Ein Floskel-Tag (347)


Vorsicht, Floskeln! Die Russian Doctors erklären den heutigen Freitag zum Ehrentag der Heißluftformulierung und stecken ihm Blümchen wie diese an: „Ich sage mal…“, „Kein Thema“, „Auf gut Deutsch gesagt“, „Nichts für ungut, aber…“, „So nach dem Motto…“, „Ej, weißt du…“ So geht das die ganze Zeit, im Auto, auf dem Weg nach Dresden. Jeder Satz wird mit passenden Szenen gewürzt: „Wenn ich mal ehrlich bin, dann muss ich Dir in aller Deutlichkeit sagen, dass das Bier viel zu warm ist. Aber mich fragt ja keiner. Verstehste, heie?“ Ach, sich sprachlich bei den Mitmenschen derartig zu erleichtern, ist was? Genau: Eine tolle Wurst.


Heißt ist’s, drückend und furchtbar. Keine Meeresbrise weht, die Klamotten kleben, als der Tross den Dresdener Neustadt-Kiez erreicht. Ein Biertuttler niest, klingt wie „Brexit“. „Gesundheit, wenn du meine Meinung hören willst“, sagt Doctor Pichelstein. Was ein Biertuttler ist? Ein dicker Mann in sommerlicher Kiezuniform (ergo mit freiem Oberkörper), dem behaarte Brüste wuchsen. Das sind die eigentlichen Biertutteln. Wenige Momente später lockt die Schnapsbar mit rauem Charme, besser noch ihre leckeren, kühlen Inhalte. „Na das kann ja was werden heute“, sagt ein Doctor zum anderen. 35 Grad Außentemperatur, die unbedingt ins Café Pott hineinwollen. Nach all den Checks feat. Sound und Hostel, wird entschieden: Pizza bei Freddy Fresh bestellen, bloß nicht nach draußen gehen, zur eingangs geplanten Restaurant-Tafelei. Genügend Magentabletten sind dabei (sollte man immer nach Anruf beim Lieferservice zur Hand haben und bereits vorm ersten Bissen ins fettige Glück einnehmen, sonst droht die unrühmliche Eingliederung von zu viel Säure in der Nahrungskette).


„Wegen der Nachbarn“ (Kiez heißt ja nicht mehr: Krach machen dürfen ohne Ende, nein, die Zeiten waren nie und wenn doch, sind sie vorbei) geht’s Konzert bereits vor 21 Uhr los, das Intro läuft, die Doctoren triefen bereits nach wenigen Pratajev-Weisen. Ausgesprochen voll ist’s logischerweise heute nicht - an Tagen wie heute liegt selbst das treuste Doctors-Publikum (und das darf es auch ruhig mal) nahe eines Baggerloches, schlürft Eis und flötet den Ideal-Hit „Sex in der Wüste“. Mehr geht nicht. Zu unverhofften Ehren kommt hingegen das Publikum im Café Pott: Im September soll ja ein neuer Tonträger erscheinen, der sich einzig und allein dem Thema „Schnaps“ widmet. Heute ist Weltpremiere für die Hits „Wodka, Wodka“ und „Das Lied vom guten Leben“. An diesem Punkt im Set angekommen, blicken die Docs erstaunt. Erstmals den Refrain „Es muss nicht sein, dass das Leben schlecht ist / Weil schlechtes Leben nicht gerecht ist“ angestimmt, in der Wiederholung singen schon einige mit. Und je heißer es wird, desto mehr Sangeskraft tönt aus dem Rund. Makarios richtet das Mikro gentlemanlike in die feiernden Menschen. „Beim Bücken“, „Tote Katzen im Wind“ – perfekt! Mister Wodkartell FraFö verteilt den edlen Bulbash (den es im Café Pott übrigens auch ohne Doctoren auf der alltäglichen Trinkerkarte gibt), Makarios und Pichelstein reisen in den Zugabenblock, ernten frenetischen Beifall, drehen noch eine letzte Runde, dann muss es gut sein. Ohne Umwege reißt sich Doctor Pichelstein das weiße Shirt vom Leib und wringt es in der Ecke aus. Stunden später sitzt man vorörtlich im Grünen (Danke Solvig!), unterm silbrigen Mondlicht, während irgendwo auf der Welt ein Bombyx mandarina Goldfäden spinnt.