Hat da gerade jemand JEHOVA gesagt? (418)

 

Meißen ist international berühmt für die Porzellan-Herstellung. Genau das bereits seitdem der starke August vor rund 300 Jahren Land und Leute knechtete und ansonsten recht prunkliebend den mätressenverschlingenden Kurfürsten abgab. Da denkt man gleich an fulminante Bälle mit angeschickerten, ungeschickten Damen, die auf dem Weg zum Hengststall einen Manufakturpott mit gekreuzten Schwertern zu Fall bringen. Es klirrt, ein Junge auf dem weißen Pferd rettet sie vor dem Kerker, erweist sich als gütiger Prinz, ersetzt den Pott durch eine chinesische Made (Wortspielwitz) und schwupps heiratet er eine nach der anderen … Solch edle Szenen schießen Doctor Pichelstein quer, als es durch Sturmregen mit Schnee drin Richtung Ausgang des Elbtalkessels geht, wo sich Elbe und Triebisch "Gute Nacht" sagen. Ob der Sachsenkeller, das Ziel der heutigen Reise, auch barock bestellt ist und kichernde Puderdamen mit Renaissance-Kleidern aufwarten? Darauf eine erste Bockwurst des Freitags an der Tanke.   

 

Pichelstein sitzt heute am Steuer, Doctor Makarios bespielt den Sozius und Fürst Fedja aktiviert im Fond die Navigationsdame. Sie macht einen guten Job. Deutsche Sprache, schwere Sprache. Bei den Betonungen hakt es manchmal. So wird aus der „Beethovenstraße“ die „Betthofeenstraße“ und „Meißen“ ist „Maisen.“ Sogleich springt der Funke auf Makarios über, der fortan alle nur erdenklichen Schilder und Hinweise auf Navigationsdeutsch spricht. Das „Krankenhaus“ wird zum „Krankeenhaus“ und so weiter. Damit lässt sich prima die Zeit vertreiben.

 

In Meißen angekommen donnern Busse im Zweiminutentakt über die Furchen der Stadt. Es heißt ja: „Viel Bahn, gut Stadt“ – doch Meißen verfügt über kein Straßenbahnnetz und so fahren die meisten Menschen mit dem Bus. Pichelstein hat es auf die Busse abgesehen. Ziel ist es, den Wagen immer vor einem Bus auf Los zu setzen. Gar nicht so einfach, denn hier ist jedes Geradeaus eine Kurve und so wird es eine Harakiri-Fahrt bis zur Schlüsselübergabe in der Pension „Zu den blauen Schwertern.“ Als schließlich der Sachsenkeller erreicht ist, raunt und stöhnt die Navigationsdame vorm Knockout: „Err haat es geschaaafft.“     

 

 

 

Jörg hat wunderbarste Vorarbeit geleistet. Die Bühne des Sachsenkellers steht bereits und muss nur noch mit der Backline bestückt, respektive be-soundcheckt werden. Bockwürste und Nudelsalate im Sinn geht’s an die Arbeit. Kaltgetränke werden gereicht. Glaubt man einem Poster, soll bald die an Bukkake gemahnende Gruppe Cream Pie zu Gast sein. DAS klingt sehr nach Barock und Hengststall. Aber eigentlich nur, wenn auch die Jungs vom MWLC (aka: Milky Way Love Club) am Start sind.   

 

In Zeiten der Corona-Apokalypse unterwegs zu sein, mag zwar nicht allen gefallen, doch es ist so. Und es macht vor dem großen Shutdown, der in wenigen Tagen folgen wird, sehr viel Freude. Eine letzte kleine Tour unter Freunden. Jede Minute darin wird genossen. Denn bald wird nichts mehr sein, wie es war. Und niemand weiß, wie das alles enden wird. Was gut ist, denn wenn wir das beständig wüssten, wären wir filmreife, schlechtgelaunte Götter mit Wohnsitz in Belgien.

