Im Schnitzelparadies (235)

Stefanie Hertel und der golden gelockte Trompeter Stefan Mross sind kein Paar mehr. Eine Meldung wie ein Schlag ins Gesicht der Dirndl-Mischpoke. Wenn jetzt obendrauf ein berühmter Jodelvater seinem süßen Töchterchen im gewohnten Vollplayback flüstert: „Du, ich hab eine andere, doch mit dir war es auch schön“, kann Volksmusik nicht weit sein, dann ist sie mitten unter uns. Heile Welten darf man nicht besudeln und Gartenstühle im Stadl sind zum Sitzen und Beklatschen da. Bis das Herzilein ein Nickerchen nimmt, dann kommt der Engel und der Engel ist menschlich. Antenne-Sänger Peter Sebastian kann ein Lied davon singen.

 

Übertroffen wird die dramatisch anmutende Gemengelage nur noch durch eine Landtagswahl in Berlin, bei der es darum geht, möglichst hinzugehen. Denn der Urberliner an sich ist von Natur aus träge wie ein Zooeisbär; da die Hauptstadt aber momentan von zugezogenen Biedermeiern und Bionadetrinkern dominiert wird, geben sich die Parteien mehr oder minder große Mühe, zumindest Teile einiger Bevölkerungsschichten an die Urnen zu locken. Der Rechtsausleger NPD titelt dafür „Gas geben“, was, geschichtlich betrachtet, recht bedenklich abzulesen ist. Man braucht dafür volle Sehkraft voraus; die Holzbrettplakate sind derart laternenhoch angebracht, als ob es darum ginge, Krähen das Landen vermaledeien zu wollen. „Piraten“ und vor allem „Die Partei“ plakatierten fröhlich dagegen. Wählengehen soll Spaß machen; fröhlich angekreuzt gelingt der Tag. Ob die Tierschutzpartei hingegen beim Abhören von Pratajevs Katzen- und Hundeliedern Spaß verstünde, wollen wir mal besser nicht weiter ausführen und so geraten The Russian Doctors erst einmal in den immer gleichen Berliner Rausfahrstau. Im Fahrplan steht heute Schwerin rot gemarkert. Es geht ins Schitzelparadies, in den Zeppelin-Club, und das nicht zum ersten Mal. Open Air allerdings ist neu. Aber die Sonne meint es sehr gut mit Pratajevs Erben; das unterwegs stets sehr wichtige Tankstellenkaffeecola- und Bockwursthochgefühl steigert sich mit der Option auf schöne, leckere Stunden im Nordosten zum Diskant.

 

Pause im Pilzwald; Doktor Makarios trägt ein Körbchen durchs Grün, Doktor Pichelstein dämmert zur Bundesligakonferenz am Wegesrand dahin. Hamburg wird verlieren, Nürnberg immerhin den Ausgleich schießen. Und, um es vorweg zu nehmen, die FDP bei 1,8 Prozentpunkten in Berlin landen. Aber erst morgen, am Sonntag. Heute heißt es: Auto parken, den Langen am Mischpult freudig begrüßen, die geballte Kompetenz des Zeppelin genießen, auch wenn Chef Tommi gerade im verdienten Urlaub weilt, Schnitzelteller bestellen.

 

Foto: H. Schoknecht

 

Warum spielt man heute draußen? Nun, der Laden brummt und die XXL-Leckerchen werden drinnen mittlerweile bis Mitternacht ans hungrige Schwerin plus Umland gebracht. So soll’s sein. Klar, Küste, immer nur Wasser, ganz viele Fische auf dem Teller. Abwechslung schadet nicht und ist zudem extrem lecker. Ein Christopher hinterließ etwa am 25. Juli 2011 um genau 17:21 Uhr im Gästebuch der Zeppelin-Homepage folgende Lobesworte: „Bei euch ist es einfach nur TOP... die Schnitzel sind megaköstlich und die Burger sind ein Traum... Als nächstes teste ich mal die 1m Spare Ribs“. Let‘s Pitcher trinken und Schnitzels essen in the Biergarten. Wohl dann! Zudem gibt es in Gesamtdeutschland nur sehr wenige Orte, an denen das berühmte Zeppelinbier, eine extrem leckere, naturtrübe, ungefilterte Hopfenspezialität aus der Brauerei Leibinger (natürlich aus, genau: Ravensburg) flaschenweise verteilt wird. Ein sogenanntes „Kellerbier“, was sich (gut gekühlt) u.a. dadurch auszeichnet, dass es so manchen Bei-Schnapsverzehr erlösend ad absurdum führt. Denn zum Bierchen werden Kümmerlinge gereicht. Aus einer ganzen, vollen Flasche – dem Tourgeschenkevorrat entnommen. Wie gut, dass Doktor Pichelstein gleich mehrere Zeppeline beim Abspielen des Intros in Reichweite weiß, denn an zur Bühne wandernden Schnapsbars wird in den folgenden knapp zwei Stunden kein Mangel sein.

