Daumenblut (228)


Der Spatz wird gemeinhin als Punkrocker unter den Gartenvögeln wertgeschätzt. Sein kräftiger Gesang, einzig aus drei burschikosen Dur-Akkorden bestehend, könnte lieblicher kaum sein. So lauschen die Doktoren im Terrassenbereich ihrer Elbhangferienwohnung den gefiederten Freunden, nippen am Kaffee und lassen sich selbst durch die Urschreie eines Kampfhahnes vom Nachbargrundstück nicht aus der Ruhe bringen. Denn solche tut Not, der Samstag war schließlich Bummeltag und wie’s beim Bummeln unter hoher Getränke- und Gastrodichte so zugeht, lässt sich in etwa erahnen. Umzug war auch auf dem 21. Elbhangfest. Ein Motto des späteren Mundwasser-Erfinders und Magdeburger Kaufmannsohnes Karl August Lingner zollte den meisten Wagen Tribut: Odole Mio. Was bisher unglaublich erschien und nicht nur im Westen der Republik bestimmt kaum jemand weiß: In Dresden wurde Ende des 19. Jahrhunderts dem berüchtigten Mundstink der Garaus gemacht, ergo: antibakterielles Mundwasser erfunden. Aus Lingners Erlösen ließen sich daraus später sogar prunke Schlösser bauen.

 

Doch zunächst wird alles dafür getan, dass ein Produkt wie Odol am Tagesende zum Nonplusultra voranschreitet. Kesselgulasch hätte man gerne, doch das muss erst aufgetaut werden. Bockwürste helfen in der Frühstücksnot und ganz klar, heute, am Festsonntag, ist Eltern-mit-Kindern-Tag. Zu tausenden sickern sie ein. Das Wetter ist durchwachsen und wartet mit seinen Sonnenausläufern brav auf den Beginn des heutigen Konzertes der Russian Doctors an der Grottenwirtschaft. Dr. Hendrik, mittlerweile leicht geschwächt von bisheriger Küchenarbeit stöhnt beglückt: „Fischbrötchen belegen war bis jetzt das Schlimmste“. Steffen und Freunde stimmen bei und begrüßt werden die Russian Docs (teilweise erstversorgt mit tschechischen Rauchwaren) zum sozialistischen Soundaufbau. Der voran propagierte Satz „Die Grottenwirtschaft ist der ideale Platz, um das größte Stadtteilfests Dresden entspannt zu erleben“ spricht alle Ankündigungen wahr. Schnell noch zwei Bier, dann steht die Bühne, wird’s auf den Publikumsseiten voller und doller (von Pirna bis Chemnitz, Großenhain und von überall), kommt schüchtern die Sonne raus. 15:00: The Russian Doctors, 17:00: Edith Böhm Combo, 19:00: Cosmic Noise. Ein tollkühner Plan. „Na dann mal los“, ruft Doktor Makarios seinen Gitarrendoktor zur Saiten-Arbeit heran. „Wir haben hier neuen Schnaps aus der Brennerei Kaktus“, ruft Pichelstein zurück. „Katzenblut“. Ein großes Dankeschön dafür an die kleine Ostelbiendelegation um Gurt Kaktus. Sehr lecker! Beinahe schnurrend im Abgang, somit ebenso besonders geeignet für weibliche Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft.

 




Da erstaunlicherweise mutmaßlich jede Band des Vorabends eine eigene Anlage zur Beschallung des Publikums mit sich geführt gehabt haben muss (welch ein verschrobener Unsinn), stapelt sich entsprechendes Equipment hinter den Doktoren. Ganz im Überschwung des Freitagauftritts an der Alten Feuerwache startet’s Konzert, beschleunigt sich durch die nicht immer heile Welt Pratajevs, mitsamt ihren weitreichenden Facetten. Doch jene Welt geriert sich rasch zu allem Wohl, formiert Thekenschlangen, lässt Mundgerüche und den Wecker eines jeden Montages vergessen. Selbst jene unter den Elbhangbesuchern, die meinen, mit dem Rad überall durchkommen zu können, stocken, lauschen Doktor Makarios Sangesweisen und werden (wenn auch nur wenige Minuten eines sonst gewiss sehr tristen Lebens) nachdenklich. Ja, der „Raucher von Bolwerkow“, so ist’s, denkt unter ihnen mancher Mann. Derweil „Gefesselt gefällt sie mir am besten – macht er doch nicht“, hingegen manche Frau.




 

Dann kracht die dicke A-Gitarrensaite Doktor Pichelsteins rechten Daumennagel in zwei Stücke, welcher wiederum den Schlagdaumen an sich in Mitleidenschaft zieht. Das Blut tropft gemächlich auf den Boden und die Pflasterversorgung lässt auf sich warten. In solchen Momenten gehen einem Gitarristen folgende Sätze durch den Kopf: Hagen wollte Siegfried im Krieg gegen die Dänen speziell schützen. Da sagt ihm Kriemhild das Geheimnis: Er sei verwundbar an der Stelle zwischen den Schulterblättern, wo ein Lindenblatt verhindert hatte, dass das Drachenblut, in dem Siegfried badete, ihn unverwundbar machte, da dort die Hornhaut nicht gewachsen sei (…). Nun denn. Es folgt der Rest vom heutigen Spielplan und sehr froh ist Doktor Pichelstein beizeiten, dass die letzte Zugabe auf der Ersatzgitarre unfallfrei zu Ende schwingt. Mit musischen Hufen scharrt bereits die Edith Böhm Combo. Zeit für einen großen Schluck Katzenblut und Zeit genug, sich an dieser Stelle beim Team Grottenwirtschaft vorzüglich zu bedanken. Druschba!

