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tour_tagebuch

27. Februar 2015, Leipzig/Café Westen

Naturtondoctors (314)


Der offizielle Start ins Tourjahr 2015 geht im Café Westen über die Bühne. Aufgeregt ist man darüber bereits am frühen Mittag und so wird noch rasch in alle Richtungen konferiert. Soll ja schließlich alles klappen. Großes haben die Doctors vor; nachdem in den letzten Jahren vornehmlich die Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft in den Genuss ausgewählter Livedarbietungen kamen – allerdings mit einer Tonqualität versehen, die eher ins Russische spielte – wird nun größer gedacht. Engagiert für die technische Konservierung dieses Abends im früh eingemeindeten Leipziger Stadtteil Lindenau wurde Doctor Naturton Adrian. Und während Doctor Pichelstein noch das Auto entlädt, Fürst Fedja mit Wirt Carsten kulinarisches bespricht, werkelt der Naturtonmann bereits emsig an der Fernsteuerung des Mischpults. Als der von einer Flachetappe einfliegende Stehrenner Doctor Makarios das Rund betritt, geht es nur noch darum, Stimmen- wie Gitarrenklänge optimal zu gewichten und ein wenig buntes Licht herbeizuzaubern.

 

 

Und so brechen sie an, die Stunden, Minuten der Ruhe vor dem Sturm. Da die Doctoren ungern Lebenszeit in separierten Backstage-Räumen verbringen, lieber dort sind, wo es lustig, frivol und laut zugeht, sind sie stets am Puls der Zeit mit Blick zur Schnapsbar und bekommen alles mit. Eine Kleinbusladung Norddeutscher aus Oldenburg strebt herbei und verkündet, man habe eben auf Youtube die Russian Doctors kennen und lieben gelernt. Flugs geht es zu wie einst in Pratajevs Busschaffner-Anekdote: „Unterschreiben!“ Zettel werden gereicht, Bierdeckel. Leidgeprüft fallen die vollen Teller mit den Burgern drauf kurzerhand der Vernachlässigungsschleife anheim, dann läuft die Sauce wieder voll ins polierte Rasiererland.

 

Die Feierlichkeiten des Tages veranlassten bei allen Beteiligten nämlich eine sogenannte „Entrumänisierung“. Ein wikipediafreier Terminus, der nicht weiter erklärt wird. Fragen Sie die Doctors beim nächsten Konzert, was damit gemeint ist. Wo es doch auch eine Entromantisierung gibt, warum nicht die Entrumänisierung ins weite Feld der Neologismen werfen?

 

Das Wirte-Personal muss eine Schippe drauflegen, mehr und mehr hungrige, durstige Menschen strömen hinein. Wer einen Sitzplatz ergattern konnte, hält eisern daran fest. Wer steht, passt besser auf, dass ihn kein Rempler um die Befüllung seines Schnapsglases bringt. Tja und dann ist es auf einmal so voll, dass kaum einer mehr reinpasst ins Café Westen. Der Naturtonmann hebt den Daumen, das Mischpult wird bei einem gemütlichen Kaltgetränk bequem von der Schnapsbar aus aktiviert. Wunder der Technik, alles funktioniert. Das Intro läuft, die letzte Zigarette bis zur ersten Pause ist Geschichte und los geht’s.

 

 

Wenn man in wichtigen Momenten daran denkt, ups, da könnte ja jetzt was schief gehen, sollten wichtige Momente gar nicht in diesen Stand erhoben werden. Dagegen sind Kräuter gewachsen und wir reden hier weder von Hanfblättern noch von Baldrianextrakten. Fürst Fedjas erster zur Bühne gereichter Gelbschnaps wird, so viel Lösung muss sein, deshalb gerne genommen. Auch der nächste und der übernächste und schon versagt der Abakus, fliegen die Doctors wie Posterboys auf einem Elfentrip durch den Abend und vergessen rasch die Live-Mikros. Pratajevs Weisen treiben bis in den hintersten Winkel hinein. Gute Vorbereitung ist alles. Wie im Eishockey, wo jeder Spieler auf ganz spezielle Pre-Game-Rituale schwört, so gibt es die natürlich auch in Doctors-Landen. Wir wollen an dieser Stelle allerdings nichts über derlei Sujets preisgeben, denn das bringt bloß Unglück. Die bereits erwähnte Entrumänisierung spielt, nur so am Rande, übrigens nicht in dieser Liga.