 

Das Pratajev-Set schwillt an und mit ihm folgt’s Publikum gen Mikrofonie; es wird ein feines Konzert mit allerlei Zugaben, wobei sich der Lieblingssong Schwerins nicht klar zu erkennen gibt. Manche Stadt oder Gegend auf der Tourlandkarte der Doctors hat ihn sich bereits unter den Nagel gerissen. „Gefesselt“ geht klar nach Wittenberg, „Beim Bücken“ nach ganz Brandenburg oder „Als das Eis kam (so plötzlich)“ nach Dresden. „Der Satte“ wäre eine Idee fürs Schweriner Zeppelin. Oder „Der Hungrige“. Hat Pratajev derlei Texte geschrieben? Wir werden es herausbekommen.

 

 

Mitunter sammelt sich ordentlich was für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje zusammen; ein Dank dafür, stellvertretend von Doktor Makarios und Doktor Pichelstein, an zwei sehr junge Damen aus der ersten Reihe. Aus dem Kino um die Ecke stromern gut situierte Besucher eines reisenden Kabarettisten an die frische Luft und trauen ihren bravklatschwunden Ohren nicht. Mütter wollen hören, was da über tote Katzen und bebende Bürste gesungen wird; verzweifelte Männer reißen sie weg, denn die Parkzeit im Haus dafür möchte nicht zu teuer werden. Was man im Leben nicht alles verpasst! Aber nun, Schluss für heute, raus an die Schnapsbar und im kleinen Kreis wird bis zum letzten Tropfen noch ein bisschen Pratajev gesungen und auch gespielt. „Wir machen ne Band auf“, ruft eine der jungen Damen. Doch dazu ist es dann nicht mehr gekommen.

 

Die unweite Pension, mit himmlisch weichen Doktorenbetten drin, war einfach zu verlockend. Beine hoch, Augen zu und bloß das Frühstück um 10 Uhr, in aller Herrgottsfrühe, nicht verpassen. Aussichtslos, in Anbetracht der Zustände. Doch eine gnädige Wirtin, das muss abschließend erwähnt werden, hatte ein gerechtes Einsehen.

 

 

http://www.zeppelinclub.de

Das schwarze Loch (234)

Erstaunlich, Doktor Makarios scheint die Strapazen der letzten Wochentage recht kühn weggesteckt zu haben. Als da waren diverse ART-Konzerte, zwischendrin ein Goldeck-Master-Mix, die Aufnahmen zur neuen ART-Platte und natürlich eine - den bisherigen Schilderungen zur Folge - außergewöhnliche Filmdrehung zu Bad Doberan. Konfrontiert man diese Stadt am Meer übrigens mit dem automatischen Word-Rechtschreibeprogramm, wird, das sei am Rande erwähnt, u.a. ein Vorschlag namens „Dobermann“ geliefert. Nun, über all dies soll Doktor Makarios berichten. Heute ist Wrap. So nennt sich ein Abdrehausklang feat. Party und die findet praktischerweise, mitunter sehr prominent besetzt, im Schokoladen-Mitte statt. Die Crew nebst Band Die Art ist früh zugegen und mittenmang stehen furchtlose Pratajev-Forscher allerbeste Güte. Heißt: Voll ist’s im Laden, dem wir hiermit alle Daumen der russischen Seelenwelt drücken. Möge er lang noch leben und allen BRD-Kiez-Spekulatiussen kraftvoll die rio-reisersche-punkrockende, nassforsche Stirn bieten.


