Schöffen auf dem Weg zum Skatgericht (466)

 

Das nennen wir mal eine artistische Sensation. Wer es binnen weniger Wochen schafft, ein wochenendüberspannendes Literaturfestival aus dem Boden zu stampfen, hat jede Hochachtung verdient. Aber so ist das mit den Fördermitteln, sie hängen an kalendarischen Deadlines. Wer darüber hinaus veranstaltet, geht leer aus. Umso dankbarer sind die Doctoren, dass heute „Hinter den Fassaden“ stattfindet, powered by Constance Böhme, David Gray aka Ulf Torreck und M. Kruppe.

 

Manche Tage fühlen sich wie ein kleiner Urlaub an. Heute ist so einer. Ohne vom Liegestuhl zum Pool zu stolpern, unter tröpfelnder Nachmittagsdemse. Der Tourgolf startet; mit Grünauer Tankstellenwürsten unterm Hemd geht’s gen Altenburg. Das Helms Klamm Thüringens, hoch gelegen, steil gebaut, alte Gemäuer, neues Leben.

 

Um nicht erneut dem Club der teuer Erleuchteten anzugehören, befolgt Doc Pichelstein jede Geschwindigkeitsempfehlung - was für Verkehrsteilnehmer mit negativem Intelligenztest allerdings so aussieht, als hätten sich zwei honorige, langsam denkende Schöffen auf dem Weg zum Skatgericht gemacht. Wo doch die Autobahn zugunsten meist staubefreiter Bundesstraßen umfahren wird.

 

 

 

Angekommen im Casino am Roßplan, führt M. Kruppe den Pratajev-Tross ins Innere einer beeindruckenden Fassade. Man spürt subito die Historie dieses ältesten Wirtshauses Altenburgs, Baujahr 1938, in dem sich einst angesehene Bürger mit Schnaps und Torten bewarfen. 2017 dann der Dornröschenschlaf, vier Jahre später nahm sich ein Verein der Lage an; seither gibt’s portionierten Zugang für alle. So ein Glück.

 

Der heutige Arbeitsplatz gemahnt an eine Wohnstubenszene aus Pratajevs Oper „Der schwarze Stuhl“. Wurstdosen werden als harte Thüringer Währung gereicht, Kaltgetränke, im Backstage ist eine hübsch beladende Bar verortet.

 

 

 

Bevor daraus Dynamit geangelt wird, folgt der akribische Soundcheck, ein Ritt zum Catering, treffen sich Satire, Gosse und Avantgarde auf Augenhöhe. Kulturbeflissene Menschen, Nachbarn, deren Garage im Innenhof verortet ist, füllen die gute Stube. Erster Tagespunkt: Ein Thema (Underground DDR/BRD), ein Talk, ein Moderator, Christoph Meueler, gesamt vier auf einer Bühne. Darunter: Doctor Pichelstein mit stetem Lächeln und weisen Sätzen. Es folgt: ein Leseblock. Jeder der Talkenden spricht runde 30 Minuten ins Mikrofon. Florian Günther, Sascha Anderson, Doc Pichelstein als Social Beatnik Frank Bröker.

 

Pause. Das Casino füllt sich bis zum Rand. Los geht die Pratajev-Show, moderiert von Doc Makarios, gitarrisiert von Doc Pichelstein. Mit herrlichsten, von M. Kruppe poetisch veredelt vorgetragenen Texten des größten aller unbekannten, russischen Landdichters. Eine Stunde lang, ohne Pause: Nichts als tragische Kurzzeitromantik in unverwüstlicher Präsenz.

 

 

 

Die Docs feuern ein Best-of-Landleben ab, Pichelstein macht den Uri Geller, zaubert die Schönen aus der Stadt, während unten im Publikum bewusste und noch unbewusste Pratajev Circle-Members jubeln, lachen. Wow, das macht Spaß.  

  

Letztes Lied, Abgang Doctors; wie ein Engel aus einem Stummfilm erscheint als nächste Linda Gundermann im Bühnenwohnzimmer. Begleitet von einer Zartsaiten-Gitarristin werden in Bälde zauberhafte Chansons zum Besten gegeben. Pichelstein vergräbt rasch die Backline ins Kofferwerk und folgt schlussendlich Makarios an die Schnapsbar, eine mit ganz langer Leitung.

 

 

 

So vergehen die Stunden bei Gesprächen über die Liebe, den Lebenshunger. Es geht um Krankheiten, mit denen man angeben kann (oder nicht), um zerklüftete Identitäten, autistisch anmutende Katzen und geplante Privatpartys. Insgesamt ein bis in den frühen Morgen laufendes Best-Case-Szenario. Спасибо большое!

 

Sieben Minuten sind es fußläufig von hier aus bis zum Hotel, wo beim ersten Spatzenschrei der neue Dresscode Bettdecke lauten soll. Dreifach so viele Minuten werden es mindestens. Was sich am Ende keiner erklären kann. Auch die Spatzen nicht.

 

Foto-Danke:

1&3: Jens Pasemann

2: Claudia Laßlop

4: Ives Zander