tour_tagebuch
Winterspeck an der Schnapsbar (312)
Ach, die Weisheiten, all die ungeschriebenen Gesetze, wie diese hier: Musiker haben immer Nachtschicht und Gitarristen sind Akkord-Arbeiter. Auch im frischen Jahr 2015. So reisen die Doctoren zur ersten Sause im jungen Jahr nach Leipzig-Lindenau. Über diese Gegend wurde schon kräftig volksgesungen: „Kommt mit nach Lindenau, da ist der Himmel blau. Da springt der Ziegenbock auf grüner Au, dort brüllt der lieben Kuh der Ochse freundlich zu“. Ergreifend! Natürlich hat das Liedchen schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Heute müsste man allerdings, um die Authentizität der Szene in die Neuzeit zu versetzen, den Ziegenbock durch einen introvertierten Studenten aus vielleicht Stuttgart, Kuh und Ochse durch ein älteres Ehepaar am Spätverkauf ersetzen. Natürlich bekleidet mit jenen Hosen, denen Karl Lagerfeld einst nachsagte: „Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“.
Das schönste Fleckchen Lindenaus ist eindeutig, vor allem nach dem tragischen Ende des Schlupflochs „Blaue Perle“ und der Schließung des Restaurants „Portugal“ (da kommen einem immer noch die Tränen), das Café Westen. Nicht nur, dass Doctor Pichelstein in seiner Funktion als moderner Doctor, neulich darüber ein Lied schrieb, in dem es im Refrain heißt: „Bis unheimlich bald / bis der Kopf / auf den Tresen knallt“. Nein! Das Café Westen ist Kult. Und wo spielen die Doctors am liebsten? Na klar (bitte nicht angelsächsisch aussprechen): Dort, wo’s Kult ist. Nichts wie hin, Bühne aufgebaut, Schnaps ins Glas getan, böhmisches Bier dazu und los kann er gehen, der Abend, denn Miss Katja, Leipzigs eleganteste Networkerin mit dem härtesten Volleyballpunch lädt zum „Feuer in der Samstagnacht“. Motto: „We can be heroes just for one day“. Und noch ehe den Doctors besagtes Motto bewusst ist, stolzieren Bowie’s weibliche Doubles durchs Interieur und geizen keineswegs mit Reizen.

Der Schankraum füllt sich, alle Tische sind okkupiert, die Herren und Damen an der Bar verrichten Schwerstarbeit. Der Tross der Doctors arbeitet emsig an der Vergabe von Kampfnamen, wie man sie auch im Eishockey kennt. Den näheren Bekannten dürfte Frank „The Tank“ Förster aka Fürst „The Tank“ Fedja bereits ein Nomen est Omen sein. Makarios‘ Vorschlag in Richtung Pichelstein lautet: „The Rocket“. Woraus im Fluss der nächsten Minuten ein erstaunliches „The Pocket-Rocket“ wird. Makarios selbst geht (noch) leer aus. Wir bitten diesbezüglich um erstgemeinte Vorschläge… Unterdessen kündigt Miss Katja den Abend der Superlative an. Geschichte wird geschrieben, erzählt und schließlich das Buffet eröffnet. Die Frage: Welcher Wein passt zum Schwein?, sie ist überflüssig. Lecker tafelt es sich an allen Ecken. Ihr Köche des „Westens“, das habt ihr fein gemacht, und nach weiteren Getränkebatterien treten die Doctors ihren Dienste Im Geiste Pratajevs an.

Es läuft das Intro, dann geht’s über die Feldmänner ins Gebüsch hinein, werden die Miloproschenskojer Weisen in den Raum geschmettert. Es tanzt die Ameise, steppen Wanderer und WG-Bewohner. Rümpfe wiegen sich an der Schnapsbar und trainieren den Winterspeck weg. In Sachen Fetisch siegt heute eindeutig die AKTIVE Fraktion. Schweiß strömt den Docs in die Augen, rinnt vom Gesicht gen knapp werdender Textilien am Leibe. Blut fließt nicht, das ist gut, denn es dauerte schon lange, bis Doctor Pichelstein im alten Jahr die schwarze Gruft-Gitarre aus Erle wieder blank gewienert hatte.
Dann erreicht das Konzert seinen Siedepunkt. Es wird mitgesungen, was die Stimmbänder hergeben, mitgetrunken, was sich in großen und kleinen Gläsern befindet. So und nicht anders soll es sein. Genau deshalb sind die Doctors der Wirte liebste Kinder und nach der letzten Zugabe liegen sie sich in den Armen, verschnaufen unendlich glücklich. Tja, wenn das Jahr so fein losgeht, dann wird’s ein gutes.