   

Fotos: Gurt Kaktus

So plötzlich! (227)


Seltsam. Geruhte eben noch die Sonne recht kräftig aufs Autodach zu scheinen, gewinnen aktuell unwetterartige Wolkenmassen aus Richtung Großenhain die Oberhand. Während Doktor Pichelstein nassen, autobahnigen Wetterlaunen - mit Vollgas vorbei an mäandernden LKW-Wänden - zu entfliehen versucht („Schnell weg hier, mein Doktor, das gibt bestimmt gleich einen Tornado, rechts hinter uns ist alles pechschwarz“), treibt das Wolkenungeheuer bereits tropfschwere Blüten. Was bleibt einem da in Zeiten viel beschworener Klimawandelei? Heimatsender einschalten, Schlager hören und beizeiten sogar mitsingen. Schade nur, dass es das berüchtigte Leipziger Duo, Geheimtipp für jung, alt und den Rest der Familie, Svenni & Holgi („Weine nicht, kleiner Bär“) immer noch nicht in die honorigen Playlisten von Radio Antenne Sachsen geschafft hat. Ein wenig Liedgut aus dem Repertoire: „4 Jungs auf der Autobahn / wollen schnell nach Hause fahren / denn da wartet die Liebste / hat schon viel geweint (…)“.

 

Bis Dresden geht das so. Das Blaue Wunder ist das Nahziel und der durstige Wunsch nach einem leckeren Bier an diesem Freitagabend, dem insgesamt mittlerweile 8. Elbhangfest für die Russian Doctors, greift immer mehr um sich. Dann wird ausgestiegen, ist die Alte Feuerwache erreicht, verursacht das erste Rothaus glühende Bäckchen. Ganz so wie’s Flaschenetikett verspricht.

 

Die Bühne steht bereits, nur der Regen hört nicht auf, doch übers andere Elbufer ziehen bereits lichtere Wolken verlockende Bahnen. Nach dem zweiten Kaltgetränk ist plötzlich wieder Sommer. So schnell kann’s gehen. Der Merchstand leuchtet, der Soundcheck ist getan, die ersten Gartengäste werden geschüttelt und gerührt geht man zum Handschlagwerke über. Schön! Doch dann die erneute Apokalypse: Noahs Arche, Weltuntergang, Reg dich nicht auf (wenn es mal regnet), Elbeflut, das 7. Zeichen – Doktor Pichelstein geht derlei vieles durch den Kopf, als Platten, CDs und Bücher flinker Hand zurück in Kisten gestopft werden, als grobe Hagelkörner gestandene Bierbecher umstoßen, als Setlisten von der Bühne fliegen und der Sturm am Dache reißt. Dann die Erlösung: Ein doppelter Regenbogen zieht auf und mit ihm schallt’s Intro der Russian Doctors durch die Höhen und Tiefen des Elbtals: Es ist unheimlich hart, der Beste zu sein…

 

 

Beginnen die „Feldmänner“ noch im strömenden Herbstregen, setzt bereits vier Pratajev-Weisen später das blauhimmelige Sommeridyll wieder ein. Und so geht’s dann weiter, wild und heftig. „So plötzlich“, wird gerufen. Immer wieder. Gemeint ist damit das Lied über die Gefrierkatastrophe von Bolwerkow aus dem Jahr 1960. „Man registrierte einen Temperatursturz von +12 Grad Celsius auf -38,2 Grad Celsius innerhalb von 24 Stunden. Das Gefriergebiet hatte eine Ausdehnung von zehn Kilometer nördlich, 2,5 Kilometer südlich, 1,9 Kilometer westlich und 4,2 Kilometer östlich – vom Bolwerkower Dorfplatz aus gesehen (…)“ weiß das Große Pratajev-Lexikon darüber zu berichten. Oft wird in der Folge also „Als das Eis kam so plötzlich“ gespielt. Nur die „Schnapsbar“ toppt keiner, die gibt’s vor jedem Zugabeblock – und bis auf wenige, zum Teil nahezu vergessene, somit kaum mehr spielbare Titel aus dem Repertoire Pratajevs, wird das Große Pratajev-Liederbuch, komplett gespielt. Recht rasant, möchte man meinen, und irrt damit keineswegs. Selbst als der allerletzte Schlussakkord längst verklungen ist, entsprechend schöne Dosenmusik bereits an Langmut gewonnen hat, sollen die Doktoren – mitten im Publikum - unplugged weiterspielen. Es gibt noch „Der edle Mann“ – und nein, das Kanapee mit dem Girl drauf, das klappt dann keineswegs mehr. Zurück auf der Bühne bleiben leere Schnapsfläschchen, Geschenke des Fliehenden Sturms, einst gefüllt mit Kräutern aus dem Wald. Du meine Güte, was für ein Abend. Sehr vielen, vielen, vielen Dank dafür!



 


Fotos: SEBsixsixsix

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