Rachitischer Husten, niesendes Gebell, Protestschnupfen: Die kranke Elsterfähre (341)
Nach dem Frühstück ist vorm Aufbruch. Mit Semmeln, Kaffee und Kippen loggen sich die Gefährten ins Tagesmenü ein. Lieber würde man länger bleiben und erst recht nicht nach draußen müssen, brrr, ist das kalt. Psychosomatische Anfälle folgen: Rachitischer Husten, niesendes Gebell, Protestschnupfen. Doch so ist das nun mal. Alte Wanderwahrheit: Wer rastet, der schafft es nicht pünktlich ins Waldrestaurant Hospitalhütte in die Dahlener Heide. Auch anderweitige Tagesordnungspunkte (Besuch in der Schnapsbrennerei Gurt Kaktus mit Kuchenverkostung nahe Torgau, Konzert im Irish Harp Pub zu Wittenberg) könnten ins Wanken geraten. Das wollen wir nicht, drum gib Gas, unser aller Fürst am Steuer. Und so geschieht es.

Ankunft in der Hospitalhütte. Pferde schnaufen, Spucktiere und Ziegen gucken durchs Gatter. Könnte ja sein, dass einer der Doctoren eine Möhre hergibt. Doch weit gefehlt. Feldfrüchte sind im Tour-Täschchen Mangelware. Oder – um es im Daggering-Slang zu verkünden: Bückware. Der freundliche Maik bedient heute Tisch #1, er trägt eine brutalgrasgrüne Irlandschürze um die Hüfte gebunden und freut sich bestimmt, dass mit der Tross-Ankunft das Restaurant-Durchschnittsalter rapide in den Keller sinkt. An Tisch #1, so denkt er sich beileibe, wird in der nächsten Stunde nicht über Krankheiten und Schlimmeres geschwätzt. Was folgt? Rachitischer Husten, niesendes Gebell, Protestschnupfen und die Speisekarten. Nach der Suppe geht’s rauchend vor die Tür. Belanglose Storys mit Schmunzelhaseneffekt sind dabei die Regel. Worum es geht, ist für die breite Öffentlichkeit minder interessant. Wer will schon wissen, wer wann wie oft heute wo schon auf dem Klo weilte? Einige Wimpernschläge später geben sich Hamster, Gans und Schwein die Tellerehre. Zur Erklärung - obschon es bereits an anderer Stelle in den Tourtagebüchern geschrieben steht: Ein Hamster ist eine Rindsroulade. Was sonst? Maik fragt: „Schmeckt’s den Herren?“ Die Herren nicken heftig. Ja, der Maik ist wirklich freundlich. Das steht später ebenda auf der Rechnung drauf („Es bediente Sie der freundliche Maik von Tisch #1. Vielen Dank. Beehren Sie uns bald wieder“.) Machen die Doctors gerne, denn die Hospitalhütte mit all ihren ausgestopften Waldbewohnern drin ist jede Durchreise wert. Mit vollen Bäuchen nun bitte weiter zum Grandseigneur Kaktus.

Heißa, was für eine Freude. Seit dem Doppel-Spektakulum „Der Maler Pratajev“ hat man sich nicht mehr gesehen. Schon führen Apfelkuchen und Schnapsflaschen wieder zusammen. Getrunken wird Kaffee, denn sich vor einem Auftritt den segenswerten Kräuter-Erzeugnissen aus dem Hause Kaktus hinzugeben, würde gewiss zu einem arg veränderten Wesen führen. Weiter geht’s, über die ELBE nach Wittenberg. Doch denkste. „Fähre wegen Krankheit Sonnabend und Sonntag außer Betrieb“. Kein Witz. Das steht an einen Baum gepinnt, unmittelbar in der Nähe der Fähre. Es wird geschlussfolgert: a) Die Fähre ist krank, b) aber nur an Wochenenden und c) Mo-freitags ist sie gesund. Heute ist dummerweise Samstag. Planänderung: Umwege fahren, SKY-Kneipensportschau knicken und, klar: Rachitischer Husten, niesendes Gebell, Protestschnupfen. Die Fähre tanzt dazu im Wasser und nickt zustimmend mit dem Bug.