Doktor Pichelstein samt Navigator in schick reisten aus Leipzig an, froh darüber dem Stauticker einigermaßen glimpflich entkommen zu sein. Es drücken sich Doktoren ob des Wiedersehens und ja, was ist das? Gurt Kaktus steht im Soundcheck vorn, bewaffnet mit frisch geernteten Runkelrüben, einem Sack Kartoffeln und vielerlei Trinkflaschen. Herrlich. Rasch wird die Bühne zum Leuchtfeuer-Feldrand, an dem die jungen Burschen später tanzen; eine Dame im Arm, so muss es sein, und wird es glatt werden. Swingend, singend, feiernd - die Arbeit ist für heute getan. Allerorten verfolgt vom Odeur bulgarischer Brennereikunst trinkt sich der Abend ins Konzert hinein. Eademakow und Winogradow haben darüber spirituelles vor. „Pratajev war Teilzeit-Homosexueller“, sprechen sich Rätsel frei. Da wollen wir mal sehen, wohin solcherlei abstruse Theorien führen. Und ob nicht Pratajev im Jenseits der Gruftrufe etwas dagegen haben könnte.



Nach acht geht’s los; Doktor Pichelstein, vorher flattrig bis fettnapfig in Aussage und Wirkung, Beispiel: Dialog mit einer ersten Maskenbildnerin: „Ich bin die (Frau nennt Namen)“ - Pichelstein spricht: „Maskenbildnerin klingt aber schöner“ - und kurzsichtig wie er eben ist, kaum die Gegend einordnend, mehr noch überrascht vom vielgesichtigen Rummel an der Schnapsbar, legt an und Feuer frei heißt‘s fürs komplette Pratajev-Set. Pausen fallen Straßennachbarn zum Opfer, denn im Schokoladen muss früher als sonst Schluss sein mit lauterer Kultur. So ist das heutzutage, wenn in Gegenden wie Mitte plötzlich der Biobauer seine Ernte an die grüne Mittelschicht bringt. Und dann wird sie verlost, die Gurt-Kaktus-Schnapsflasche im bühnesken Feldrandgebiet.


Wir befinden uns mittlerweile im Fetisch-Block; die Ankündigung, dass jener oder jene, welcher/welche ein Lied der Doctors auswendig vortragen kann, den Kaktus-Schnaps gewinnt, trägt schwankende Früchte. Eademakow traut sich „Beim Bücken“ zu und es wird großen Applaus geben. Eben noch eine Kamera in Händen, schon ist’s die Schnapsflasche und (wir wollen es vorweg nehmen): ein Tausch, der gar mit dem Komplettverlust der Technik im weiteren Verlauf des Abends einhergehen wird. Sollte also jemand besagten Apparatschik gefunden haben, möge er ihn doch bitte dem Postfach der Pratajev-Gesellschaft unter dem Vermerk: „Schwarzes Loch“ zukommen lassen. Denn an solch schadhaften Stellen wird es weiterhin nicht mangeln.



Kleiner Exkurs, wer oder was alles außerdem spurlos verschwand: Eine Flasche Schnaps (im euphorischen Orkus des Eademakow), Frau des Whiskeymannes aus Potsdam (weg war sie kurz nach dem dritten Zugabeblock), Gurt Kaktus (schrieb am Folgetag: Ich musste den Zug noch erwischen – das las sich beruhigend, kein weiteres Schnapsopfer), Winogradows Auto- und Wohnungsschlüssel (was dazu führte, dass eine gewiss längst schlafende Gattin 45 Minuten Nachtwegstrecke bevorstanden, was weiterhin zur Frage führte: Wo ist Eademakow?) und ja, Eademakow selbst (samt Rucksack, in dem sich zum Beispiel hinterlegte Schlüssel befanden). Jemanden vergessen? Schaut doch bitte mal im WG-Zimmer Eures Nachbarn nach dem Rechten. Ja und zu guter Letzt verschwanden auch die Doktoren, glücklich und trunken.


Der Abend ist wahrlich nicht nur gelungen, nein nein, derart unvergesslich wird er bleiben, dass einem nunmehr die Worte fehlen.


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