Lasst die Katze nicht rein (381)

 

Ein Freitagnachmittag, die Sonne blendet, ist dem baldigen Untergang geweiht. Mit dramatischer Eleganz streichelt Fürst Fedja die frisch restaurierte und auf Glanz gewienerte Motorhaube. Vollbrachte darauf doch jüngst ein Fahrradfahrer sein Beulenwerk. Davon ist nichts mehr zu sehen. Man könnte jetzt verträumt Seen umwandern, bräuchte indes ob der baren Kälte wegen eine Thermoskanne Glühwein dazu. Oder ein Wirtshaus. Stattdessen geht es nach Dresden-Loschwitz. Bald dunkelt es; als die Raste Hansens Holz verlassen wird, muss Doctor Pichelsteins Lektüre (Max Goldt: Lippen abwischen und lächeln) zur Seite gelegt werden. Weit vorher präsentierte Doctor Makarios eigens produzierte, steakbehangene Gourmet-Leckereien. Hatte Fürst Fedja doch tags zuvor verkündet: „Bockwurst müssen wir an der Tanke gar nicht bestellen, die gibt’s in der Alten Feuerwache.“ Lustvoll biss man in die mit Meerrettich bestrichenen Gaumenspalter hinein.

 

Nach dem Einchecken in die Pension Maria (Herbergsvater: „Vorsicht beim Aufstieg, der gestrige Sturm hat einen Großteil der Außenbeleuchtung zerstört... und lasst die Katze bloß nicht rein“) fährt Fedja noch ein paar Meter, schon ist die Feuerwache erreicht. Ein nahezu vertrauter Ort, Stichwort: Elbhangfest, und zwar bei Wind und Wetter. Dort, wo das Open Air sonst verortet ist, parkt der BMW. Drinnen die Bühne aufzubauen, sich dem Soundcheck hinzugeben, ist ein leichtes Unterfangen. Der Verzehr des ersten Kaltgetränkes dauert länger, zum Pläsier um sich greifender Sauflaune bietet sich Bulbash an. Und: Fürst Fedja sprach wahr, die Bockwürstchen sind da. Angerichtet an Spreewaldgurken nebst Brotaufstrichen mit Knoblauchknollen drin. Pro Aufstrich eine Knolle. Das ist gesund, durstig macht es auch, und führt schließlich zur gepriesenen Idee, Pratajevs Weise „Da hält der Wind den Atem an“ ins Programm nehmen zu wollen.

 

 

Nachdem bereits vor zwei Wochen der Bolschoi-Dichter M. Kruppe im Elstergebirge am doctoresken OP-Tisch assistierte, folgt heute ein neuerlicher Streich dieser Art. Die heutige Pratajev-Rezitatorin heißt Walissa Rabota. Sie trauert ein wenig ob der Abwesenheit des Lesepartners Boris Kreml, lehnt aber trostspendende Schnapszufuhren ab. Schon jetzt sei gesagt, auch solistisch war’s toll, liebe Walissa, denn wahr ist, was der Doctor spricht, alles andere glaube nicht. Es gab übrigens in der ganz frühen Pratajev-Neuzeit (um die sogenannten Nullerjahre herum) Abende, an denen auf der Konzertbühne sogar gekocht wurde. Da wohnte Doctor Pichelstein noch in Münster, zog mit Punkbands auf Weserbergland-Tournee, und hatte kein so schönes Tourleben wie nun mit den Russian Doctors.

 

 

Ach ja! In den Backstage-Räumen ergoss sich der Alkohol aus Damenstiefeletten in den Mund, unbeschwert wurde hinterher das Mobiliar zerlegt, wenn das mehrköpfige Wellness-Team die dorthin zurückwankenden Musiker zu spät in Empfang nahm. Kleiner Scherz, so war es eher: Man ließ sich vom Wirt – und das war das Höchste der Gefühle, meist wurde im Auto genächtigt – in den Clubs einschließen und bekam als Gage eine Kiste Oettinger Bräu plus fünfzig Mark Spritgeld. Aber nur, wenn der Abend gut gelaufen war. Bei lediglich zehn zahlenden Gästen versklavte man die Musiker weiter. Im Höchstfall rückte eine mürrische Volksküchen-Verfechterin noch je zwei papierne Bierbons raus. Die Weise vom Fröhlichen, dem jedes Unkraut eine Blume ist, gehörte halt schon immer scheel belächelt. Andererseits wird auf die beschriebene Art und Weise dem reisenden Musiker Weltschmerz eingebläut. Er ist fortan problemlos in der Lage, tränenrührende Bitternis in Texte zu kübeln und später beim Vortrag derselben auszuschauen wie der Sänger der Band Sisters of Mercy. Was wiederum zu großem Ruhm mit Damenstiefeletten im Gesicht führt.

 

 

Als der Saal bis auf den letzten Platz vollbesetzt ist, bitten die Russian Doctors zur Showtime. Das erste Set wird ein Ritt in frühe Jahre, vom „Rotarmisten“ hin zur trunkenen Trauerweide „Mich wundert gar nichts mehr“. Walissa Rabota übernimmt das Ruder, im Sturmwasser folgen die Docs bis zur rauch- und trinkgeschwängerten Pause. Die Aufsicht obliegt der harten Wirtin, ihres Zeichens Neumitglied eines Dresdener Metal Clubs. „Jeder Schluck“ beendet das Intermezzo. Nach einer finalen Lesereise werden Schweine geschlachtet und ah, wie schön: gefürchtetes Holzlöffeltrommelfeuer brandet auf. Eine Hand voller laut ramenternder Kochgerätschaften wird gezählt, die Feuerwache tanzt, Bulbash fließt zur Bühne. Mit feuerfester Stimme führt Makarios durchs Programm, Pichelstein, der Wiedergänger Anatoli Prumskis, strotzt in bester Tradition nur so vor Positivität. Die Gitarrensaiten halten, die nasse Frisur sitzt. Der Abend ist gelungen, und wer nach der finalen Zugabe nach weiterer Heilung strebt, bleibt einfach an der Schnapsbar stehen.

 

Später, die Bühne ist abgebaut und der Doctoren-Tross hat sich festlich in der Pension Maria eingerichtet, huscht eine Katze ins Haus und versteckt sich unterm Ehebett im Zimmer Fedja-Pichelstein. Fürst Fedja träumt. Er träumt nicht die sonst üblichen kunstvoll boshaften Dinge, nein, von einer Katze, die ihn minutenlang anstarrt. Nun werden ja bekanntlich nicht alle Schlafträume wahr, dieser aber schon.