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Kategorie: Tourtagebuch
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Im Wohnzimmer der Enthusiasten (225)


Leipzig, aus Messeanlass heute mal wieder Bücherhauptstadt, macht es seinen Einwohnern und Gästen nach wie vor schwer. Das war schon immer so, sagen die, die es wissen. Das wird immer unglaublicher, sagen die, die es besser wissen. Fangen wir beim Irrsinn einer Olympiabewerbung an, nehmen die Umweltzone hinzu, umfahren allerorten jene Asphaltschlagloch-Minenfelder im Geiste Gaddafis, besehen den Braunkohleuntergrund mit seinem U-Bahnunsinn, rufen dann noch irgendeine debil besetzte Behörde an, in der sich ehemalige LPG-Kuhstallabsolventen zu Abteilungsleitern hochmelken konnten, schlagen die Zeitung auf und fragen uns, warum der Westen seine wirtschaftlichen Überflieger ständig über dem hiesigen Rathaus zum Absturz bringen muss. Nur zwei Beispiele der jüngsten Epoche: Import aus München: Wasserwerke-Heininger, aus Köln: LVB-Hanss. Näheres dazu (Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Gesamtschaden in Millionen etc.) via Gerichtsprocedere. Dagegen hilft Lächeltherapie; wer mag, darf demonstrieren, zornige Leserbriefe schreiben oder einfach in ein Wohlfühl-Wohnzimmer der Enthusiasten eintauchen. Eines davon lädt ins Stadtteil Lindenau ein - in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wege e.V. gelegen, befindet sich der Lesesalon des Poetenverlages PaperOne. Dass jener Verein sich um das Wohlergehen psychisch Erkrankter bemüht, soll an dieser Stelle eine ehrenhafte Randnotiz bleiben.

PaperOne-Chef Olli herzt The Russian Doctors im Frontstage, engagiert für den musischen Part des Leseabends. Getränke gibt’s an der Bar, im Klo glimmt eine Kerze auf Holz, nur ist besagter Raum (Tampons zum Mitnehmen auf dem Fenstersims) von innen verriegelt. Sollen darüber Brandschutzsorgen aufsteigen? Nein, keineswegs. Hauke von Grimm ist ein Poet der Tat, entsprechendes Werkzeug wird angetragen, bald bricht schon die Tür. Derweil lesen Klaus Märkert, Myk Jung, Michael Oertel, HC Roth aus Worten, Fernsehern und Werken. Im Hausflur gemahnt die Verwaltung: Miete ist fällig! Kann auch bar bei Frau S. eingezahlt werden. Gefüllt ist’s Wohnzimmer mit Andacht und Menschen und letzten Endes sitzen auch Makarios und Pichelstein dem Auditorium vor. Gedichte aus Pratajevs Zyklus „Lila Nina“ paaren sich mit Setperlen des aktuellen Feldmänner-Programms, münden allenthalben im nach oben offenen Zustimmungsbarometer. Schön warm ist’s und heiß gar im Wünsch-Dir-Was-Obolus. Das Elend der Welt ist nicht tastbar und draußen, bei den Verlagspartys der Helene-Hegemann-Tollfinder, wird damenweise Lipgloss nachgetragen. Mehr Aufregung ist unverzeihlich.