 

Berichten wir in diesem Tourtagebuch ausnahmsweise mal nicht über die Reihenfolge der dargebotenen Lieder. Sofern es denn tatsächlich für eine Doppel-Live-CD reicht, sei nur so viel verraten: Die Zustimmung, der Applaus, die Präsentation einer Blinklichtratte mit Herz sind ganz großes Kino. Doctor Pichelsteins Fado-Schnapsbar-Version hätte nicht nur die deutsche Vorauswahl zum Europäischen Songcontest gewonnen, nein, wenn Portugal davon erfährt, dürften ihm dafür beim nächsten Urlaub leckere Würzfische auf den Grill gelegt werden. Das Gitarrenerlenholz mutiert zwischenzeitlich zum Formel-1-Wagen, „Harte Wirtin“ und „Biber“ erreichen Überschallgeschwindigkeiten. Der zweitweiteste Anreiseschnaps geht an die Sektion Wismar, Oldenburg gewinnt und Herr B. aus C. hätte gerne noch tiefer ins Glas geschaut. Die Rückfahrpflicht gen KMS verhindert Ausuferung und so begeistert sich der Abend bis über die reichlichen Zugaben hinaus ungehemmt dahin. Triumph! Café Westen! Leipzig-Lindenau! Naturtonmann! Euphemismen braucht es dafür nicht. Ein wunderlicher Tag endet in völliger Zufriedenheit. Im Reinen mit der Welt fallen Doctor Pichelstein viel später im Taxi glatt die Augen zu.

 

21. Februar 2015, Leipzig/Privat im Bandhaus

Gefangen im Backstage (313)


Leipziger Konzertabende beginnen grundsätzlich damit, dass irgendetwas Wichtiges zuhause, im Proberaum oder im Labelbüro vergessen wurde. Doch da die Heimat nicht einmal nah ist, sondern Teil des heutigen Vergnügens, macht das nichts und „The Tank“ wäre nicht Fürst Fedja, wenn sich die Sache nicht rasch korrigieren ließe. Und während zwei Nachdrucke des großen Pratajev-Malwerkes „Die Trinkerin“, die dazugehörigen Fläschchen Milzbrand nebst des obligatorischen Fotoapparates herbeigeschafft werden, wird Doctor Pichelstein Zeuge kleinerer Verzweiflungen am Ort des heutigen Geschehens, dem Plagwitzer Bandhaus.

 

Ein Lichtmischpult, modern und ausgefuchst, versehen mit mondäner Spracherkennung, bietet für die Bediener Anlass genug, um in den nächsten Mixer springen zu wollen. Müsste man den tonalen Lauten des asiatischen Herstellungslandes mächtig sein, um übers Reset-Los ans Ziel gelangen zu können? Ein Mischpult-Flüsterer fehlt. Es wird gerufen, geschraubt, gedreht bis sich schließlich doch der Saal in ein Meer aus Farben verwandeln darf.

 

Pichelstein ist darunter längst mit dem Bühnenaufbau fertig geworden. Der Soundcheck folgt, dann ist es so weit. Die Doctoren werden gefangen genommen und ins Backstage verbracht. Tür zu, denn Andreas, das unwesentlich ältere der beiden Geburtstagskinder, soll übers Livegeschenk noch im Trüben gelassen werden. Vielleicht spielen die Doctoren mal bei einem Braut-Junggesellenabschied auf - man könnte sich bei so einem Event vorstellen, in eine Pappmaché-Torte verpackt zu werden. Was wäre das Gekreische groß. Ein blitzendes Feuerwerk scheppert und statt nackter, maskuliner Pumpmasse (wie erwartet) springen zwei dezent gekleidete Doctoren ins Feld und singen: „Frauen die wie Katzen kreischen“.