 

 

 

Unterdessen stellt sich Baby der Starke aus Spremberg vor, der 20 Bier wie 20 Wasser schlürft, dem es erst nach zwei Flaschen Kräutern in der linken Zehe kribbelt. Man fachsimpelt genau darüber an der Schnapsbar, während sich der Keller langsam füllt. Noch ehe Baby fragt, ob er ein paar alte Gitarrensaiten als Stahlvorfächer fürs Angeln bekommen könnte, trifft die alles umarmende Pratajev-Delegation Großenhain ein. Ja, Körperkontakt ist in Zeiten wie diesen zu vermeiden, doch da sich glücklicherweise niemand von skifahrenden Verwandten aus Tirol, noch von Bekannten dieser fragwürdigen Zunft hat betröpfeln lassen, scheint das alles nicht lebensbedrohlich zu sein.

 

Patschnass wie die Kaulquappen nach der Schwimmtherapie stromert als nächstes eine Delegation Dresdener Pratajev-Freunde in die Katakombe. Makarios verleiht stante pede den Bolschoi-Tutukin-Orden. Wer bei strömenden Regen und vollem Unwetter mit grandioser Leistung den Elberadweg besiegt, ist fürs Leben immun gegen was auch immer. Und durstig. Gebt ihnen Bier! Einen Wodka dazu! Und los geht’s! Das Intro donnert und ruft die Doctoren zur Bühne. Selbst Bitcoin-Dieter aus Uganda schreckt in der Ferne darüber zusammen und verschluckt ein dickes Headset (es sei ihm vergönnt).  

 

 

 

Es wird ein wildes Konzert im ausgehbeschränkten, überschaubaren Kreis. Zwischen beiden Sets und den Zugaben geschehen überlappend so viele Dinge, dass man auch aus der Retrospektive heraus nur staunen kann. Meißen, Meißen. So eine barocke Wonne. An der Schnapsbar hüpft die quirlige Mutti mit ihren 71 Lenzen herum, während die ebenso quirlige Tochter mit einer Wolfs-Chapka auf dem Kopf am Hühnchenbein knuspert. Fürst Fedja veräußert drei Flaschen Bulbash auf einmal. Sukzessiv leert sich der Vorrat mit jedem Pratajev-Liedchen, Becher werden zur Bühne gereicht. Es wird geprostet und gekippt, als würde die Welt in Bälde untergehen. Pichelstein hat Feuer in den Fingern, der Keller singt. Die Wolfs-Chapka fliegt an die Decke, Tochters Ex, Kopf voran, gegen die Boxen. Am Ende wird ein halbnackter, schwankender Beulenmann mit einem Liederbuch der Russian Doctors in Händen an der Schnapsbar liegen und sich fragen, wie er da nur hingekommen ist. Zurück zum Geschehen: Nackte Männer mit mehr oder minder stahlharten Bäuchen geben sich ein Tanzdichein, Pichelsteins Gitarrensaiten platzen. Beute fürs Anglerbaby. So nimmt das alles seinen Lauf bis es schließlich was gibt? Bockwurst! Und ein Schwätzchen hier und ein Schlückchen da.

 

 

 

Noch bevor Baby sanft wie ein Lämmchen eingeschlafen ist, wird die Bühne abgebaut. Fürst Fedja steuert den Pratajev-Tross sicheren Gaspedals Richtung Pension. Es hat aufgehört zu regnen. Licht an. Ein Hauch Realsatire wartet. Wachtürme in allen Sprachen liegen neben raren HörZu-Ausgaben des Jahres 2019 herum. Mein lieber Zeuge! Hat da gerade jemand JEHOVA gesagt?

 

Bis tief in die Nacht wird nicht geschmökert, sondern Astro TV geschaut. Ein Faszinosum. Freiberufliche Schauspieler verkaufen Warteschleifen-Lemmingen energetisch aufgeladenen Klimbim und wiehern mit der Kraft des Einhornsegens. Menschen, bei denen irgendetwas gründlich schief läuft im Leben, werden nahezu karnevalistisch ferngesegnet und die Welt erstrahlt wieder im schönsten Glanz.

 

Um dem Ganzen ein Krönchen aufzusetzen, schaltet Fürst Fedja einen Kanal weiter zu Bibel TV. Gerade wird der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben gepredigt. Darunter treten zwei Jugendliche in den Boxring und hauen sich Bibelzitate um die Ohren. Man schaut sich das an, ist reichlich irritiert, greift sich einen der Wachtürme und fragt sich so grundsätzlich: Wieso liegen die eigentlich hier?