Wir haben nicht damit gerechnet, dass ihr so wild seid (382)

 

Beim Frühstück in der Elbhangpension Maria scheint der Tag für Fürst Fedja bereits gelaufen zu sein. Der Wodkartell-Boss zieht ein Gesicht, als würde er auf einer sauren Zitrone lutschen. Leckere Zerealien in O-Saft getränkt und dann taucht beim Napfrühren glatt ein verhasstes Dutzend Rosinen auf. Doch deswegen zur frühen Vormittagsstunde gleich wie ein Huhn ohne Kopf im Kreis herumrennen? Oh nein! Mit kulinarischer Erlebnisgier wird der Landschlachthof Struppen angesteuert. Es hagelt Knacker, es poltert die Leberwurst durchs Auto, das, von innen betrachtet, wie eine unsortierte Damenhandtasche ausschaut. Es soll ja in derlei Männer-Mysterien stets etwas kurios zugehen und manche holde Trägerin fühlt sich nur prima, wenn das halbe Interieur eines Bad- bzw. Kosmetikschrankes in entsprechend großen Behältnissen mit sich geführt wird. Darüber noch sinnierend, ist das nächste Ziel bereits in den Navigator eingegeben: Karlsbad. Eine Bretterwelt asiatischer Stände lädt zum Kippen-Shopping ein, dann ab durch den Schnee nach Becherovka-City. Im September 2016 fand hierher die letzte Stippvisite statt, damals speiste der Pratajev-Tross überaus lecker im Egerländer Hof.

 

 

Das Meer der Heilquellen rasch überwunden, starrt von Ferne her ein jeder andächtig aufs Gebäude, als wäre es ein schönes Gemälde. Doch nein, der Hof hat wegen nicht näher ergründbarer Umstände geschlossen. Immerhin gibt es ihn noch. Denn das einst so schöne Karlsbad ist vom Gasthaus-Sterben betroffen und wurde in den letzten Jahren Opfer schlimmer Yuppisierung. In deutschen Großstadtvierteln spricht man oft davon, dass Einheimische durch gut situierte Zugezogene ersetzt werden, die letztlich dafür sorgen, dass aus Krämerläden und Kneipen Bio-Eventtempel und Tapas-Bars werden. Old school is always cool. Sagt das noch der Veteran zum Talentierten? Leider nicht. Stattdessen wird eine gleichgeschaltete Konsumwelt aus Mode-Etablissements, Glitzershops, Fast Food, Drogerien, Backstuben-Ketten usw. verordnet. Freisitze, Konzerte nach 22 Uhr? Verboten, wegen der neuen Nachbarn. Und so sieht Karlsbad heute schon fast wie das gentrifizierte Leipzig-Connewitz aus, wenn auch weniger Touristenrudel aus Fernost und kapriziöse Blondinen aus russischen Gefilden anzutreffen sind. Tschechische Mütterchen, die auf Bänken sitzen und Tauben füttern? Väterchen, die beim Pivo Karten spielen? Muss man knapp vor den Toren der Stadt suchen. Für sagenhafte 59 Euro werden dagegen Botox-Experimente feilgeboten, eine Kofola ist kaum noch zu bekommen. Stattdessen? Coca-Cola. Wenn der letzte Rotwurst-Grill schließt (wie es zuletzt auf dem Prager Wenzelsplatz geschah), hat die Mafia auch Karlsbad vollends übernommen.

 

 

Nun, ist die Wirklichkeit schon demoliert, darf die Antwort darauf nicht Weltschmerz lauten. Eine Gaststätte, das Restaurant U Švejka, hält einen letzten Dreiertisch für die Doctors bereit. Man braucht nicht lange, um ein leckeres Mahl zu begehren. Es gibt Ente für alle, lecker, wunderbar. Aufgegeben wird die vornehmste aller Haltung; jene "Zurückhaltung" ist beim Schmausen eh fehl am Platz. Florale Geschenke und ein großer Dank an dieser Stelle gebühren Towarisch Tamila Tschemodankina. Überließ die gekrönte Brandenburger Gurkenkaiserin doch dem Tross auf unerklärliche Weise eine Spende für im Exil lebende Miloproschenskojer Wirte. Der notleidende U Švejka-Besitzer (hohe Miete, Gasthaussterben) strahlt wie die Doctors nach dem letzten Schnaps vorm Aufbruch. Los geht’s, über den Tellerrand hinausschauen, nach Zwickau. Hinein in die Schneemassen des Fichtelbergs, an Oberwiesenthal vorbei. Fürst Fedja lenkt die Schmette mit der überlebensnotwendigen Geschwindigkeit trocknender Wandfarbe über Serpentinenpisten und hat am Ende (es klingt ein wenig bedauerlich) nicht mal einen Skifahrer auf der Motorhaube. Dafür nasse Hosen. Merke: Wer beim Schneestopp vom Stampfweg aka Trampelpfad abkommt, mit großen Märchenaugen prachtvoll-weißbehangenen Tannen zustrebt, der trifft auf keine Prinzessin, der versinkt bloß knietief im Schnee.

