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Kategorie: Tourtagebuch
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Unter Schwalben (371)


Man könnte eine ganze Horde Statistiker zur Auswertung der bis dato 370 Doctors-Konzerte beschäftigen. Kaskaden an Erinnerungen! Wie viele Kontingente Schnäpse wurden zur Bühne gebracht? Welche Tour-Tankstelle bot die schlechteste Bockwurst feil? Spannend wäre es auch zu wissen, wie viele Privatpartys, all die Geburtstage, Hochzeiten und Diplomfeiern, auf der Habensein stehen. Müsste man mal durchzählen. Das 371. Konzert an Reuters Radlerhof (diesmal wird im Innenhof, auf dem Gelände der ehemaligen Centralhalle in Gaschwitz gespielt) ist wieder auf „privat“ gestellt und hält ab sofort den Altersrekord eines Geburtstagskindes. Ein Sechzigster mit Gurke und Blumenkohl! Gurke? Kohl? Bis heute ein Insider. Der Gratulant schwieg sich darüber aus, obschon der halbe Ort mit seinem Konterfei plakatiert wurde.

 

 

Kurz ist die Reise von Leipzig nach Gaschwitz an diesem nieseligen Samstagabend, Wirt Herbert, eben erst aus der Neuen Welt zurückgekehrt, ist bester Laune. Auf dem Plasmaschirm wechseln sich Urlaubsfotos ab. Gerne würde man als Phlegmatiker einem Vortrag drüber lauschen, doch die Arbeit ruft. Erste Gäste trudeln ein, am Bierfass heißt es schon auf Hyper-Denglisch „The Snake is long“ und da weit und breit keine Roadies zu sichten sind, schleppen und bauen die Doctoren von der Förmchenbande allein auf der Bühneninsel. Darüber fliegen die Eltern Schwalbe erbeutete Motten ins Nest. Der Nachwuchs kreischt völlig verzückt: Motten? Machen groß, stark und verleihen Flügel. Rasch ein Soundcheck, der DJ kommt auf Chemie Leipzig-Socken daher und damit er die Doctors später sonor ankündigen kann, wird ihm ein Mikrofon kredenzt. Ja, die DJs dieser Welt machen es sich leicht. Zack, Laptop auf, Verstärker und Boxen dran, Knopf gedrückt, fertig. Musiker haben es da mit ganz anderen Sujets zu tun, verbrennen dafür auch mehr Kalorien und können deshalb so viel essen, wie sie wollen. Gerade wird das Spanferkel geliefert.

 

 

Alles futtert, trinkt und lacht, was liegt da näher, als der heutigen Pratajev-Revue per Starterklappe Beine zu machen? Mit dem „Lob des Schweines“ geht’s los, der „Löffel aus Holz“ schließt sich den „1.000 Nudeln“ an. Erstaunlicherweise wird gleich mitgesungen, geschunkelt, man scheint die Doctoren bereits bestens zu kennen und natürlich wird Bulbash unters Schwalbennest geliefert. Viel Bulbash! „The Snake is long again“ - die Schlange der Spendierfreudigen reißt vor der Bühneninsel nicht ab. Pichelstein spielt mit jedem indoktrinierten Schluck schneller, Makarios löst die Fallstricke nippend. Mahnende Worte, den Gitarristen doch am Leben zu lassen, verhallen und so ist es Impresario Fürst Fedja, der schützende Hände ausbreitet und manchen Becher bis zur Pause rettend verzehrt.

 

Kaum ist der „Rotarmist“ anschließend verklungen, geht’s weiter wie gehabt. Pratajev, oh, Pratajev, so muss es in den 1950er-Jahren im Rovtlovensker Rajon zugegangen sein: Wild und schwach auf der Lunge schwindet langsam die blaue Zunge. Als Makarios in den Zugaben über die „Schlotternden Knie“ Richtung finaler „Schlager-Schnapsbar“ einbiegt, finden sich mehr als zwei Stunden Konzertreise in den Annalen wieder. Das Publikum, die Doctors, Wirt Herbert und Herr Gurke-Blumenkohl sind eins mit der Welt an diesem Geburtstag der Wunder und Sensationen. In wenigen Wochen spielen die Doctoren anlässlich einer Pensionierung in der Sächsischen Schweiz. Hm. Je älter, somit ehrbarer die Anlässe, umso mehr wird gesoffen. Und das ist auch gut so.