Gott sei Dank nicht in der Fastenzeit (224)


Wie Baumfreund Ekmel späterhin treffend skizzierte, wurde in Velten selbstredend wild bis hemmungslos getanzt, besonders nach der Pause. Doch nun heißt es: Abschied nehmen, den gemütlichen Gasthof verlassen. Nach Frühstück und dankenswertem Bettverbleib bis hinein in die erste Mittagsgeisterstunde. Sachsen-Anhalt ist das Ziel, genauer: die Lutherstadt Wittenberg. Das „Rom der Evangelen“, wie Doktor Makarios treffend bemerkt. Der Plan ist es, die samstägliche Bundesligakonferenz einmal ohne die in Tourtagebüchern viel zu oft vertretene Ohrverkleisterin Sabine Töpperwien erleben zu dürfen. Heißt: Eine Sky-Sportsbar muss her. Telefonisch werden zwei davon vor Ort ausgemacht. Eine davon, als „Pogobar“ am Handy missverstanden, wird sich nach getaner Reise über Wege (und vor allem Umwege) gar selbst als Poker-Sportsbar im Vereinsheim des Landesklassenvertreters Einheit Wittenberg (aktuell: Abstiegskampf) wiederfinden.


Nun kann man sich sicherlich denken, was einen da so erwartet. Beeindruckt von echten, gestandenen DDR-Männern, die vornehmlich einen Plastekamm in der Arschtasche und ein Beutelchen aus Lederersatz mit sich herumtragen, setzt sich Doktor Pichelstein an den Rundtisch. Der Becher Kaffee lässt nicht lange auf sich warten. Schön wäre zwar ein Bier gewesen, aber das geht noch nicht – der abendliche Irish Harp Pub wird erst in 90 Minuten, nach Spieleschluss, angesteuert werden können. Nürnberg führt auf Schalke, Kaiserslautern gegen Hamburg und die Besucher der Poker-Bar spielen laut schimpfend auf sich, bzw. andere, und somit gegen sich selbst. Sagt ein Kammträger zum nächsten: „Halt die Fresse, wir wollen Fußball gucken“, blickt dabei aufmunternd, um Zustimmung buhlend, beide Doktoren an. Vornehme Zurückhaltung ist angesagt. Die Frage: „Was sind das nur für Leute?“ kann man schließlich auch ins Tourbuch hineinschreiben oder laut denken, als Schalke und Hamburg jeweils ausgleichen oder als der erste Alt-Betrunkene arg verschwenderische Bierglasinhalte gen Holzboden verteilt. Nichts wie an die frische Luft, ans erste Kaltgetränk, immer wieder ein Höhepunkt, das Spielen im Irish Harp.


Die Bühne steht in wenigen Minuten soundgerecht zum Haps aus der Speisekarte, Guinnessblumen blühen schaumwärts und Miss Wittenberg hat Geburtstag. Ein Umstand, der allen im Pub im Laufe des Abends noch viele Hingucker bescheren wird. Taucht die holde Hoheit der örtlichen Gefesselt-Fraktion beim Konzert schließlich als Schwesternschülerin auf und fühlt Doktorenpulse. Herrlich. Boris Brutalowitsch, Pratajev-Neumitglied Nummer 52 in seiner Funktion als „Werwolfjäger“, platziert den Konzertmitschneider, Doktor Pichelstein frohlockt ob einer feinen Holunderschnapsflasche, dankbar gespendet von Begleitung Silvi und die himmelblaue Spendendose für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje thront, mittlerweile bereits anständig gut gefüllt, über der Abteilung Merch. Die Tür öffnet sich im Sekundentakt; schnell platzt der Pub aus allen Nähten. Der Wittenberger Pfarrer schafft es, einen der raren Sitzplätze in Ausschanknähe zu ergattern und ein Geheimnis kommt ans Licht. Jenes, warum es beim letzten Doctors-Konzert hier nur halb so voll war. „Da war Fastenzeit, jetzt spielt ihr hier vor der Fastenzeit…“ Aha. Na da muss man erst mal drauf kommen.