Die Elsterdörfer verbindet eines: Überall wurde politische Basisarbeit verbrochen, hängen Wahlplakate. Das ist an sich vor einer Landtagswahl nichts Ungewöhnliches, doch mehrheitlich überwiegt bedrucktes rotes und himmelblaues Papier mit besorgniserregendem Ungut knapp über Brusthöhe. Normalerweise hängen die Dinger ja so weit oben in den Laternen, damit keiner rankommt, um Kleinholz draus zu machen. Nicht so im Jahr 2016. Man kann die forensisch wertvollen Botschaften und Gesichter jetzt schon aus dem Autofenster heraus betrachten und kräftig bis zur Schnappatmung auslachen. Erst am Ortseingangsschild Wittenberg kehrt diesbezüglich wieder Ruhe ein.
Im Irish Harp Pub angekommen, freuen sich die Doctors aufs erste Kaltgetränk von der schürzengrünen Insel; flinke Kellnerinnen machen jedes Tourleben schön. „Und es gibt auch nachher zu essen, ich habe gekocht“. Was will man mehr? Doctor Pichelstein bastelt die Bühne zurecht, Makarios schraubt am Sound. Das dauert alles eine Weile, doch auf den Punkt fällt die letzte Klappe. Dem neuen Chefwirt sei Dank. Fürst Fedja entschloss sich soeben, den Abend auf Fahrbereitschaft zu poolen, heißt: es geht in der Nacht zurück, die Betten werden abbestellt. Folge des rachitischen Hustens, niesenden Gebells usw. Rein mit den Gabeln ins Wurstgulasch, die Party möge beginnen. Und zwar kräftig und erst recht. Aber mitten in der Fastenzeit?

Vom Kirchturm her wummern Glockenschläge. Mittelalte Touristinnen, von Begleitern umschlungen, schlendern im Hackschuh-Sound übers Pflaster. Es ist 20 Uhr 30 hochdeutscher Zeit. Das Pub füllt sich. Rasch besorgt sich Doctor Pichelstein eine Bühnenration Astra, soll’s doch in einer halben Stunde losgehen. Dann ist gewiss kein Durchkommen mehr zur Schnapsbar. Wie wahr, wie wahr. Denn der draußen bereits hochgeklappte Bürgersteig gerät zum Showsteg. Wittenberg samt Umgebung will die Doctors sehen, holla. Wer vorab einen Tisch reservierte, hat alles mit Schleife dran richtiggemacht. Der Rest vom Fest sichert sich Barhocker oder steht herum. So lernt man (neben der Schnapsbar) die meisten neuen Leute kennen, so geht Tuchfühlung am besten („Darf ich mal vorbei?“ – „Äh ja und ich bin der… oh, schon weg die Dame“). Die Doctors zieht es derweil noch kurz ins Raucherareal, Genosse Brotnowaljow Numski Guinnessoff erzählt die Geschichte vom Kellner Hannes, dem einst mitten in der Stadt ein verirrter Elbe-Biber in den Körper biss (Belegschaft der Notaufnahme staunte beim Abhören der Geschichte besonders, Tollwutspritze folgte).

Showtime! Der Russe ist losgelassen und schon brennt Makarios das pratajevsche Wunderfeuerwerk ab. Pichelsteins Raketen zünden; alles steht dicht an dicht vor der Doctorsbühne. Nur kein unbedarfter Gitarrenschwenk nach vorne, das könnte ins Auge gehen. Gleich beim „Idyll“ ist Mitsingzeit, Arme hoch beim „Rundblick“, heißa, was ist hier bloß lutherlos? In der Fastenzeit! Pratajevs Erben erlebten im Irish Harp schon stillere Februarmomente. Erst beim Fetisch-Block wachte Wittenberg auf, bei „Gefesselt“, „Beim Bücken“. Als dieser Programmteil an der Reihe ist, wird bereits gejuchzt, geklatscht als gäbe es kein Ostern. Und so läuft die Pratajev-Story weiter. Scharfsinnig erzählt, unverblümt heftig auf der Erlenholzgitarre begleitet bis zum ersten Schnapsbar-Buzzer.

Durchschnaufen, Schwätzchen halten, schon läuft das Kreisstadtabenteuer zu neuer Hochform auf: bereits lautstark als vermisst gemeldete „Feldmänner“ geben den Takt vor. Eine nächste satte Stunde hageln Pratajevs Verse aus dem prall gefüllten Rucksack der Doctoren ins Rund. Die Schnapsologen an der Bar langen heftig zu, den Chefwirt freut’s. Ins Pub stolpert eine betrunkene Herrenpartie: „Über den Wolken! Über den Wolken und dann Born to be Wild!“ Darüber das Mäntelchen des Schweigens… Stattdessen füllt sich der Zugabenblock mit dem „Gelben Fettfrosch“ und mündet irgendwann in einer allerletzten Löcher im Strumpf-Schnapsbar. Fürst Fedja liefert noch einen Gelben zur Bühne, dann muss es gut sein mit dem Soundtrack zur größtmöglichen Lebensfreude. Über Wolke Pi geht’s weiter, immer weiter. Bis zum nächsten Born to be-Jahr.
