Ein Hund, der deinen Namen trägt (447)

 

Frühstück nach dem Eröffnungstag des 3. Alberthafen Open Air im Restaurant um die Ecke. Eben noch ausufernd gefeiert, wirkt das Schwärmen darüber wie Meditation. Die Herbergsmutter verordnet eine abseits von Heintje bis Weintje reichende Schlager-Playlist. Da lohnt es sich gleich für die Branche aktiv zu werden und Lieder mit erlebtem Wortzauber nach Quantenphysik-Art (das Beobachten eines Ereignisses beeinflusst das Ereignis) neu zu schmücken.

 

Makarios: „Neulich an der Schleußiger Entenbrücke kam mir ein krummer Mann entgegen. Der hatte einen Hund dabei und rief plötzlich: Los, Annelise, hier lang … alle drehten sich nach dem Mann um.“ Vorbei ist es mit der allseits bekannten Sternhymne, umgedichtet wird sie in: „Ein Hund, der deinen Namen trägt“. Apropos: Schlagertexte sind wahre Soziologenarbeiten. Der banale DJ Ötzi-Käserand trifft auf hervorragend dargestellte Dunkelzonen des Heimlichen, die ein Roland Kaiser (mit größter Huldigung an dieser Stelle) bis heute perfektioniert.  

 

Eine goldgelbe Rühreischüssel später geht’s über die A17 ins benachbarte Steuerparadies Petrovice, von dort aus weiter ins kulinarisch wertvolle Hřensko und letzthin - mit Traditionsstopp an der Obstscheune Krietzschwitz - einigermaßen staufrei zurück in die Heimat. Glücklichen Herzens. So soll eine Doctoren-Tour immer enden und die Sonne lacht dazu.  

 

 

 

Tags zuvor ließ sie sich noch bitten; als das Festivalgelände spätnachmittags angefahren wurde, setzte gar Regen ein, und zwischen Hafen und Whiskey-Manufaktur lag Petrichor in der Luft. So ein schönes Wort. Petrichor! Blut der Götter! Bezeichnet wenn Regen auf trockenen Boden fällt. Mit viel Bock auf den von Veranstalterin Frau Schaf organisierten und selbstgebackenen Tochter-Zupfkuchen. Danke dafür, dann mehr Kaffee aus Genuss und später Bier; vorm kurzen Stresstest Soundcheck schlug das Wetterpendel wieder auf einen trockenen Sonne-Wolken-Mix um.

 

 

 

Wegen Lurchpocken oder Weltraumherpes oder Corona musste das Open Air zuvor einige Male verschoben werden. Geplant war aber stets den Abend mit Andi Valandi & Band zu bestreiten.

 

Wechseln wir an dieser Stelle von der Vergangenheitszeitform Perfekt zurück ins Präsens. Klingt besser. Somit: Dass heute parallel Die Ärzte und Patti Smith aufspielen, zieht einiges an Publikum in andere Richtungen, dennoch füllt sich das Gelände und gemahnt keineswegs an eine Wellness-Oase mit leise anrollernden Schnieferando-Kokstaxis. Sondern eher an ein lautes, großes Klassentreffen mit einem leicht obdachlos schauenden, Gomera-Rauschebart-Physiklehrer in Tanzflächenmitte. Schon geht’s los, denn hier sind sie, The Russian Doctors …

 

Nudel- und Holzlöffelfraktionen eilen mitsingbereit zur Bühne, Doctor Pi dreht spätestens nach der „Schönen aus der Stadt" frei, Makarios macht vom hart verdienten Erbe Pratajevs dunkelstimmig Gebrauch und die sich anfangs gegenseitig gestellte Frage: „Arbeitssieg oder Triumph?“ darf ohne Pausenschnaps geradewegs mit „Triumpf!“ beantwortet werden.

 

Von großem Zauber umweht ist die Bühne, dem Basti-Techniker sei Dank. Mangels Endlos-Zeitschleife stellt Makarios nach der ersten Schnapsbar die Zugabefrage: „Noch mehr Hits oder Neues?“ Pratajevs Dresdener Brüder und Schwestern im Geiste tendieren mehrheitlich für letzteres und so machen die Docs mit Songs wie „Die Zarte“ und „Der Faule“ den 1,5-Stunden-Sack zu.

