Die Realität ist kein Blockbuster (459)

 

Kai hat Geburtstag. Dirk hatte Geburtstag. Das ruft nach einer Feier an einem wohlbekannten Ort, an dem weiland Tischlerei-Geschichten geschrieben wurden, die die Städtechronik Frankenbergs zum Erröten und Erstaunen bringen könnte. Gerne nachzulesen in den Tourbüchern der Russian Docs.    

 

Beide Probanden ahnen von nichts, wurden tagsüber mit fadenscheinigen Versprechen auf die Touristik & Caravaning-Messe nach Leipzig gelockt („kost nix, alles umsonst“), um abends wie zwei entrückte Sons Of Ironists im Waldorf- und Statler-Style von einer Bande liebster Menschen durchaus wundertütig überrascht zu werden. Krachend. Zum 100. Gesamtjahrestag. Raus aus dem gut geölten Hamsterrad, rein ins Vergnügen!

 

 

 

Belegt mit einem Schweigegelübte reisen die Doc spät nachmittags an; gegen 18:30 ist mit dem Eintreffen der Messebesucher zu rechnen.

 

Während sich die Tischlerei in einen buffetbestückten Partysaal samt Tanzfläche, Bühne und Schnapsbar verwandelt, steht Makarios im Staub, um ein allerletztes Boxenkabel zu aktvieren, buttert Pichelstein den Soundcheck an. Noch ein Kaltgetränk für drinnen, einen Kaffee für draußen, hält bei strengen Minusgraden warm.

 

Eben noch war idyllischer Herbst mit lockerem Novemberblues, schon knallt die erste Russenpeitsche übers Land, stehen Frostituierte am Erzgebirgsrand. Der Winter macht ordentlich Werbung für sich, doch wollen wir heute keine weißgezuckerten Aschenbrödel-Zitate hören, Weihnachten ist einigermaßen weit weg. Bis dahin herrscht bitte wieder eitel Sonnenschein. Oder auch nicht, denn wie heißt es so schön? Die Realität ist kein Blockbuster. Sie ist kalt und zügig und wird immer teurer. Darauf ein Helga Bauer-Gedicht, wie es Pratajev nie geschrieben hätte: Wir sind gegen den Ernst der Lage / Springen wie Frösche träumen / Bis an die Decke / Bis an den Mond / Weil fliegen sich lohnt.

 

 

 

Als zartes Tresenwesen wurde Tochter Estelle bestimmt. Eben noch mit einem frisch und leicht verschrammten KFZ angekommen, zeigt sie schon wieder ein 2-cm-Lächeln. Was sich im Laufe des Abends, bedingt durch manch‘ gelebte Pratajev-Kapriole, maximal ausweiten wird.

 

Schlag 18:30 Uhr öffnet sich die Partytür. Kai, Dirk und kleines Gefolge stehen im Scheinwerferlicht und sehen so aus, als wären sie falsch im Kaninchenbau abgebogen.

 


 

„Da hält der Wind den Atem an!“ schmettern die Docs. Es folgt ein Geburtstagslied, großes Herzen und Umarmen. Tja! Überraschung gelungen. Und nebenbei: Buffet eröffnet, der Grillvater segnet es mit Steaks und propperen Würsten. Dazu gibt’s einen herbeigezauberten Bulbash. Denn Bulbash ist Beifall für die Seele. Ob das auch für die Leber gilt, ist nicht überliefert.

 

Los geht’s mit dem Konzert, mit der Anatomie eines wunderbaren Abends voller Lebensfreude und tanzender Lust auf eine bessere Welt. Schneller als man blinzeln kann, wechselt Doc Pi - der ewige Chuck Norris unter den Gitarristen - Akkordfolgen, verkündet Doc Makarios mit Raureifstimme Lebenshilfetipps aus dem Pratajev-Kosmos. Von der Bar bis zur Bühne bildet sich ein Trampelpfad der Anti-Aging-Schnapslieferungen. Je voller die Becher, desto leckerer die Gitarrensoli aus dem Süßwarenladen.

 

Als der erste Konzertblock endet, fließt bereits der Schweiß, hat sich Doc Pi gegen die Dopplung von Textilien entschieden. Raus an die Schnapsbar! Auf ein paar Kippen in den Hof und wieder Anker setzen in der kuschelig-rotummantelten Bühnenecke. Ich hab noch einen Russen, ich hab noch einen Russen, ich hab noch einen Rotarmisten im Keller!

 

 

 

Dem Fetischblock schließt sich Pratajevs irre Wanderschaft an, Bulbash verwandelt sich in Ramazzotti, eine ganze Tischlerei steht Kopf. Solange bis das letzte Tierlied verklungen ist und mit „Geh heme meine Kleene“ der finalen Schnapsbar ein Zugabe-Krönchen übergeholfen wird.

 

Der Rest ist ein Staunen, Köpfe bei verlangsamter Rhetorik zusammenstecken, feiern, bald Abschied Richtung Nordstern, Richtung Bettflucht nehmen. Während vor und hinter der Bar noch lange dem Frankenberger Ritus des „auf den Weg Trinkens“ strengste Achtung gezollt wird. Danke Anja, Antje, Estelle, Nadine, Kai, Dirk … allen anderen gleichermaßen!