Wiehernde, dieselbetriebene Kutschen und zwei Stunden Sonne (392)


Mittags, 13 Uhr in Deutschland. Die Russian Doctors sind auf dem Weg zur nun schon 15. Elbhangfestteilnahme. Gibt es dafür Treuepunkte? In welches Heft klebt man die ein? Das Wetter ist fies wie nie, alles ähnelt irgendwie dem Bockwurstaufbereitungswasser an der Tankstelle in Temperatur, Farbe und Konsistenz. Doch keine Sorge, Elbhangfest. The Russian Doctors führen im zweiten Gitarrenkoffer eine opulente Sonne mit sich, gleich neben einem Strahlemannkarton Bulbash im Wagen verstaut. Ankunft an der Grottenwirtschaft: B-mom rocken standhaft in dicken Jacken und sehnen sich einen Heizpilz herbei. Das frisch gezapfte Nass schmeckt und den Puhdys wird eine Coverversion geschenkt. Auf der anderen Elbseite klart es sich langsam auf. Was bleibt, ist der Wind. Eigentlich wollten die Doctoren heute hoch hinaus, auf dem Dach spielen, doch wird dieses Ansinnen sicherheitshalber aufs nächste Jahr verschoben.

 

 

Fürst Fedja baut den nichtbeschirmten Merchstand auf. Ein fröhlicher Optimist, hofft stets das Beste und hat das Schlimmste im Blick. Denn eben schauerte es noch aus Kübeln. Doch es klart sich weiter auf. Erst als B-mom die Bühne räumen, lässt Pichelstein sie raus, die Sonne. Sie blickt kurz im Uhrzeigersinn übers Elbtal und entscheidet sich donnergeküsst für einen Stehplatz über Loschwitz. Die Crew um Professor Hendrik will es kaum glauben. Sonne? Sonne! Wohlig warm wird’s unter ihr, raus aus den dicken Klamotten. Man gerät, beim gemeinsamen Bühnenaufbau mit den Jungs von der Klimperkiste, nahezu ins Schwitzen. Wenn nicht ins Schwärmen. Wird doch nebenher eine wodkagefüllte Russenknarre im Bestellkarton geschenkt. Die Übergabe erfolgt von einem Elbhangfreund mit Kennermiene, die keine Widerrede duldet. Danke!

 

 

Die Strecke füllt sich. Wiehernde, dieselbetriebene Kutschen fahren vorbei. Die Pferde schwimmen gleich um die Ecke. In der Soljanka. Pichelsteins Augen leuchten angriffslustig, das Intro ertönt. Makarios schreitet zum Mikro. Nachmittags, 15:30 Uhr in Deutschland. Die Russian Doctors legen mit hartem Anschlag los und es macht Spaß wie nie an der Grottenwirtschaft. Pratajev wird auf die Reise geschickt und Zufallspublikum hegt gleich zu Anfang den Verdacht, dass diese Reise eine recht obskure, wenn auch lehrreiche, werden wird. Damen, von denen man sonst Reformanten wegen was auch immer erhält, bleiben stehen. Man hegt den Verdacht, dass sie stante pede in Sauflaune verfallen.

 

 

Mit schlafwandlerischer Raffinesse jagt Pichelstein durchs Set, frühe Schlüsselszenen des Konzertes bilden die Bühnenankunft brauner Leckerschnäpse und selbst der kühnste Optimist hätte zu Anfang des Tages nicht gedacht, dass Pichelstein heute seinen Jahresrekord auf der Schnellgitarre übertrumpft. Pratajevs Gedichte wuchern, laufen aus und kulminieren zu Geschichten. Der Blick des Dichters auf die Welt, wie er sie in Russland vor vielen Jahren sah, beherrscht die Lachfalten des Publikums. Sämtliche Frömmigkeit weicht aus den Gesichtern, mit tänzerischer Grazie wird applaudiert. Manches Kindelein singt lauthals mit. Lange vor dem Nachbeben, dem Wunschblock aus erlesenen Zugaben, platzt die erste Stahlsaite. Nolens volens muss die Ersatzgitarre vom Haken genommen werden. Und die Sonne? Strahlt, überlegt sich, ob sie einen verspielten Regenbogen an den Himmel malen soll. Lässt es aber bleiben. Denn nach dem Auftritt der Russian Doctors, jetzt ist es so weit, Faktor X scharren mit den Hufen, wird sie zappzarapp wieder in den Gitarrenkoffer gesteckt.

 

 

Foto 1: Fürst Fedja, Fotos 2-4: Danke an Inge A. Polenz