 

 

 

Große Verneigung! Nass wie zwei Schnupperpraktikanten bei der Kakaoernte geht’s, Pratajevs Drang nach wohlfeinen Destillaten, Speisen (Quarkkeulchen!) und Schwesternschülerinnen folgend, runter von den Brettern, die viel bedeuten. Auf denen wenig später die Andi-Valandis bluespunken und ein raustimmiges Feuerwerk bis runter zum Elbeschlamm abbrennen.

 

 

 

Die stärkste Währung überhaupt (446)

 

Westlich des Leipziger Zentrums ist das Kolonnadenviertel beheimatet. Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag die „Kolle“ vor den Toren der Stadt und diente der Erholung gut betuchter Bürger. Heute hat man die allesamt (mit ihren noch nicht von Meteoriten getroffenen Dinosaurier-SUVs) Richtung Markkleeberg oder ins bessere Leutzsch verfrachtet. So ist Platz für eine alternative Künstlerszene mit Rundum-Inspiration, die sich nicht freiwillig durch Heidi Klum-Formate demütigen lässt.

 

Wichtige Örtlichkeiten sind das Schauspiel Leipzig, die Stargayte Sauna mit ihren bunten Themenabenden, Kabinen, Labyrinths und Pain-Porn-Cockholes. Addiert durch die Hochschule für Musik und Theater (Felix Mendelssohn Bartholdy), einige Candle Light Döner und natürlich die Kneipenbar Stoned, erkennbar am Astra-Schild, welches der Kolonnadenstraße ein besonderes Flair verleiht.

 

 

 

Hierher lud Claudia (aka Nessy), Pratajev-Komplizin der ersten Stunden, zum vierten Nuller-Geburtstag. Unwissend darüber, dass die Docs auch kommen. Verraten hatte man es ihr nicht. Umso größer ist die Freude, als Makarios und Pichelstein wie zwei schwarze Blitze aus der silbrigen Auto-Torte steigen und wenig später bei kalten Getränken am Tresen stehen.

 

Es ist ein ehrwürdiger Tresen, einer aus Holz, einer, der Geschichten schrieb; jede Faser geprägt von Erinnerungen der letzten knapp 20 Jahre.

 

Draußen stolpert eine testosterongeschwängerte Gröhlhorde mit Streuhaar auf den Platten vorbei. Vermutung: Straff seit Donnerstag (Männertag), Orientierung vollkommen eingebüßt. Eigentlich wollte man hinter Wolfenbüttel rechts abbiegen. Nicht, dass die Reise noch versehentlich im Whirlpool der Stargayte Sauna endet! Drinnen wird die Bühne aufgebaut. Die Boxen, die Backline. Es gibt auch ein Mischpult, verborgen in einem Tablet, das sich mit einigem Geschick überlisten lässt und schlussendlich für edlen Sound sorgt.

 

 

 

Nach dem Soundcheck wird gerechte Pizza vertilgt, Gäste treffen ein, und noch ehe sich der Nachtvorhang senkt, gleicht das Stoned einem herrlichen Tabula Rasa-Rummel. Ein erstes Tablett Pfefferminzschnaps ist rasch geleert; Zeichen und Anlass genug, den weltweit schnellsten, akustischen Klangkörper auf Touren zu bringen. Denn „Hier sind sie, The Russian Doctors.“

 

Wie ein Hockey-Goalie, der Eiswürfel pinkelt, legt Pichelstein los. Makarios beschwört Pratajevs fatalistische Ader, lädt ein zum Ritt Richtung Schnapsbar. Die Gästeschar legt alle Plaudertaschen in die Ecke und klinkt sich ein. Herrlich! Auch die Wodka-Pipeline zur Bühne steht, nennen wir sie Pratajev-Stream-Pi.

 

Nach durchschwitzter Stunde darf gepaust werden, Claudia (aka Nessy) gibt Zugabewünsche durch, jeder einzelne mag später zum Vortrag kommen. Schlag Mitternacht wird sie geherzt, als gäbe es kein Morgen. Und umarmt, denn Umarmungen sind in Zeiten wie diesen die stärkste Währung überhaupt.

 

 

 

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