 

Zwickau ist knackedunkel. Fürst Fedja zündet die BMW-Rakete justament, als das Ortseingangsschild in Sichtweite gerät. So kommt, was kommen muss: Es funkt rotgelb herab. Tempo 50 wäre eine finanziell betrachtet günstigere Alternative gewesen. Als wenig später die Stimme aus dem Navigationsgerät zu einem biblisch geprägten Gospelabend ins Neubaugebiet führt und zudem recht kühn behauptet: „Sie haben ihr Ziel erreicht", ist man doch etwas misanthropisch, wenn nicht gar gestresst. Der Entenverzehr ist einige Stunden her, im Lutherkeller an der Spiegelstraße wartet bereits das Abendmahl. Ja, und auch das muss noch warten, denn zunächst gilt es, angekommen und von der veranstaltenden Liederbuch-Crew empfangen, mit letzten Kräften eine Bühne herzurichten, einen Soundcheck aufs Bretterwerk zu legen. Dann aber, jam jam lecker, wird Bestes aus der Bratpfanne kredenzt.

 

 

Was nicht immer üblich ist, das geschieht: reichlich Menschen besuchen eine Veranstaltung in Zwickau. Die Kollegin Ulla Meinecke trat neulich gar nicht erst an; 20 Vorverkaufskarten waren eine zu große Leerstands-Hypothek, um Lieder von nassen Katzen zum Vortrag zu bringen. The Russian Doctors knacken diese Marke locker, so werden es um die 50 Gäste am Ende gewesen sein, die den lutheresken Partykeller in eine Pratajev-Schlacht führten. Vorher ist großes Hallo angesagt. Die Lichtenstein-Fraktion, die Nürnberger! Rauchend erweitern Makarios und Pichelstein ihren Wissensschatz im Punkto „Gassigehen mit Hunden in steinbefallenen Schuhen voller Kacke“. Der gemeine Hundehalter benötigt, zumindest ist es in Lichtenstein so, dergestalt ein gesondertes Paar Schuhe, das hinterher nicht auf flauschiger Synthetik wandelt.

 

 

Dann ist Showtime, es wird ein nicht ganz ungefährlicher Abend für die Docs, denn nach jedem zur Bühne gereichten Bulbash greift die Zwigge-Wildheit um sich. Gibt es hier noch Dinge zwischen Himmel und Erde, die die Wissenschaft nicht erklären kann? Weit gefehlt. Die auf Paletten bugsierten Spanplatten sind keineswegs verschraubt und schieben sich von Liedern über spanische Schweine bis hin zur Heilung seltsamer Krankheiten wie tektonische Erdplatten hin und her. An den Rändern ist die Spannung besonders groß; glücklicherweise reichen vereinzelte Fußtritte zur Korrektur und weder Makarios noch Pichelstein müssen schlussendlich lästige Unfallkassen-Berichte ausfüllen. Beim „Käferzähler“ stürzt lediglich die Mikrofonierung ins Publikum, doch niemand wird davon zerbeult. Was für ein Abend. Wer hätte das gedacht? Was für eine Nacht! Der perfekte Gradmesser pratajevschen Wirkens. Bis zum Kehraus wird gelacht, gewippt, gesungen. Dem Pichelstein reißt mitten im „Schlips aus Lurch“ die dicke A-Saite. Was hätte Anatoli Prumski einst getan? Weitergespielt und erst nach dem Schlussakkord zur nächsten Gitarre gegriffen. So und nicht anders geht’s in die Zugaben hinein, bis sich der „Raucher von Bolwerkow“ an die letzte „Schnapsbar“ lehnt. Mit Worten wie: „Wir haben nicht damit gerechnet, dass ihr so wild seid,“ gibt’s gerechte Komplimente der Zwickauer obendrein. Danke, immer wieder gerne. Eure Docs, die Band mit dem eigenen Wodka, die Musiker mit dem eigenen Kartell.ÂÂÂ