagloch-Minenfelder im Geiste Gaddafis, besehen den Braunkohleuntergrund mit seinem U-Bahnunsinn, rufen dann noch irgendeine debil besetzte Behörde an, in der sich ehemalige LPG-Kuhstallabsolventen zu Abteilungsleitern hochmelken konnten, schlagen die Zeitung auf und fragen uns, warum der Westen seine wirtschaftlichen Überflieger ständig über dem hiesigen Rathaus zum Absturz bringen muss. Nur zwei Beispiele der jüngsten Epoche: Import aus München: Wasserwerke-Heininger, aus Köln: LVB-Hanss. Näheres dazu (Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Gesamtschaden in Millionen etc.) via Gerichtsprocedere. Dagegen hilft Lächeltherapie; wer mag, darf demonstrieren, zornige Leserbriefe schreiben oder einfach in ein Wohlfühl-Wohnzimmer der Enthusiasten eintauchen. Eines davon lädt ins Stadtteil Lindenau ein - in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wege e.V. gelegen, befindet sich der Lesesalon des Poetenverlages PaperOne. Dass jener Verein sich um das Wohlergehen psychisch Erkrankter bemüht, soll an dieser Stelle eine ehrenhafte Randnotiz bleiben.

PaperOne-Chef Olli herzt The Russian Doctors im Frontstage, engagiert für den musischen Part des Leseabends. Getränke gibt’s an der Bar, im Klo glimmt eine Kerze auf Holz, nur ist besagter Raum (Tampons zum Mitnehmen auf dem Fenstersims) von innen verriegelt. Sollen darüber Brandschutzsorgen aufsteigen? Nein, keineswegs. Hauke von Grimm ist ein Poet der Tat, entsprechendes Werkzeug wird angetragen, bald bricht schon die Tür. Derweil lesen Klaus Märkert, Myk Jung, Michael Oertel, HC Roth aus Worten, Fernsehern und Werken. Im Hausflur gemahnt die Verwaltung: Miete ist fällig! Kann auch bar bei Frau S. eingezahlt werden. Gefüllt ist’s Wohnzimmer mit Andacht und Menschen und letzten Endes sitzen auch Makarios und Pichelstein dem Auditorium vor. Gedichte aus Pratajevs Zyklus „Lila Nina“ paaren sich mit Setperlen des aktuellen Feldmänner-Programms, münden allenthalben im nach oben offenen Zustimmungsbarometer. Schön warm ist’s und heiß gar im Wünsch-Dir-Was-Obolus. Das Elend der Welt ist nicht tastbar und draußen, bei den Verlagspartys der Helene-Hegemann-Tollfinder, wird damenweise Lipgloss nachgetragen. Mehr Aufregung ist unverzeihlich.

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