Das Konzert startet via Intro; die Bässe darinnen kollidieren mit den Ausgangsboxen der Konservenmusik. Die PA dagegen ist eine Wucht, klingt auch so, und fanatisch peitschen sich beide Doktoren durchs erste Set bis in die Pause hinein. Doktor Pichelstein scheint vom Sieg der Dortmunder gegen Bayern München auf Red Bull zu sein, doch so was trinkt der ganz gewiss nicht. Boris Brutalowitsch sorgt für gerechten Nachschub, ein Guinness, ein ganz leckeres, ein kaltes fließt in den ausgemergelten Gitarrenweltmeister hinein. Und nach der Pause geht’s genau so weiter, fallen Zugaben auf die Bühne. „Gefesselt“. Natürlich, das Lied der Wittenbergerinnen, darf nie und nimmer fehlen. Aktiver Fetisch muss sein, schließlich befinden wir uns außerhalb der Fastenzeit.

 


Viel später beschleicht die Nacht ein Müdgefühl, längst sind Gitarren, Koffer und Kabel verstaut. In die Bierstuben geht’s. Nicht um dort zu trinken, wie vermutet werden dürfte, nein, dort wird geruht und gehofft, dass der nächste Mittag ein Erbarmen hat.


Es sei am Schluss dann noch erwähnt: Die Heimreise klappte ohne Unterlass, wenn auch mit freudiger Verwunderung vorbei an einer Senioren-Pension namens „Zum Biber“. Über Frostschäden, weniger über Belag, ging es unbeschadet heimwärts. Sonntag, du Wohl der Woche. Auf zum Eishockey, bzw. zum Mexikaner.

Als das Publikum die Doctors mal nicht nur mit Schnaps rettete,

hinterher aber doch alle betrunken waren (223)


Wo liegt Velten? Ganz einfach. Richtung Berlin fahren, dann brandenburgisch abbiegen und schon herzt sich die ehedem berühmte Ofenkeramikstadt ins ausflugshungrige Navigationssystem gen Tonstraße, nebst passender Museumslandschaft, ein. Zwanzig Tage vor den Russian Doctors fand das letzte Konzert in Velten statt; die unverwüstlichen Puhdys gastierten „Am Katersteig“. Nicht „Am Katzensteig“ wohlgemerkt. „Wer die Puhdys-Konzerte kennt, weiß um ihre Gewaltigkeit – hier gibt es immer Rock ungeschminkt“, verrät dann auch ein kleiner Flyer oder Freier. Jedenfalls von irgendwo her scheint diese Information zu kommen. Ist ja auch nicht so wichtig, der Bundeskanzlerin schon lange nicht. Und so regiert die „Diktatur der Deppen“, wie die Financial Times neuerlich treffend titelt, puppenlustig ohne Doktortitel weiter. Pratajevs Erben ficht das nicht an; denn echte Doktoren, echte Veterinäre stammen meistens aus Murmansk und dort erwirbt man seinen Titel erst nach der 314. Kuhgeburt in Steißlage.

 

 