 

 

Im Backstage gilt es erst einmal versorgt zu werden. Die Connewitzer Holzlöfflerfamilie um Genosse Silvio schafft heimlich Steaks vom Grill heran, reicht Salate, Biere und grünen Mundwasserschnaps in Hülle und auch Fülle. Es mundet sehr und mit ebenso vollem Mund lassen sich prima kryptische Botschaften der an diesem sofalastigen Ort bereits abgestiegenen Bands nachlesen. Die Wände sind voll davon. Ein ungeschriebenes Jungs-Musiker-Gesetz lautet allenthalben: Spuren hinterlassen verschafft Ruhm und Ehre. Egal wie. Der Edding-Stift als ausführendes Organ ist dabei genauso beliebt wie der provokante Aufkleber mit möglichst schockierender Bebilderung. Bevor das erste Küchen-Demo eingespielt wurde, verfügte jede juvenile Kellerband über mindestens fünf verschiedene Aufklebervariablen und hat genauso viel Geld in Gitarrensaiten gesteckt, wie in den Erwerb von nicht abwaschbaren Filzstiften.

 

Die getaggten Wandbotschaften haben zunächst einmal schlüpfrigen Charakter. Dicke, haarige Ovale an nicht unbedingt großen, dafür aber plumpen Stumpen, die etwas tintenartiges versprühen. Direkt daneben kleben, wer hätte es gedacht, Aufkleber. Eine bereits skelettierte Dame mit großen Brüsten stand Motivmodell. Der darüber platzierte Bandname ist leider nicht merkfähig. Die Namen anderer Bands in Reichweite sind nachvollziehbarer und dem metallastigen Musikgenre würdevoll angemessen. Doctor Makarios fragt sich, wie sich die jungen Künstler nach einem „Trade“ wohl unterhalten. Vermutlich so: „Ey, spielst du jetzt Gitarre bei Brennendes Arschhaar?“ – „Nee, du Impfer. Bass, bei Dickdarm“.

 

Ob „Impfer“ das Unwort des Jahres 2015 wird, muss sich noch zeigen. Die Betonung liegt auf: Unwort. Pratajev wäre kein Fürsprecher geworden. Der impfte in den 30er Jahren, in der Praxis Ortopedov, für sein Leben gerne die Schulkinder. Und er tat recht daran. So, liebe Eltern, das musste mal gesagt werden. Doctoren wurden auch geimpft und es hat ihnen nicht geschadet.

 

 

Schnapsgeimpft geht’s auf die Bühne. Das Intro läuft, Spots an. Die Schar der Pilger staunt nicht schlecht. Nach den „Feldmännern“ überreicht Doctor Makarios beiden bass erstaunten Geburtstagskindern je eine „Trinkerin“ nebst hochprozentiger Milzbrand-Gabe. Wohl bekommt’s und im Brausesaus erledigt sich die erste Konzertrunde nach einer Stunde. Zwischendrin streikt das Lichtmischpult. Ausgerechnet im Gitarrenlauf zur „Heilung“, den Doctor Pichelstein dann unter voller Saalbeleuchtung sauber ans tosende, johlende und glückliche Feiervolk bringt. Nichts, wie an die Schnapsbar.

 

Nach der Pause folgt der „Rotarmist“; die Doctor-Spiele erfahren eine würde Fortsetzung. Wild und schamlos sind sie. Es wird gebückt bis sich die Saiten biegen, bis die unvermeidbaren Zugaben branden. Den „Löffel aus Holz“ hat man sich bis hierhin aufgespart, den „Raucher von Bolwerkow“ genauso und natürlich alles, was noch dargeboten wird. Jedes Konzert ist eben ein Unikat. Setlisten benutzen die Erben Pratajevs, getreu ihres großen Meisters, stets nur als Orientierungshilfe. Selbst eine „Weite weite Welt“ darf nicht fehlen. Un-Art-ig wird sie ins Rund geschmettert. Dann reicht’s für heute. Es klebt der Schweiß, frisch ist der Atem vom grünen Mundwasser, welches in loser Reihenfolge auf die Bühne gereicht und dankbar verzehrt wurde. Raus an die Schnapsbar, schon wieder. Mal schauen, was noch so auf dem Grill liegt. Der Abend im Bandhaus ist gelungen. Und wie.

 


  1. 17. Januar 2015, Leipzig/Privat im Café Westen
  2. 06. Dezember 2014, Frankenberg/Tischlerei
  3. 05. Dezember 2014, Leipzig/Frau Krause
  4. 27. September 2014, Zerbst/k6

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