The other side of Erzgebirge (311)
Bevor über diesen Abend, privat ausgerichtet vom großen Holzfeiermeister Ernst Eiswürfel, berichtet wird, muss konsterniert werden: Frankenberg, in der Nähe der sächsischen Industriestadt Chemnitz verortet, gehört nicht und niemals zum Erzgebirge. Ein Satz, den die Doctoren immer dann hören, wenn es Richtung Mittelsachen geht. Ein Satz, den die Doctoren bereits hörten, als das Erzgebirge mit riesigen Räuchermännchen an den Wegen nicht mehr zu verleugnen war. Doch seinerzeit befand man sich eben in der Gegend des Erzgebirgsbeckens. Und natürlich niemals nicht im Gebirge. Gleich nach dem Eintreffen der Doctoren in der ehemaligen Garnisions- wie Divisionstadt wird darüber munter diskutiert. Man einigt sich schließlich auf die Präambel „Vorland“. Und so wird eben im Erzgebirgsvorland gespielt. Doctor Pichelstein kennt derlei aus Norddeutschland nur zu gut. Niemand möchte freiwillig „bei den Ostfriesen“ wohnen, weshalb große Teile dieses Landstriches unweit der holländischen Grenze vor langer Zeit bereits in „Emsland“ umgedeutet wurden. Obwohl es hüben wie drüben genauso aussieht. Wie, das sei dem Flachlandbetrachter überlassen. Landstiche zu dissen gehört sich nicht.
Dank DJ Thomas ist die Bühne bereits gerichtet. Der Blutgitarre des gestrigen Krause-Abends fällt Bewunderung anheim. Ständig muss Pichelstein die Finger vorzeigen, besorgt wird gefragt: „Kann man damit spielen?“ Und ob man kann, schließlich besteht der halbe Medizinschrank der tourenden Erben Pratajevs aus einer Ansammlung diverser Pflaster- wie Fixomulldreingaben. Woraus der andere Teil besteht, wird indes nicht verraten. Verraten wird nur, dass großes Geschick dazugehört, derart bepflastert zu Werke gehen zu können. Wo doch DAS Gitarren-Plektrum ständig an einer Unebenheit zwischen den Fingern hängen bleiben möchte. Die Kunst besteht einfach darin, während des Schnellspielens mit drei bis vier leicht dehnbaren Ellipsen in Händen loszulegen. Am Ende vom Lied hält man vielleicht nur noch ein einziges Plek zwischen den Fingern. Die verlustig geflogenen werden aufgesammelt und weiter geht’s.

Die ersten Gäste treffen ein. Herr B. aus C. schwört sogleich, heute Nacht nicht wieder zu Fuß von Frankenberg ins doch recht entfernte Chemnitz laufen zu wollen. Das Buffet eröffnet sich von selbst. Gepriesen seien Fettbemmen und gehaltvolle Salate. Pichelstein versucht sich am ersten endemischen Bier, Makarios bleibt zunächst bei dunklem Brausewasser, Fürst Fedjas Mineralien-Nachdurst ist groß. Aus den Musikboxen erklingen die Hits der 90er. Einzig Van Halens „Jump“ ging in der Auswahl verloren. Als DJ Thomas zurück vom Weihnachtsmarkt auftaucht, naht Rettung. Es wird Jazz-Rock geboten. Jazz-Rock der gefühlt 70er/80er Jahre mit poetischen DDR-Texten, abgespeichert im Laptop-Ordner „The other side of Schlager“. Doch genauso wie niemand Landstiche dissen sollte…. Jedenfalls hat der Grillmeister seinen Dienst aufgenommen, die Festspiele zu Frankenberg können nach leckeren Würsten beginnen.

Doch nein, noch nicht. Ein Hello-Kitty-Schnaps muss getrunken werden. Und noch einer. Dann stehen die Feldmänner am Rand. Alles, was dort noch gesichtet wird und ein „Der“ im Liednamen trägt, wird dargeboten. In leichter Wildheit freut sich’s verehrte Publikum. Der Applaus brandet wie die Nordsee bei Flut. Und dann kommen sie, die kleinen, gemeinen, erstaunlicherweise schon wieder richtig gut schmeckenden Schnapsbecher. Pichelstein wird der Mund damit gefüllt, Makarios nippt zunächst. Doch man kann nicht aus seiner Haut. Außerdem: Was würde denn das Feiervolk denken? Im Eishockey heißt es schließlich auch in Überzahl vorm gegnerischen Tor „Hinein, hinein“. Umso besser, dass bald Pause ist. Es folgt der Geschenkblock und Meister Ernst Eiswürfel macht reichlich Gebrauch davon. Als imposanteste Erscheinung wird eine Polyester-Lady im verführerischen Outfit gereicht. Nun, getreu dem eben gehörten „Gefesselt“ der Russian Doctors muss Hand dran gelegt werden. Mit „Beim Bücken“ ist hier kein Staat zu machen, denn die Lady ist ja aus Plastik. Die Doctors hingegen nicht und so jagt Konzertrunde zwei durch die Tischlerei. Tierlieder, Menschenlieder, Russenlieder. Makarios und Pichelstein geben alles. Es fliegen die Pleks, zischen die Biere, heute lässt es sich gut leben. Und als der letzte Ton verklungen ist, weiß jeder im Rund: Der Abend, die Nacht geht noch weiter. Und das ist, wie Pratajev es fürwahr ausdrücken würde: gut so, gut so, gut so, gut so.