Mic’s Pizza, Mic’s Bar, das Veltener Gasthaus leuchten hell in den bitterkalten Abend hinein, als das Tourauto sein Ziel erreicht. In der Bar soll gespielt werden, Doktoren-Freund Steffen grüßt mit dem Freitagspils in der Hand, lange nicht gesehen, seit August letzten Jahres nicht, beim legendären Biker-Konzert in Oranienburg. Seinerzeit ebenfalls anwesend: Eine Anlage zur Beschallung des Publikums, denn die scheint im vorbereitenden Informationsfluss irgendwie untergegangen zu sein. Doch Velten wäre nicht Velten und Steffen wäre nicht Steffen, diesen Sender-Empfänger-Defekt alsbald reparieren zu wollen. Handys glühen, ratlose Zigaretten folgen frohgemuten, erst mal ein Stehaufbier, dann eine Sitzpizza, rüber in den Gasthauskeller. Aber nichts passt zunächst zusammen. Dann geht der Samariter Nummer 1 ans Telefon, ein DJ an seinem freien Abend. Doktor Makarios verhandelt den Anlagenpreis, DJ fährt vor. Und nochmal weg, mehr Equipment braucht die Not, denn selten werden akustische Gitarren in Kopfhörereingänge gehörig eingestöpselt. Der Preis steigt, der erste Becherovka schmeckt wohlverdient. Der verehrte Baumfreund Ekmel spendet eine Flaschenpost Holunderschnaps in Memoriam Bergsdorf 2010. Herrlichen Dank dafür! Vater Baumfreund wird freudig begrüßt, auch Bermasik Junior, Holzlöffelschnitzer der Pratajev-Gesellschaft, ist mit dabei. Ach und wer noch alles! Selbst Achselshirt-Fetischisten sind darunter. Sehenden Auges verbessert sich die spätere Livesituation der Doctors. DJ und Doktor Pichelstein schrauben, verklinken was das Zeug hält. Letztlich strömt der Gitarrensound aus einer Monitorbox, die mit passender Übertragungswelle ans Pult gekoppelt wird. Kurzer Soundcheck, Sennheiser-Mikros toppen die mitgebrachten SM 58er. Egal warum auch was geschieht: es klappt und mit welch großer Erleichterung die nächsten Kaltgetränke geschüttet werden, vermag sich jeder vorstellen. Und mit fast ebenbürtiger Erleichterung sammelt tatsächlich das Publikum (verneig, verneig) den Aufpreis für den Anlagenbau zusammen. Weihnachten fällt heute auf Ostern in Velten und alle haben jahrelange frei. Wenn nur nicht der Merchstand ein weiteres Mal umziehen müsste, doch selbst das koffert sich lächelnd wie von selbst.

 

 

Im Raucherzimmer von Mic’s Bar wird Geburtstag gefeiert. Ein Kontrastprogramm zum mittlerweile aufbrandenden Doctors-Konzert. Die juvenilen Damen tragen Hackschuhe und entsprechen – nicht nur in Mimik und Gestik - dem landläufigen Sprachgebrauch so genannter „Ischen“. Die Peergroup der Männer könnte einem aufklärerischen Werbespot der Gorch Fock entsprungen sein. „Wehe dem, der meine Ische anguckt“, steht es ihnen in den Gesichtern geschrieben. Doch wir wollen das alles gar nicht ab- oder bewerten, sondern lieber auf Pratajevs Gedichte „Junge Burschen tanzen“ und natürlich „Der Raucher von Bolwerkow“ verweisen.

 

Das Verhältnis Lied zu Schnaps dürfte mittlerweile bei 2 zu 1 stehen. Mitte des ersten Sets fordert Doktor Makarios vom Gitarrendoktor eine entsprechende Dopingprobe ein. „Mein Doktor, die Gitarre geht mit mir durch“, ruft Pichelstein flehentlich und bekommt Pfefferminzleckerli eingeflößt. Das Publikum geriert sich textsicher, auch hier fließen die Pinnchen, auch hier steigt der Geist Pratajevs aus allen verfügbaren Flaschen bis zum Pausentee. Doch selbst der ist ein Metaxa. Um nicht zu sterben, wie einst in Chemnitz oder nach dem 200. Konzert im Leipziger Flowerpower, wird Pichelstein nach der Pause auf Schnapsdiät gesetzt. Doch die Endorphine haben längst alle Überhand gewonnen, drum Prost und Danke und alle lieben Grüßen dieser Welt. Auch dem „Beim Bücken von hinten Zuseher“, Pratajev-Neumitglied Nummer 53 in seiner Funktion als „Kuhflüsterer“.

 

Sehr spät lassen sich die Holztreppen im Veltener Gasthaus auf der anderen Seite des Kreisverkehres erklimmen. Sehr erschöpft sitzt man da und grinst.

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