Wer mit Volldampf in den Briefkasten rennt (327)
Eine schöne Überschrift, nicht wahr? Auf welchen der drei Prag-Powerplay-Stürmer (Makarios, Pichelstein, Fürst Fedja) die wohl am Ende des Tages zutreffen wird? Bei Abreise im Leipziger Osten regnet es wie aus Kübeln. Doch je näher man der goldenen Stadt kommt, umso freundlicher scheint Mutti Sonne. Der herbstlichen Wetterarroganz wird Paroli geboten und Fürst Fedja gibt vor Freude Gummi. Sozius Makarios hält darob von Zeit zu Zeit die Luft an, Genosse Pichelstein lümmelt auf der Rückbank mit Werken von Harry Rowohlt und Max Goldt in Händen vor sich hin. Immer wieder heißt es: Raucherpause. Fürst Fedja, dem das gar nicht so gefällt („Ich will bloß ankommen“ – „Aber die schöne Landschaft!“), gibt sich gerne geschlagen. Schließlich wird bei Stopps zuweilen Nahrung aufgenommen und das erste Gulasch plus Pivo auf tschechischem Boden hat es fürwahr in sich.
Nach dem Einchecken ins Hotel Ariston (Seifertova 65, Praha-Žižkov, in sämtlichen Belangen sehr zu empfehlen), dem ersten Schlummer, folgt die Schnapsbar-Happy Hour. Gleich um die Ecke beherbergt ein schickes Barockhaus eine Cocktail Bar mit kleinem Freisitz und mannigfaltiger Getränkeauswahl. Starten wir also in die Aufwärmphase des Konzerttages. Die Tatras dröhnen vorbei, her mit großen, scheppernden Gläsern. Drin versammeln sich: Zitronen- und Apfelsaft, 4 cl Becherovka und ein Strohhalm. Letzterer wird als überflüssig erachtet. Schlürfen macht den Doctoren-Meister. Der Pietät halber bleiben indes freudige Rülpser noch aus, schon startet der BMW gen U vystrelenyho oka, auf geht’s ins „Zerschossene Auge“ von Žižkov, wo manch männlicher Kopf während des Pivo-Lassens im Wandleder zu ruhen vermag. Ein Open Air wird’s werden, denn der Prager Spätsommer ist kein Schlechter.

„Ahoi, herzlich vítejte”, begrüßt der Techniker die Doctors. Nicht schlecht, was alles am Start ist. Der junge Mann, dem man kein Coolness-Handicap andichten sollte, rechnete wohl mit voller Kapelle und nun erklärt ihm Pichelstein, was alles nicht zwingend gebraucht wird. „Dnes je are a little bit over-equiped”, folgt zur Antwort. Die Mischung macht’s. Vor allem jene aus englischen, deutschen und tschechischen Vokabeln. In den nächsten beiden Tagen werden allerseits Buchstabenreigen gesprochen, die ihresgleichen suchen. Ein Höhepunkt: „He overlived den boj (aka: Kampf) with the Tod“. Dazu muss man sich ein Ringen und Schwingen mit Händen und Füßen vorstellen. Nun, immerhin gibt es die glorreiche Zuzana, die spricht fließend Schweizerdeutsch, findet es aber mitunter derart anstrengend, dass sie darauf besteht, jeden dritten Satz englisch beantworten zu dürfen. Und über allen Köpfen schwebt ein bestechender Dunst aus pflanzlicher Herstellung, eine Mixtur aus Tabak und Marihuana. In Prag wird auch gleich mal im lichtdurchfluteten Fenster zum Hof gezüchtet.

Und los geht’s. Die erste Runde des Doctors-Konzertes läuft wie am Schnürchen. Geboten wird eine Pratajev-Revue rasanter Güte, denn Pichelstein (2. Gulasch, Becherovka, schwarzes Pivo, Züge von geschwängerter Luft intus, nicht inhaliert) ist kaum zu halten. „Langsamer, mein Doctor, langsamer“, versucht Makarios seinen Gitarristen zur Räson zu bringen. Aber die Euphorie kennt keine Grenze; ein „Soundtrack Suizidmusik“ ist mit Pichelstein heute einfach nicht zu machen. Auf in die Pause. Nass, schweißnass wird liebes Prager und auch Pirnaer Volk umarmt (M.C. Schmutz aber nicht, der kriegt bloß eine Zigarette). Žižkov liebt sein „Zerschossenes Auge“. Nur die Nachbarn nicht, also darf’s nach einem Schwung Kaltgetränke gleich weiter gehen.

Tja und dann sind The Russian Doctors nach einigen Pratajev-Weisen, unterstützt von Jarda Švec („Gelber Schnaps“, „Als das Eis kam“) on saxophone plötzlich mit Goldeck auf hoher See. Die „Samtmarie“ reißt „In my hand“ Matrosen in die Tiefe, bis schließlich doch wieder russisches Landleben am Horizont auftaucht. Oder: bis schließlich doch wieder russisches Landleben den Horizont aufraucht. Na, wie dem auch sei. Der Abend wendet sich allseits trunken der Nacht zu; die letzte Zugabe darf eine Walzerkönig-Schnapsbar sein. Dann muss es reichen, Techniker und Clubchefin werden geherzt. Mitsamt der Pirna-Fraktion geht’s reichlich später in die eingangs erwähnte Cocktail Bar namens „Cocktail Bar“. Drinnen fließen Bäche aus Milch und Honig. Ein Land von dem Doctor Makarios nichts hält. Wie wahr ist jener Satz: „Wenn mich da jemand in einen Honigbach schubst, wär ich schon sauer“? Sehr wahr. Drum bricht nun die Apokalypse des Fürst Fedja an. Rum-Cocktails werden zu Sturzbächen und das Land, in dem Milch und Honig fließen, kann einpacken.
Wer mit Volldampf in den Briefkasten rennt, hat am nächsten Tag Kopfweh. So heißt es im Eishockey-Slang über alljene, die mit wahrer Wonne in den sich bereits wegdrehenden Gegner sprangen, somit schlussendlich in die Bande krachten. Wir wollen es vorweg nehmen: Am nächsten Mittag nach dem Hotel-Frühstück gab’s 1/3tel Tross-Verluste; Makarios und Pichelstein begaben sich wohlgelitten allein auf die Pirsch.